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Pflichti III: Noch einmal zu Beiordnungsgründen, oder: Gesamtstrafe, Vollstreckung, stotternder Beschuldigter

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Und im letzten „Pflichti-Posting“ des Tages – und wohl auch des Jahres, aber man soll ja nie nie sagen 🙂 – dann noch zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar einmal zur „Schwere der Tat“ in einem Gesamtstrafenfall und einmal zur Bestellung im Strafvollstreckungsverfahren. In beiden Fällen ist die Bestellung abgelehnt worden.

Hier die Leitsätze der beiden Entscheidungen – zum Teil mit meinen – Leitsätzen:

Die Schwelle für die Bestellung eines Pflichtverteidigers von einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe ist auch bei der Gesamtstrafenbildung maßgeblich, was selbst dann gilt, wenn die Gesamtstrafe aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung und -künftigen Verurteilungen aus noch nicht abgeschlossenen Verfahren gebildet werden wird oder insoweit zumindest in Betracht kommt. Etwas Anderes gilt jedoch dann, wenn die Straferwartung im anhängigen Verfahren die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflusst.

Für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist im Strafvollstreckungsverfahren maßgeblich, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. Das ist dann der Fall, wenn n tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Fragen aufgeworfen werden, die Aktenkenntnis erfordern und über die regelmäßig auftretenden Probleme hinausgehen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit erneut erheblich und einschlägig straffällig geworden und deswegen rechtskräftig verurteilt worden ist.

Ob diese Entscheidung des OLG Brandenburg zutreffend ist, kann man m.E. ohne genaue Kenntnis der Umstände nicht beurteilen.

    1. § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO ist im Hinblick auf hör- und sprachbehinderte Beschuldigte wie § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. auszulegen.
    2. Das Stottern eines Beschuldigten begründet den Fall einer notwenigen Verteidigung lediglich dann, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen.

 

Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Drohende Einziehung von rund 22.000 EUR

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Die zweite Entscheidung, die der Kollege Hölldobler aus Regensburg mir geschickt hat, verhält sich zum Beiordnungsgrund „Schwere der Tat“.

Gegen den Angeklagaten ist Anklage wegen leichtfertiger Geldwäsche erhoben worden, Der Kollege beantragte seine Bestellung als Pflichtverteidiger, was er damit begründet hat, dass die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung vorlägen vor, da wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen, insbesondere der drohenden Einziehung von Wertersatz in Höhe von 22.296,24 EUR, die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Für den derzeit arbeitslosen Angeklagtenstelle die drohende Einziehung eine existenzbedrohende Rechtsfolge dar.

Die Staatsanwaltschaft ist dem zunächst nicht entgegen getreten, hat dann aber die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht befürwortet, da der im Raum stehende Einziehungsbetrag nicht so hoch sei, dass eine solche angezeigt sei. Das AG hat die Bestellung abgelehnt. Die drohende Einziehung von 22.296,24 EUR stelle keine Rechtsfolge dar, aufgrund derer die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich erscheine. Eine Existenzbedrohung sei nicht ersichtlich, ausländerrechtliche Konsequenzen drohten nicht. Es sei zudem nicht ersichtlich, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen könne.

Anders dann auf die sofortige Beschwerde das LG im LG Regensburg, Beschl. v. 17.08.2021 – 5 Qs 172/21:

„2. Die Beschwerde ist inhaltlich begründet. Es liegt ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor.

Die notwendige Bestellung eines Pflichtverteidigers ergibt sich für die Kammer aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen. Insoweit ist zu beachten, dass dabei auch alle sonstigen Rechtsfolgen, die in dem betreffenden Strafverfahren angeordnet werden können, zu berücksichtigen sind. Dazu gehört auch die Einziehung (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140, Rn. 23b). Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass dem Beschwerdeführer neben der drohenden Strafe die Einziehung in Höhe von 22.296,24 € und damit eines nicht unerheblichen Betrages droht. Ungeachtet dessen, ob dies – wie vom Verteidiger vorgetragen – für den derzeit arbeitslosen Beschwerdeführer eine existenzbedrohende Rechtsfolge darstellt, handelt es sich insoweit jedenfalls um einen drohenden Nachteil solch schwerwiegender Art, dass aus Sicht der Kammer aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.“

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: „Einziehung droht“ und zweimal JGG-Verfahren, einmal zum Vergessen

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Heute dann mal wieder ein Pflichti-Tag, und zwar mit drei Bereichen: Beiordnungsgründe, Pflichterverteidigerwechsel und

Ich starte mit den Beiordnungsgründen.

Dazu weise ich zunächst hin auf den kleinen, aber feinen AG Eggenfelden, Beschl. v. 31.05.2021 – Cs 502 Js 5973/21 – zur Beiordnung wegen Schwere der Tat, und zwar:

„Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, weil wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Die „Schwere der Tat“ kann sich auch aus mittelbaren Folgen des Verfahrens ergeben, insbesondere – bei einer Gesamtwürdigung der Umstände – auch eine Einziehung von Wertersatz in sehr großem Umfang. So liegt der Fall hier. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist hier neben der drohenden Geldstrafe von 160 Tagessätzen auch die Auswirkung der mittelbaren Folgen, nämlich insbesondere der drohenden Einziehung von Wertersatz in Höhe von 27.500,00 EUR zu berücksichtigen. Bei dem Einziehungsbetrag handelt es sich um einen Betrag, der annähernd ein Jahresgehalt des Angeschuldigten ausmacht. In der Gesamtschau ist daher – auch ohne Berücksichtigung von bis-her nicht näher dargelegten ausländerrechtlichen Folgen für den Angeschuldigten – die Pflichtverteidigerbestellung geboten.“

Die zweite Entscheidung, der LG Stendal, Beschl. v. 07.05.2021 – 503 Qs 2/21 – behandelt die Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren, die das LG sehr schön begründet:

„Die gem. § 68 JGG i. V. m. §§ 142 Abs. 7, 304, 311 Abs. 2 StPO fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist erfolgreich, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung des Beschuldigten vorliegt. Aufgrund des amtsgerichtlichen Urteils ist derzeit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des § 68 Nr. 5 JGG sowie auch des § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 140 Abs. 2 StPO gegeben.

1. Gem. § 68 Nr. 5 JGG ist unter anderem bei der Erwartung der Verhängung einer Jugendstrafe oder der Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe von Gesetzes wegen ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Zu erwarten ist eine Jugendstrafe, wenn deutlich mehr als ihre bloße Möglichkeit, d. h. mindestens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verhängung besteht. Dabei genügt regelmäßig, wenn sie zur Bewährung ausgesetzt, oder die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung nach den §§ 61 ff. JGG einem nachträglichen Beschluss vorbehalten werden kann (BT-Drs. 19/13837, 59). Aufgrund der gleich belastenden Qualität wird teilweise vertreten, auch die erwartete Entscheidung nach § 27 JGG als einen Fall der notwendigen Verteidigung anzusehen (zust. Kölbel/Eisenberg, JGG, § 68; krit. Heuer u.a., ZJJ 2019, S. 1, 4).

Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Amtsgerichts Gardelegen vom 26.11.2020 besteht im vorliegenden Ermittlungsverfahren in Ansehung des hiesigen Tatvorwurfes und der bisherigen anderweitigen jugendrechtlichen Ahndungen die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Freiheitsentzuges oder die Entscheidung über einen solchen.

2. Daneben ist auch ein Fall der notwendigen Verteidigung über § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 141 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der Tat“ gegeben. Im allgemeinen Strafrecht ist inzwischen anerkannt, dass die „Schwere der Tat“ bei einer Straferwartung von einem Jahr auch dann als erreicht gilt, auch wenn dies erst im Wege der Gesamtstrafenbildung erfolgt (vgl. nur OLG Naumburg BeckRS 2013, 10548).

Für das Jugendrecht folgt hieraus insoweit, dass einbeziehungsfähige Urteile bei der Prognose ebenfalls zu berücksichtigen sind (so schon OLG Köln StV 1991, 151). Vorliegend existiert gegen den Beschuldigten ein bereits rechtskräftiges Urteil, in welchem die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt war, weil noch nicht mit Sicherheit beurteilt werden konnte, ob in den Straftaten des Beschuldigten schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, dass eine Jugendstrafe erforderlich ist (§ 27 JGG). Dieses gem. § 31 Abs. 2 JGG einbeziehungsfähige Urteil wird bei der Prognose über die Straferwartung im hiesigen Verfahren zu berücksichtigen sein.“

Und dann habe ich hier noch den LG Hechingen, Beschl. v. 21.05.2021 – 3 Qs 21/21 jug.. D as LG hebt auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft – habe nur ich den Eidnruck, dass man dort gerne Rechtsmittel einlegt, wenn ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden ist – die amtsgerichtliche Bestellung auf. Der Beschluss ist auch im JGG-Verfahren ergangen, ich würde über ihn lieber das Mäntelchen des Schweigens legen. Denn das LG meint, dass ein Pflichtverteidiger nicht beigeordnet werden muss. Man fragt sich, ob man in Hechingen schon mal was von der „Gesamtbetrachtung“ der potentiellen Beiordnungsgründe gehört hat. Und da meine: Der ehemalige Angeklagte war ein 16-Jähriger, dem eine Trunkenheitsfahrt mit seinem Roller zur Last gelegt worden ist. Gegenstand des Verfahrens war u.a. auch ein SV-Gutachten. Aber das reicht dem LG nicht, denn:

„Die Schwierigkeit der Sachlage kann auch die Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten (OLG Hamm StV 1987, 192; LG Bochum StV 1987, 383; OLG Karlsruhe StV 1991, 199) be-gründen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht jedes in einer Hauptverhandlung zu erörternde Sachverständigengutachten zu einer Pflichtverteidigerbestellung führen kann. Erforderlich ist hier, dass das Gutachten inhaltlich so komplex ist, dass es besonderer Sachkunde oder Einarbeitung bedarf, um sich sachgerecht und gegebenenfalls kritisch mit ihm auseinander zu setzen. Ein solcher komplexer Fall lag jedoch nicht vor. Hier ging es nur um die Frage, wann der vormalige Angeklagte zuletzt vor der Tat Cannabisprodukte konsumiert hat. Die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen sind auch ohne Kenntnis der entsprechenden Grenzwerte verständlich und können auch von einem Laien kritisch hinterfragt werden. Die Vernehmung des Sachverständigen dauerte 15 Minuten. Eine ausführliche, nur von einem Verteidiger zu bewerkstelligende Auseinandersetzung mit dem Gutachten war nicht erforderlich….

….

c) Der vormalige Angeklagte war auch nicht unfähig, sich selbst zu verteidigen.

Hierfür bestehen überhaupt keine Anhaltspunkte. Insbesondere war der vormalige Angeklagte da-zu in der Lage, in einem handschriftlich verfassten Schreiben sinnvoll zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen. Im Jugendstrafverfahren ist zudem auch keine extensive Auslegung dieser Variante des § 140 Abs. 2 StPO geboten (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 24, StPO § 140 Rn. 24).“

Mann, Mann, was denken die da in Hechingen?

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“

Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Gesamtstrafenfall

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Und als zweite Entscheidung zu Pflichtverteidigungsfragen dann hier der LG Braunschweig, Beschl. v. 20.08.2020 – 9 Qs 159/20, in dem es um die Bestellung wegen Schwere der Tat in den Gesamtstrafenfällen geht. Das AG hatte abgelehnt. Das LG schließt sich an:

„Die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO liegen nicht vor, insbesondere ist eine Beiordnung des Verteidigers auch nicht aufgrund der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten.

Über die Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßen Ermessen, wobei seinem Beurteilungsspielraum durch den Rechtsbegriff der Schwere der Tat Grenzen gesetzt sind (Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 22 m. w. N.). Die Schwere der Tat beurteilt sich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung (BGH, Urteil vom 29. 6. 1954 – 5 StR 207/54, NJW 1954, 1415). Nach herrschender Meinung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist (OLG Naumburg, Beschluss vom 19.09.2011 – 2 Ws 245/11, BeckRs 2013, 00134; OLG München, Beschluss vom 13. 12. 2005 – 5St RR 129/05, NJW 2006, 789; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.07.1994 – 5 Ss 232/94 – 77/94 I, NStZ 1995, 147; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung; 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 23 m. w. N.). Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich ist der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind, nicht die Höhe der Einzelstrafen (BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 140 Rn. 24).

Die Gesamtstrafenbildung richtet sich nach § 54 StGB. Ihre Bildung ist ein eigenständiger Strafzumessungsakt, der sich — innerhalb des von § 54 StGB genannten Rahmens — nicht an der Summe der Einzelstrafen oder an rechnerischen Grundsätzen zu orientieren hat, sondern an gesamtstrafenspezifischen Kriterien (vgl. EGH, BGH, Beschluss vom 21. 10. 2009 – 2 StR 377/09, NStZ-RR 2010, 40; Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn 7f. m. w. N.). Die Strafzumessung obliegt dem Ermessen des Tatgerichts, das sich dabei an § 46 StGB zu orientieren hat.

Eine fehlerhafte Beurteilung der Straferwartung aufgrund der Aktenlage liegt nicht vor. Die Erhöhung der Einsatzstrafe kann umso geringer ausfallen, je mehr — wie hier – zwischen den Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn. 7a m. w. N.). Die Bemessung der Gesamtstrafe ist im Wege einer Gesamtschau des Unrechtsgehalts und Schuldumfangs vorzunehmen (ebd.).

Unter Berücksichtigung der weiteren gegen den Angeschuldigten geführten Verfahren ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr im Rahmen einer Gesamtstrafenbildung nicht annähernd ersichtlich. Es handelt sich jeweils um kleinere Vergehen des nicht vorbestraften Angeschuldigtem in engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang. Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, dass jeweils nur mit Geldstrafen zu rechnen ist, ist dabei nicht verfehlt.

Das Verfahren weist auch keine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage auf. Es handelt sich in sachlicher Hinsicht um ein auch für den Laien überschaubares Verfahren mit einem einfach gelagerten Vorwurf. Auch in rechtlicher Hinsicht besteht keine besondere Schwierigkeit. Der Strafbefehl umfasst lediglich zwei Tatbestände, den der (einfachen) Körperverletzung und den der Nötigung, die auch für den Laien begreifbar sind.

Eine Pflichtverteidigerbestellung war auch nicht auf den ersten Antrag von Rechtsanwalt pp. vom 15.04.2020 unter Berücksichtigung des § 141 Abs. 1, Abs. 2 StPO geboten. Die Vorschrift setzt einen Fall notwendiger Verteidigung voraus (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 141 Rn. 3). Vorliegend stand von Beginn des Ermittlungsverfahrens an nicht fest, ob ein Raub oder lediglich Körperverletzung und Nötigung vorgeworfen werden können, mithin war zu diesem Zeitpunkt ein Fall notwendiger Verteidigung nicht gegeben.

Auch hier: Meyer-Goßner/Schmitt in der 61. Auflage. Was ist los in Braunschweig?