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Pflichti I: Rechtsmittelverzicht ohne Verteidiger?, oder: Betreuung und „Schwere der Tat“

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Und dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag.

Den eröffne ich mit dem OLG Celle, Beschl. v. 04.05.2023 – 2 Ws 135/23. Ein Klassiker. Nämlich: Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts, den der Angeklagte erklärt, ohne dass der an sich erforderliche notwendige Verteidiger anwesend ist.

Das AG hat den Angeklagten am 02.11.2022 wegen vorsätzlicher Körperverletzung iund Beleidigung  verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Hauptverhandlung erklärten der nicht verteidigte Angeklagte sowie die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die Urteilsverkündung einen Rechtsmittelverzicht.

Mit Schriftsatz vom 08.11.2022 legte der Angeklagte durch seine nunmehr bevollmächtigte Verteidigerin Berufung gegen das Urteil ein und macht geltend, der erklärte Rechtsmittelverzicht sei mangels Mitwirkung eines Verteidigers an der Hauptverhandlung unwirksam. Es habe ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen, da der Angeklagte bei Begehung der abgeurteilten Taten unter Bewährung gestanden habe, eine Begutachtung des Angeklagten zu den Voraussetzungen gem. §§ 20, 21 sowie § 64 StGB angezeigt gewesen wäre und der Angeklagte gerichtlich wie außergerichtlich von einer Betreuerin vertreten werde, deren Aufgabenkreis u.a. Rechts- / Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasse.

Das LG hat die Berufung gem. § 322 StPO als unzulässig verworfen. Sie erachtet den erklärten Rechtsmittelverzicht für wirksam, denn der Angeklagte sei verhandlungsfähig gewesen und ein Fall der notwendigen Verteidigung habe nicht vorgelegen.

Dagegen die als „Revision“ bezeichneten Eingabe der Verteidigerin. Die hatte beim OLG Erfolg:

1. Die gem. § 300 StPO als die allein statthafte sofortige Beschwerde gem. § 322 Abs. 2 StPO auszulegende Eingabe der Verteidigerin des Angeklagten ist zulässig und in der Sache auch begründet.

Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen, denn der von dem seinerzeit nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter erklärte und im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht war unwirksam. Der Rechtsmittelverzicht steht mithin der Zulässigkeit des von dem alsdann beauftragten Verteidiger fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegen.

Zwar ist im Hauptverhandlungsprotokoll vom 2. November 2022 vermerkt, dass die Rechtsmittelverzichtserklärung dem Angeklagten – wie in § 273 Abs. 3 S. 3 StPO vorgeschrieben – noch einmal vorgelesen wurde und die Genehmigung erfolgt ist, so dass die Sitzungsniederschrift gemäß § 274 Satz 1 StPO für den erklärten Verzicht beweiskräftig ist. Zudem kann ein erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Gründen der Gerechtigkeit dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. 1. 2008 – 2 BvR 325/06, NStZ-RR 2008, 209 m. zahlr. w. N); denn im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts kann es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sein, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn einer Erklärung gebunden wird, der mit seinem Willen nicht im Einklang steht (BVerfG a.a.O.).

Ein solcher Ausnahmefall wird u. a. dann angenommen, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt hat und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 2. Mai 2012 – 4 Ws 41/12 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009 – 5 Ws 91/09 –, juris; BGH, Beschluss vom 5. 2. 2002 – 5 StR 617/01, NJW 2002, 1436, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 302, Rn. 25a). Der von einem Angeklagten in derartiger Weise abgegebene Rechtsmittelverzicht wird als unwirksam angesehen, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl. KG Berlin a.a.O., OLG Hamm a.a.O., BGH a.a.O.)

So liegt der Fall hier, denn entgegen der Auffassung des Landgerichts Bückeburg war ersichtlich ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Soweit das Landgericht ausführt, ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO liege nicht vor, da der Angeklagte angesichts der schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts Bückeburg und der darin nicht nur formelhaft begründeten Bewährungsentscheidung nicht mit einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020 (Az.: 85 Ds 7/20) zu rechnen habe, geht der Einwand fehl.

Denn allein maßgeblich für die Frage, ob ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, ist der Zeitpunkt der Hauptverhandlung und der dort abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärung. Hier war dem Angeklagten schon deshalb ein Verteidiger beizuordnen, weil gravierende Zweifel daran bestehen, dass er in der Lage war, sich selbst zu verteidigen. Denn nach der Rechtsprechung ist in Fällen, bei denen dem Angeklagten – wie hier – ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt wurde, regelmäßig ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben (KG, Beschluss vom 20.12.2021, Az.: (2) 161 Ss 153/21 (35/21), BeckRS 2021, 43952; OLG Hamm, Beschluss vom 14. 8. 2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286; LG Magdeburg, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 25 Qs 53/22 –, juris; LG Berlin, Beschluss vom 14. Dezember 2015 – 534 Qs 142/15 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140, Rn. 30). Vorliegend trat kumulativ hinzu, dass sich die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Voraussetzungen von §§ 20, 21 sowie § 64 StGB förmlich aufdrängte, denn das Amtsgericht stellt im Urteil vom 2. November 2022 selbst fest, dass der Angeklagte vor den abgeurteilten Taten 3,5 Liter Bier sowie eine halbe Flasche Wodka konsumiert hatte, hochgradig alkoholabhängig ist, zahlreiche Male strafrechtlich wegen Körperverletzungsdelikten sowie wegen Trunkenheitsfahrten verurteilt wurde und noch bis zum 1. Februar 2022 eine stationäre Alkoholtherapie absolviert hatte. Mithin drohte dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung wegen der im hiesigen Verfahren angeklagten Taten nicht nur ein Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten 9-monatigen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020, sondern auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB und damit ein weiterer sonstiger schwerwiegender Nachteil, der bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen war (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl. 2016, StGB § 64 Rn. 105; LG Kleve, Beschluss vom 14. November 2014 – 120 Qs 96/14 –, juris).

Nach alledem war der Strafrichter des Amtsgerichts Bückeburg aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten, dem Angeklagten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, der ihm in der Hauptverhandlung beistehen und mit dem er sich hätte beraten können. Der unmittelbar nach Urteilsverkündung von dem Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht kann bei Würdigung der Gesamtumstände in der Person des Angeklagten nicht als rechtswirksam erachtet werden. Da der im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht mithin der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegensteht, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.“

Wenn man es liest, kann man nur den Kopf schütteln, und zwar doppelt. Nämlich einmal über die Verteidigerin, die sich – gelinde ausgedrückt – im Rechtsmittelrecht nicht so gut auszukennen scheint und ihre Eingabe als „Revision“ bezeichnet hat. Aber man muss m.E. den Kopf noch mehr über AG und LG schütteln. Da sieht man es als nicht notwendig an, einem Angeklagten, der – wenn der Vortrag der Vereteidigerin stimmt – bei Begehung der abgeurteilten Taten unter Bewährung gestanden hat, dessen Begutachtung zu den Voraussetzungen gem. §§ 20, 21 StGB sowie § 64 StGB ggf. angezeigt gewesen wäre und der  gerichtlich wie außergerichtlich von einer Betreuerin vertreten wird, deren Aufgabenkreis u.a. Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasst, ohne Verteidiger? Ohne weitere Worte.

Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

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Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

Pflichti I: Einiges Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, Einziehung, Schwere der Tat u.a.

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Bevor es dann morgen noch einen „Gebührentag“ gibt und dann das Pfingstwochenende kommt, stelle ich heute erst noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da haben sich seit dem letzten „Pflichti-Tag“ wieder einige angesammelt.

Hier zunächst eine Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, allerdings – wie gewohnt – nur die Leitsätze:

1. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019.

2. Zu den Gründen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung.

1. Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf.

2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft.

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.

Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.

Pflichti III: Potpourri von Beiordnungsgründen, oder: Ausländer, Steuer, „ungeimpft“, Betreuung, Beweislage

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Und zum Tagesschluss dann noch einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – also i.d.R. §3 140 Abs. 2 StPO. Hier stelle ich aber nur die Leitsätze vor, sonst wird es zu viel. Den Volltext muss man dann ggf. selbst lesen 🙂 . Und da sind dann.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein ukrainische Beschuldigte, der ein Vergehen gem. § 235 StGB vorgeworfen wird, deren Sprachdefizite durch die Zuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.

Steht der Beschuldigte unter Betreuung und zählt zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden, ist insoweit stets von einer notwendigen Verteidigung wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung auszugehen.

Es liegt eine schwierige Beweislage, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert vor, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen.

1. Es besteht schon eine schwierige Rechtslage, wenn divergierende obergerichtliche zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat (im Hinblick auf die Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist.
2. Eine schwierige Rechtslage besteht wohl auch, wenn eine Verständigung erörtert wird.
3. Bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsfolge sind in die Beurteilung ggf. durch eine Verurteilung drohende Nebenfolgen einzubeziehen.

In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO).

Pflichti II: Kleine „Pflichti-Rechtsprechungsübersicht“, oder: Zwei Verteidiger, Rückwirkung und Aufhebung

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Im zweiten Posting dann eine Zusammenstellung verschiedender Entscheidungen aus der letzten Zeit. M.E. reichen hier die Leitsätze.

Und zwar zunächst der Hinweis auf den BGH, Beschl. v. 05.05.2022 – StB 16/22 – zum weiteren Pflichtverteidiger, mit dem der BGH seine Rechtsprechung im BGH, Beschl. v. 24.03.2022 – StB 5/22 – bestätigt:

Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift des § 144 StPO zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen.

Als zweite Entscheidung dann der – schon etwas ältere – LG Bonn, Beschl. v. 01.03.2022 – 63 Qs 7/22 – u.a. noch einmal zur rückwirkenden Bestellung, und zwar mit folgenden Leitsätzen:

    1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Dies kann im Einzelfall anders zu beurteilen sein, etwa wenn der Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sachlich nicht gerechtfertigte, erhebliche Verzögerung der Verfahrensbehandlung vorausgegangen ist.
    2. Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist – auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden sollte – regelmäßig von einer Schwere der Tat i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO auszugehen.

Und dann als letztes hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 11.05.2022 – 25 Qs 33/22 – zur Frage der Aufhebung der Pflichtverteidigebestellung in den Fällen der Haftentlassung. Das LG bestätigt die bisherige Rechtsprechung:

In den Fällen der Pflichtverteidigeraufhebung wegen Haftentlassung ist im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert.