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Pflichti II: Kleine „Pflichti-Rechtsprechungsübersicht“, oder: Zwei Verteidiger, Rückwirkung und Aufhebung

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Im zweiten Posting dann eine Zusammenstellung verschiedender Entscheidungen aus der letzten Zeit. M.E. reichen hier die Leitsätze.

Und zwar zunächst der Hinweis auf den BGH, Beschl. v. 05.05.2022 – StB 16/22 – zum weiteren Pflichtverteidiger, mit dem der BGH seine Rechtsprechung im BGH, Beschl. v. 24.03.2022 – StB 5/22 – bestätigt:

Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift des § 144 StPO zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen.

Als zweite Entscheidung dann der – schon etwas ältere – LG Bonn, Beschl. v. 01.03.2022 – 63 Qs 7/22 – u.a. noch einmal zur rückwirkenden Bestellung, und zwar mit folgenden Leitsätzen:

    1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Dies kann im Einzelfall anders zu beurteilen sein, etwa wenn der Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sachlich nicht gerechtfertigte, erhebliche Verzögerung der Verfahrensbehandlung vorausgegangen ist.
    2. Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist – auch wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden sollte – regelmäßig von einer Schwere der Tat i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO auszugehen.

Und dann als letztes hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 11.05.2022 – 25 Qs 33/22 – zur Frage der Aufhebung der Pflichtverteidigebestellung in den Fällen der Haftentlassung. Das LG bestätigt die bisherige Rechtsprechung:

In den Fällen der Pflichtverteidigeraufhebung wegen Haftentlassung ist im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert.

Pflichti II: Diverse Pflichtverteidigungsfragen, oder: Dauer der Bestellung, Bestellung wegen EncroChat?

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Und dann im Mittagsposting drei Entscheidungen zu diversen Pflichtverteidigungsfragen, und zwar:

Zunächst der KG, Beschl. v. 25.02.2022 – (2) 161 Ss 25/22 (7/22) – zur Dauer der Pflichtverteidigung:

„Aus Gründen der Klarstellung war dem Angeklagten auf seinen Antrag Rechtsanwalt pp. gemäß § 140 Abs. 2 StPO zum Pflichtverteidiger zu bestellen. Zwar endet eine Beiordnung gemäß § 143 Abs. 1 StPO erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens und gilt somit auch für das Revisionsverfahren einschließlich einer etwaigen Revisionshauptverhandlung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 143 Rdn. 1, § 350 Rdn. 9, 11). Da die Beiordnung durch das Landgericht am 15. De­zember 2021 jedoch ausdrücklich mit dem (einschränkenden) Zusatz „für das Beru­fungsverfahren“ erfolgt ist, war die Beiordnung klarstellend noch einmal aus­zusprechen.“

Als zweite Entscheidung der KG, Beschl. v. 28.03.2022 – 2 Ws 57/22 -zur Aufhebung der Bestellung mit folgendem Leitsatz:

Nach rechtskräftigem Abschluss eines Strafverfahrens ist die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr möglich.

Und als dritte Entscheidung dann der angekündigte weitere Beschluss zum zweiten Verteidiger (§ 144 StPO), und zwar zur Frage: Erfordert die Encro-Chat-Problematik einen weiteren Verteidiger? Das LG Frankfurt (Oder) sagt im LG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 07.04.2022 – 22 Qs 18/22: Nein:

„…. a) Entgegen dem Vorbingen des Beschuldigten hat der Verfahrensstoff keinen derart außergewöhnlichen Umfang. Wie in anderen Verfahren, in denen die Auswertung von Telekommunikationsdaten eine Rolle spielt, ist ein nicht unerheblicher Datenbestand vorhanden, wobei nicht jedes Gespräch bzw. Nachricht eine wesentliche Rolle spielt. Das Ausmaß der Daten in diesem Verfahren ist nicht umfangreicher als in vergleichbaren Verfahren einer Großen Strafkammer, ohne dass grundsätzlich beim Vorhandensein von Telekommunikationsdaten größeren Umfangs die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vorliegen. Ein unabweisbares Bedürfnis für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist aus dem konkreten Aktenbestand nicht abzuleiten (OLG Bremen, Beschl. v. 30.04.2021 – 1 Ws 24/21 –, Rn. 19 – juris). Dass der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich wäre, dass er überhaupt nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden könnte, und anderenfalls eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung des ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens bestünde, ist nicht ersichtlich.

Dies ergibt sich im Übrigen auch nicht aus dem Umstand, dass die Ermittlungen teilweise auf Encrochat-Daten beruhen. Eine besondere Komplexität geht damit nicht zwingend einher. Dies folgt auch daraus, dass die rechtlichen Fragen in Rechtsprechung und Wissenschaft bereits in breitem Umfang diskutiert sind, sich eine obergerichtliche Rechtsprechung herausgebildet und nunmehr auch der Bundesgerichtshof eindeutig und ausführlich Position bezogen hat (BGH, Beschl. v. 02.03.2022 – 5 StR 457/21).“

Pflichti I: Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, oder: Besonderer Umfang/besondere Schwierigkeit?

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Heute mache ich dann mal wieder einen „Pflichti-Tag“  mit einigen Entscheidungen zur Pflichtverteidigung (§§ 140 ff. StPO).

Den Opener mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 24.03.2022 – StB 5/22 –, mit dem der BGH  seine bisherige Rechtsprechung zum neuen § 144 StPO bekräftigt/fortsetzt. Heute Mittag gibt es dann noch einen weiteren Beschluss zu § 144 StPO.

Ergangen ist der Beschluss in einem beim OLG Stuttgart anhängigen Staatsschutzverfahren. In dem hat der Vorsitzende des Strafsenats den Antrag, dem Angeklagten Rechtsanwalt S. als zweiten Pflichtverteidiger zusätzlich beizuordnen, abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers lägen nicht vor. Das Verfahren sei weder besonders umfangreich noch besonders schwierig. Zudem sei keine Verfahrensdauer absehbar, die eine Mitwirkung eines zweiten Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung erforderlich erscheinen lasse. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt K mit der sofortigen Beschwerde. Diese war zulässig, hatte in der Sache aber keinen Erfolg.

Zur Zulässigkeit der vom Verteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde nur kurz (mein) Leitsatz:

Ein Verteidiger kann gemäß § 297 StPO Rechtsmittel für einen Beschuldigten im eigenen Namen einlegen; für ein solches Verständnis eines vom Verteidiger eingelegten Rechtsmittels streitet eine Regelvermutung.

Zur Sache dann (etwas) mehr aus der BGH-Entscheidung:

„Das Rechtsmittel hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. a) Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“.

Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche – „vom Willen des Beschuldigten unabhängige“ (BT-Drucks. 19/13829 S. 49) – Bestellung ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).

Soweit der Gesetzeswortlaut „Umfang oder Schwierigkeit“ des Verfahrens anführt, benennt er lediglich exemplarisch („insbesondere“) Hauptanwendungsfälle für diese zentrale Normvoraussetzung. Hierauf ist bei der Auslegung Bedacht zu nehmen. Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne einen weiteren (bzw. zwei weitere) Verteidiger gefährdet wäre (BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).

Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.

Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN zur grundsätzlich weiterhin relevanten Rechtsprechung aus der Zeit vor der Schaffung des § 144 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 [BGBl. 2019 I S. 2128]; KG, Beschluss vom 12. Januar 2022 – 4 Ws 4/22-161 AR 265/21, juris Rn. 13; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 21. Oktober 2021 – 2 Ws 166/21, juris Rn. 6; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).

b) Zwar gilt für das Rechtsmittel der (sofortigen) Beschwerde im Grundsatz, dass das Beschwerdegericht an die Stelle des Erstgerichts tritt und eine eigene Sachentscheidung trifft. Soweit seine Prüfungsbefugnis nicht auf die Gesetzwidrigkeit einer Anordnung beschränkt ist (§ 305a Abs. 1 Satz 2, § 453 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 59 Abs. 2 Satz 2 JGG), nimmt das Beschwerdegericht – anders als das Revisionsgericht – eine eigene sachliche Beurteilung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen vor und übt selbst Ermessen aus (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 1997 – 1 StR 781/96, BGHSt 43, 153, 155; Beschluss vom 26. März 2009 – StB 20/08, BGHSt 53, 238, 243 f.). Für die Prüfung der (Ablehnung der) Bestellung eines weiteren Verteidigers gilt jedoch Abweichendes.

Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. ….

2. Hieran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart hat die Ablehnung des Antrags des Angeklagten auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers damit begründet, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO lägen nicht vor. Mit dieser Beurteilung hat er die Grenzen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums nicht überschritten.

a) Der Aktenbestand beläuft sich auf 44 Ordner aus dem Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten; hinzu kommen zwölf weitere Aktenordner des hinzuverbundenen Verfahrens gegen die Mitangeklagte. Der Vorsitzende hat vor diesem Hintergrund in seiner Entscheidung ausgeführt, der Verfahrensstoff sei nicht besonders umfangreich. Diese Wertung ist nicht zu beanstanden. Ein „unabweisbares Bedürfnis“ für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers hat der Vorsitzende aus dem Aktenbestand nicht ableiten müssen. Ein solches läge nur vor, wenn der Verfahrensstoff als so außergewöhnlich umfangreich zu beurteilen wäre, dass er überhaupt nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit beherrscht werden könnte, und anderenfalls eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens bestünde. Dass der Vorsitzende solches – abweichend von der Wertung in der Beschwerdeschrift – nicht angenommen hat, ist jedenfalls vertretbar. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des vom Pflichtverteidiger des Angeklagten in seiner Stellungnahme vom 18. März 2022 vorgebrachten Umstandes, der Generalbundesanwalt habe während der bereits laufenden Hauptverhandlung weiteres – überwiegend elektronisches – Beweismaterial vorgelegt. Soweit dessen Sichtung besonderen Zeitaufwand erfordert, kann dem erforderlichenfalls durch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung Rechnung getragen werden. Dies ist nach dem Vortrag des Beschwerdeführers bereits geschehen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Umfang des Verfahrensstoffs während der Hauptverhandlung voraussichtlich so stark erhöhen wird, dass der Aufwand für deren Durchdringung einen Verteidiger überfordern könnte.

b) Gleichfalls als jedenfalls vertretbar erweist sich die Annahme des angefochtenen Beschlusses, die aufgeworfenen Rechtsfragen seien nicht besonders schwierig. Es geht bei der Beweisaufnahme im Wesentlichen um die Einordnung des „IS“ als terroristische Vereinigung im Ausland, den Nachweis der dem Angeklagten zur Last gelegten Aktivitäten zu Gunsten des „IS“, wobei als Beweismittel insofern maßgeblich sichergestellte und ausgewertete Messenger-Kommunikation des Angeklagten in Betracht kommt, sowie um die Rechtsfrage der Einordnung der mutmaßlichen Aktivitäten des Angeklagten als mitgliedschaftliche Beteiligung an der Vereinigung „IS“ und Zuwiderhandlung gegen ein EU-Bereitstellungsverbot. Zu den damit inmitten stehenden Rechtsfragen liegt umfangreiche und gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung vor. Dass der Pflichtverteidiger die zu beantwortenden Rechtsfragen subjektiv für schwierig hält, ist demnach im vorliegenden Zusammenhang nicht maßgebend. Dafür, dass sich im Laufe der weiteren Hauptverhandlung komplexe oder ungeklärte Rechtsfragen stellen könnten, zu deren Bewältigung ein Verteidiger allein nicht in der Lage wäre, besteht kein Anhalt.

c) Der Einwand des Verteidigers des Angeklagten, der Generalbundesanwalt sei in der Hauptverhandlung mit zwei Staatsanwälten vertreten, verfängt nicht (OLG Frankfurt, Beschluss vom 11. Mai 2007 – 3 Ws 470/07; NStZ-RR 2007, 244; ebenso HansOLG Bremen, Beschluss vom 30. April 2021 – 1 Ws 24/21, juris Rn. 20 a.E.; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 141 Rn. 5; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 141 Rn. 9). Zum einen ist die autonome Entscheidung der Staatsanwaltschaft, mit welchen personellen Ressourcen der Sitzungsdienst wahrgenommen wird, für die hier relevante Beurteilung des Umfangs und der Schwierigkeit des Verfahrens durch den Vorsitzenden ohne Belang, zumal für die staatsanwaltschaftliche Entscheidung auch andere Kriterien als der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens maßgeblich sein können. Zum anderen üben der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft unterschiedliche Funktionen in der Hauptverhandlung aus; die Staatsanwaltschaft, die auch auf die Aufklärung und Berücksichtigung den Angeklagten entlastender Umstände Bedacht zu nehmen hat, ist dort nicht „Gegner“ des Angeklagten. Somit verlangt auch das Gebot der Verfahrensfairness und der „Waffengleichheit“ nicht, dass die Zahl der Verteidiger des Angeklagten der Anzahl der an der Hauptverhandlung mitwirkenden Staatsanwälte entspricht.

d) Als ohne Weiteres vertretbar erweist sich zudem die Einschätzung des Vorsitzenden, die voraussichtliche weitere Dauer der Hauptverhandlung zwinge ebenfalls nicht zu der Bestellung eines zweiten Verteidigers. In Fällen einer absehbar außergewöhnlich langen Hauptverhandlung rechtfertigt sich die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger aus der Erfahrung, dass sich bei einer derartigen Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit erhöht, ein Verteidiger könnte durch Erkrankung für einen längeren Zeitraum als durch Unterbrechungen nach § 229 StPO überbrückbar ausfallen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 23; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, juris Rn. 18 mwN; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 2 Ws 3/20, StV 2021, 154, 155). Vom Vorsitzenden ist geplant, dass sich die im Januar 2022 begonnene Hauptverhandlung bis Ende Juni 2022 erstreckt. Eine außergewöhnlich lange Hauptverhandlung steht mithin nicht zu erwarten.

Dass – etwa wegen Vorerkrankungen des dem Angeklagten bestellten Verteidigers – eine tatsächlich erhöhte Gefahr besteht, dieser könnte für längere Zeit ausfallen, so dass ausnahmsweise ungeachtet der hier zu erwartenden nicht besonders langen Hauptverhandlungsdauer die Bestellung eines Sicherungsverteidigers gerechtfertigt sein könnte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Eine bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit eines späteren Ausfalls des Pflichtverteidigers gibt – außer in Fällen voraussichtlich ganz besonders langer Hauptverhandlungen – regelmäßig keinen Anlass zur Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – StB 17/21, NJW 2021, 1894 Rn. 9; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, NStZ 2021, 123 Rn. 12; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 2 Ws 3/20, StV 2021, 154, 157; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 144 Rn. 4).

e) Das vom Verteidiger des Angeklagten geltend gemachte allgemeine Risiko seiner Erkrankung am Corona-Virus begründet nicht die Notwendigkeit der Bestellung eines weiteren Verteidigers (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – StB 17/21, NJW 2021, 1894 Rn. 9; OLG Celle, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 5 StS 1/20, NStZ 2021, 123 Rn. 17; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Mai 2020 – III-4 Ws 94/20, juris Rn. 2). Insofern ist zu berücksichtigen, dass Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus gegenwärtig zumeist nicht schwerwiegend oder langwierig verlaufen. In der Regel wird daher im Falle einer solchen Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten eine Unterbrechung der Hauptverhandlung innerhalb der Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO bis zur Genesung des Betroffenen ausreichen, auch wenn eine Hemmung des Laufes der Unterbrechungsfristen nach § 10 Abs. 1 EGStPO wegen der – gegenwärtig bis zum 30. Juni 2022 – befristeten Geltung dieser Vorschrift zukünftig ausscheiden sollte…..“

Zu § 144 StPO scheint sich eine Kasuistik zu entwickeln, die auf der zur früheren Rechtslage ergangenen Rechtsprechung beruht.

Und kleine Anmerkung mit leichtem Stirnrunzeln im Hinblick auf die Feststellung des BGH, wonach die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung nicht „Gegner“ des Angeklagten sei. In der Praxis dürfte doch wohl eher das Gegenteil der Fall sein.

Pflichti I: Zweimal BGH, oder: Auswechselung und/oder weiterer Pflichverteidiger

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Heute dann ein weiterer Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidung. Da hat sich mal wieder einiges angesammelt. Das ist so viel, dass ich es thematisch wieder zusammen fassen muss.

Ich beginne den Tag mit zwei BGH-Beschlüssen zum Recht der Pflichtverteidigung. Und zwar einmal zur Frage eines weiteren Verteidigers und einmal zur Auswechselung.

Mit der Frage des weiteren Pflichtverteidigers befasst sich der BGH, Beschl. v. 13.04.2021 – StB 12/21. Das OLG hatte abgelehnt. Der BGH meint dazu:

„Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Das Oberlandesgericht ist unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen davon ausgegangen, dass zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Hinzuziehung eines weiteren Verteidigers nicht erforderlich sei. Es handele sich um einen überschaubaren Verfahrensgegenstand mit in der Rechtsprechung vielfach entschiedenen Problemstellungen, dessen Bearbeitung durch einen Pflichtverteidiger ohne qualitative Einbußen für die Verteidigung der Angeklagten gewährleistet werden könne. Eine Überschreitung des dem Vorsitzenden des Tatgerichts zustehenden Beurteilungsspielraums oder etwaige Ermessensfehler sind weder nach der Aktenlage noch aufgrund des Beschwerdevorbringens ersichtlich.

Etwas anderes folgt nicht aus seinem Schreiben an die Angeklagte vom 10. Februar 2021, in dem er im Rahmen der ausstehenden Entscheidung, „ob […] ein weiterer (zweiter) Pflichtverteidiger beigeordnet werden soll“, um entsprechende Benennung gebeten hat. Vielmehr wird daraus deutlich, dass über die grundsätzliche Erforderlichkeit noch zu befinden ist. Soweit in der Beschwerdebegründung Bedenken gegen die bestellte Pflichtverteidigerin vorgebracht werden, betreffen diese im Ergebnis nicht die Notwendigkeit eines zusätzlichen Pflichtverteidigers, sondern die – bereits abschlägig beschiedene (vgl. BGH, Beschluss vom 24. März 2021 – StB 9/21) – Frage nach einem Verteidigerwechsel gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO. Schließlich ist die Hinzuziehung eines Ergänzungsrichters (§ 192 Abs. 2 GVG) für die hier in Rede stehende Entscheidung ebenfalls nicht maßgeblich, da für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ergänzungsfalls (s. dazu BGH, Beschluss vom 2. November 2010 – 1 StR 544/09, juris Rn. 42) insbesondere in der Person eines beteiligten Richters liegende, für die Sicherung der Verteidigung indes nicht erhebliche Umstände in den Blick zu nehmen sein können, wie beispielsweise bevorstehender Ruhestand, Schwangerschaft, zu erwartende Versetzung oder Erkrankung (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, BVerfGK 6, 384, 394; vom 5. Oktober 2006 – 2 BvR 1815/06, BVerfGK 9, 306, 313; OLG Hamm, Beschluss vom 11. August 2016 – III-3 Ws 304-305/16, juris Rn. 36 mwN).“

Und dann der BGH, Beschl. v. 24.03.2021 – StB 9/21 – zur Auswechselung des Pflichtverteidigers. Auch der Antrag hatte keinen Erfolg:

„a) Eine Störung des Vertrauensverhältnisses ist aus Sicht eines verständigen Angeklagten zu beurteilen und von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20, NStZ 2021, 60 Rn. 6 f. mwN). Insoweit kann zwar von Bedeutung sein, wenn ein Pflichtverteidiger zu seinem inhaftierten Mandanten über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Verbindung tritt (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11. November 2010 – III-1 Ws 290/10, NStZ-RR 2011, 48; OLG Braunschweig, Beschluss vom 6. September 2012 – Ws 268/12, StV 2012, 719; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 2. Juni 1972 – 2 Ws 195/72, MDR 1972, 799; weitergehend für eine Jugendliche OLG Köln, Beschluss vom 2. Februar 2007 – 2 Ws 51/07, StraFo 2007, 157). Allerdings liegt es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Verteidigers, in welchem Umfang und auf welche Weise er mit dem Beschuldigten Kontakt hält (KG, Beschluss vom 9. August 2017 – 4 Ws 101/17, juris Rn. 12; vgl. auch SächsVerfGH, Beschluss vom 21. Februar 2013 – Vf. 107-IV-12 [HS], juris Rn. 11, 32 f.). Die unverzichtbaren Mindeststandards müssen jedenfalls gewahrt sein (s. BGH, Beschlüsse vom 30. September 2008 – 5 StR 251/08, NStZ 2009, 465; vom 18. Januar 2018 – 4 StR 610/17, NStZ-RR 2018, 84 mwN).

Daran gemessen ist nicht von einem endgültigen Vertrauensverlust auszugehen. Nach dem Vorbringen der Angeklagten hat die Pflichtverteidigerin sie nach der Festnahme am 28. Juli 2020 bis zum 16. Februar 2021 drei Mal – im August, September und Dezember 2020 – in der Untersuchungshaft besucht. Hinzu kommt, dass die Angeklagte selbst keinen weitergehenden Kontakt zu ihrer Verteidigerin aufgenommen oder einen solchen erbeten hat. Dass die Verteidigerin nach Zustellung der Anklageschrift im Januar 2021 nicht sofort von sich aus das Gespräch mit der Angeklagten gesucht hat, führt nach den konkreten Umständen zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen entspricht die Anklageschrift im Wesentlichen dem im Haftbefehl ausgeführten Tatvorwurf (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – AK 7/21, juris Rn. 2). Zum anderen hat die Angeklagte unabhängig davon bereits im Januar 2021 bei Gericht um einen Pflichtverteidigerwechsel gebeten. Soweit sie im Folgenden erklärt hat, keine Besuche mehr durch ihre Pflichtverteidigerin zu wünschen, kann sie deren Austausch hierdurch nicht einseitig erzwingen (s. allgemein OLG Hamm, Beschluss vom 31. März 2009 – 2 Ws 89/09, juris Rn. 16 mwN). Im Übrigen berührt es das Vertrauensverhältnis zwischen der Angeklagten und der Pflichtverteidigerin nicht, dass ein weiterer Verteidiger mit dieser zusammen eine Verteidigung für „unmöglich“ hält.“