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Pflichtverteidiger(gebühren) im Erstattungsfall, oder: Ist die Mittelgebühr auf jeden Fall die Untergrenze?

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Und als zweite Entscheidung dann der LG Magdeburg, Beschl. v. 24.8.2023 – 25 Qs 273 Js 5753/22 (49/23) – zur Höhe der Gebühren, wenn der Pflichtverteidiger für den Mandanten Erstattung aus der Staatskasse verlangen kann.

Folgender Sachverhalt: Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger des Angeklagten, der vom AG vom Vorwurf des Betruges freigesprochen worden ist. Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten wurden der Landeskasse auferlegt. Der Rechtsanwalt hat dann unter Beifügung einer Abtretungserklärung beantragt, seine Gebühren und Auslagen abzüglich bereits erhaltener Pflichtverteidigergebühren gegen die Landeskasse festzusetzen. Dabei ist er von den Mittelgebühren ausgegangen.

Die Vertreterin der Staatskasse hat Einwände gegen die Höhe der Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG und der geltend gemachten Terminsgebühren erhoben. Der Rechtspfleger ist diesen Einwänden gefolgt und hat diese Gebühren unterhalb der jeweiligen Mittelgebühren festgesetzt. Dagegen hat der Pflichtverteidiger sofortige Beschwerde eingelegt, die er damit begründet hat, dass allein der Umstand, dass er als notwendiger Verteidiger beigeordnet worden sei, eine Festsetzung einer Vergütung mindestens in Höhe der Pflichtverteidigergebühren rechtfertige. Die von der Bezirksrevisorin nicht konkret begründeten darunterliegenden Beträge seien willkürlich bestimmt worden. Das Verfahren sei insgesamt als durchschnittlich anzusehen, sodass die Mittelgebühr berechtigt und begründet sei. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg:

„Die zulässige sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers ist unbegründet. Zu Recht hat das Amtsgericht A. mit dem angefochtenen Beschluss die weitere Festsetzung aus der Landeskasse zu erstattender Gebühren über die bereits gezahlte Pflichtverteidigergebühr hinaus zurückgewiesen. Die Kammer schließt sich insoweit nach eigener Würdigung den Stellungnahmen der Bezirksrevisorin vom 23. Januar 2023 und 30. März 2023 an.

Auch die Ausführungen des Verteidigers in seinem Schriftsatz vom 27. Februar 2023, die er zum Gegenstand seiner Beschwerdebegründung gemacht hat, entkräften nicht die zutreffenden Ausführungen der Bezirksrevisorin, auf denen der angefochtene Beschluss beruht. Der Einwand des Verteidigers, dass das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger die Festsetzung einer Mittelgebühr begründeten, geht fehl.

Aus der gesetzgeberischen Regelung, die unterschiedliche Festsetzungsgrundlagen hinsichtlich der Pflichtverteidigergebühren und der Wahlverteidigergebühr vorsieht, lässt sich nicht entnehmen, dass jegliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers pauschal und ohne Prüfung im Einzelfall die Festsetzung einer Mittelgebühr bei allen Gebührentatbeständen für Wahlverteidiger begründet. Die entsprechende Anlage zum RVG sieht zum einen die Rahmengebühren für Wahlverteidigergebühren unabhängig neben dem jeweiligen Festbetrag für Pflichtverteidigergebühren vor. Eine gesetzgeberische Intention, dass die Pflichtverteidigergebühr, die 80% der Mittelgebühr für Wahlverteidiger beträgt, einen generellen Maßstab für die Festsetzung von Wahlverteidigergebühren darstellt, lässt sich den Regelungen des RVG daher gerade nicht entnehmen.

Darüber hinaus sind die gesetzlichen Kriterien, die zur Beiordnung von Pflichtverteidigern führen, nicht pauschal gleichzusetzen mit den in § 14 RVG zu berücksichtigen Kriterien im Rahmen der Festsetzung von Wahlverteidigergebühren. Neben der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sind unter anderem der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit für den Mandanten sowie seine finanziellen Verhältnisse zu berücksichtigen. Zwischen diesen Kriterien und den Beiordnungsgründen gemäß § 140 Abs.1 und Abs. 2 StPO besteht jedoch weitestgehend keine Identität. So besagt etwa der Beiordnungsgrund der Inhaftierung (§ 140 Abs.1 Ziffer 5 StPO) des Mandanten nichts zum Schwierigkeitsgrad der anwaltlichen Tätigkeit und auch der Beiordnungsgrund der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage kann lediglich neben anderen Kriterien gegebenenfalls im Einzelfall indizielle Bedeutung bei der Bemessung haben. Die finanziellen Verhältnisse des Mandanten hingegen sind für die Prüfung der Beiordnungsgründe gemäß § 140 StPO nicht relevant, sie sind aber gemäß § 14 RVG bei der Bemessung innerhalb der Rahmengebühr zu berücksichtigen.

§ 52 Abs. 2 RVG, der eine Regelung hinsichtlich der Geltendmachung von Wahlverteidigergebühren neben Pflichtverteidigergebühren enthält, zeigt ebenfalls, dass der Gesetzgeber in der Beiordnung eines Pflichtverteidigers keinen Grund sieht, hinsichtlich aller Rahmengebühren für den Wahlverteidiger generell ohne Prüfung des Einzelfalls von der Angemessenheit der Mittelgebühr auszugehen. Prinzipiell ist danach die zusätzliche Geltendmachung von Wahlverteidigergebühren auf den Umfang des Anspruches des Beschuldigten/Betroffenen gegen die Staatskasse beschränkt. Eine Regelung, dass bei Bestellung eines Pflichtverteidigers, der freigesprochene Angeklagte/Betroffene mindestens einen Erstattungsanspruch in Höhe der Mittelgebühr gegen die Staatskasse hat, enthält diese Vorschrift gerade nicht.

Darüber hinaus ist festzustellen, dass der Anwalt jedenfalls nicht schlechter gestellt wurde als ein Pflichtverteidiger, da ihm die vollständigen Pflichtverteidigergebühren erhalten geblieben sind und lediglich eine darüber hinaus gehende Festsetzung abgelehnt worden ist. Insofern geht der Hinweis darauf, dass mindestens die Pflichtverteidigergebühren festzusetzen seien, ins Leere.“

Die Entscheidung ist richtig. Die Bestellung als Pflichtverteidiger führt eben nicht automatisch dazu, dass im Fall des Freispruchs und der Erstattung von Gebühren aus der Staatskasse immer mindestens die Mittelgebühr zu erstatten ist. Vielmehr sind die allgemeinen Grundsätze der Gebührenbemessung nach § 14 RVG anzuwenden. Ähnlich hat bereits das LG Kiel entschieden (vgl. LG Kiel, Beschl. v. 11.01.2016 – 6 Qs 2/16, RVGreport 2016, 335). Das AG Köthen (AG Köthen, Beschl. v. 22.11.2016 – 13 OWi 31/16, RVGreport 2017, 185) ist im Übrigen davon ausgegangen, dass die Gebühren des Wahlverteidigers im Fall des Freispruchs aber mindestens in der Höhe der einem Pflichtverteidiger ggf. zustehenden gesetzlichen Gebühren festzusetzen sind.

Pflichti II: Immer wieder Pflichtverteidigerwechsel, oder: Der nicht besuchte Mandant

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Im zweiten „Pflichti-Posting“ des Tages dann einige Entscheidungen zum Pflichtverteidigerwechsel.

Zunächst weise ich auf den BGH, Beschl. v. 25.08.2023 – 5 StR 350/23 – hin. Der bringt aber nichts Neues, sondern bestätigt nur noch einmal die Rechtsprechung des BGH. es gilt:

Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses gemäß § 143a
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 StPO ist vom Standpunkt eines vernünftigen und ver-
ständigen Angeklagten aus zu beurteilen und muss vom Antragsteller substanti-
iert dargelegt werden.

In den beiden nächsten Entscheidungen geht es ebenfalls um einen Pflichtverteidigerwechsel. Begründet worden ist der der Antrag damit, dass die bisherige Pflichtverteidigerin den Mandanten nicht (oft genug) besucht habe. Das LG Magedeburg lehnt im LG Magdeburg, Beschl. v. 10.08.2023 – 2 Ks 2/23 – ab. Zur Entscheidung passt folgender Leitsatz:

Eine Störung des Vertrauensverhältnisses ist aus Sicht eines verständigen Angeklagten zu beurteilen und von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen. Insoweit kann von Bedeutung sein, wenn ein Pflichtverteidiger zu seinem inhaftierten Mandanten über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Verbindung tritt. Dass der Pflichtverteidiger den Angeklagten jedoch nicht so oft besucht hat, wie es sich dieser gewünscht hätte, ist aber kein Grund nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO und kann eine Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses nicht begründen.

Dagegen ist Beschwerde eingelegt worden. Es überrascht mich nicht, dass das OLG Naumburg die im OLG Naumburg, Beschl. v. 04.09.2023 – 1 Ws 326/23 – das Rechtsmittel verworfen worden ist; OLG Naumburg eben 🙂 . Da passt folgender Leitsatz:

Für die Störung des Vertrauensverhältnisses zum Pflichtverteidiger kann  von Bedeutung sein, wenn ein Pflichtverteidiger zu seinem inhaftierten Mandanten über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Verbindung tritt. Allerdings liegt es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Verteidigers, in welchem Umfang und auf welche Weise er mit dem Beschuldigten Kontakt hält. Die unverzichtbaren Mindeststandards müssen aber gewahrt sein.

M.E. sind beide Entscheidungen unter Berücksichtigung der besonderen Verfahrenssituation falsch. Es steht die Begutachtung des Mandanten an. Da reicht es nicht, den Mandanten anzuschreiben. M.E. muss sich der Pflichtverteidiger dann mal bewegen und den Mandanten, der sich nicht meldet, besuchen. Im Übrigen liegt die Formulierung mit dem „Kindermädchen“ im LG-Beschluss völlig neben der Sache.

Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

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Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

Durchsuchung III: Und nochmals Anfangsverdacht, oder: Einmal reicht es, einmal nicht…..

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Im dritten Posting dann noch zwei Entscheidungen zur Durchsuchung, und zwar einmal hopp, einmal topp:

Zunächst hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 04.05.2023 – 25 Qs 35/23 – ergangen in einem Ermittlungsverfahren wegen Jagdwilderei. In dem hat sich das AG bei der Anordnung einer Durchsuchung beim Beschuldigten allein auf Angaben mittelbarer Zeugen gestützt. Das hat dem LG nicht gereicht.

Zu der Entscheidung passt der Leitsatz:

Voraussetzung für die Anordnung der Durchsuchung gemäß § 102 StPO ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Straftat bereits begangen und nicht nur straflos vorbereitet worden ist. Hierfür müssen zumindest tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Ggf. ist die Vernehmung unmittelbarer Tatzeugen erforderlich.

Und dann komme ich noch einmal zurück auf den OLG Hamm, Beschl. v. 27.04.2023 – 3 RVs 16/23. Den hatte ich neulich schon wegen der materiellen Frage vorgestellt, Stichwort: Impfpassfälschung (vgl. hier: Corona I: Gefälschter Impfpass vor Kreistagssitzung, oder: Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse). Das OLG hat in der Entscheidung dann auch zur Zulässigkeit der Durchsuchung beim Angeklagten Stellung genommen und die bejaht:

2. Bei der Feststellung des Tatgeschehens hat das Landgericht kein Beweisverwertungsverbot missachtet. Die Verfahrensrüge ist unbegründet. Die durch Beschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 25. November 2021 angeordnete Durchsuchung bei dem Angeklagten, bei der der zur Tatausführung verwendete Impfausweis aufgefunden und sichergestellt wurde, war rechtmäßig.

a) Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden Durchsuchung beim Beschuldigten gem. § 102 StPO genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer an dieser Tat in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht (st. Rspr.; vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05 -, BGH, Beschluss vom 30. März 2023 – StB 58/22 -; Beschluss vom 26. Juni 2019 – StB 10/19 -; jeweils juris; jeweils m. w. N.).

Daran gemessen lagen sachlich zureichende Gründe für eine Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten vor. Denn der Angeklagte hatte gegenüber der Zeugin Q. angegeben, 300 bis 400 Ipfausweise des Impfzentrums Lage zu besitzen, und der Zeugin Q. einen solchen Impfausweis für 350 € zum Kauf angeboten. Die Zeugin Q. hatte dies dem Zeugen C. berichtet, der den Landrat in einem Gespräch hierüber informiert hatte. Diesen Gesprächsinhalt zeigte der Zeuge S. bei der Polizei an.

Zwar mögen die Angaben eines Zeugen, der nicht aus eigener Wahrnehmung über einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt berichten kann, weniger zuverlässig sein als die Angaben eines unmittelbaren Zeugen. Deshalb ist aber nicht umgekehrt den Angaben eines Zeugen vom Hörensagen von vornherein jeder Beweiswert abzusprechen; vielmehr können auch die Angaben eines mittelbaren Zeugen den für eine Durchsuchung ausreichenden Anfangsverdacht begründen (BGH, Beschluss vom 12. August 2015 – 5 StB 8/15 -, NStZ 2016, 370; vgl. auch Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, § 250, Rn. 10f.).

Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den Angaben um eine Falschbelastung handelt, bestanden nicht; für die Richtigkeit sprach vielmehr, dass die Information durch einen Parteifreund und Fraktionskollegen des Angeklagten weitergegeben wurde. Zudem hatten sich während der Pandemie AfD-Politiker und -Anhänger so ablehnend gegenüber den Corona-Schutzregelungen geäußert, dass ausreichend Anlass bestand, konkrete Hinweise auf die Verletzung von § 279 StGB a. F. durch Angehörige dieses Personenkreises ernst zu nehmen.

b) Die Durchsuchung war auch nicht unverhältnismäßig.

Die Maßnahme war geeignet, zur Klärung des Tatverdachts beizutragen. Gegenüber der Durchsuchung stand kein gleichwirksames milderes Mittel zur Verfügung. Denn auch eine Vernehmung der weiteren Zeugen hätte zu diesem Zeitpunkt keine abschließende Klärung herbeigeführt, ob der Angeklagte unwahre Impfausweise besitzt.

Die Durchsuchung war auch angemessen. Soweit mit § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 5 CoronaSchVO NRW in der seinerzeit gültigen Fassung der Zugang zu Veranstaltungen bzw. Angeboten von einer Immunisierung oder Testung abhängig gemacht wurde, diente dies dem Gesundheitsschutz der anderen Nutzer bzw. Besucher der betreffenden Einrichtungen oder Veranstaltungen (OVG NRW, Beschluss vom 30. September 2021 – 15 B 1529/21 -, juris, m. w. N.). Zur Erreichung dieses Zwecks war der Schutz des Rechtsverkehrs vor unwahren Impfzeugnissen unabdingbar. Die Verletzung des Vertrauens in die Richtigkeit von Gesundheitszeugnissen konnte in diesem Fall über die unmittelbare rechtliche Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem Landrat weit hinausreichende, im Einzelfall für Dritte auch sehr ernsthafte gesundheitliche, schlimmstenfalls tödliche Folgen haben.“

Pflichti I: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: OLG Stuttgart, willkommen im Club

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Und am ersten Tag des neuen Monats dann gleich ein paar Entscheidungen zur Pflichtverteidigungsfragen.

Ich beginne mit dem verfahrensrechtlichen Dauerbrenner aus dem Bereich, nämlich der Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers. Und da gibt es dann heute mal etwas richtig Positives zu melden, nämlich nicht „nur“ einen weiteren LG- oder AG-Beschluss, der die zutreffende Ansicht vertritt, dass die rückwirkende Bestellung zulässig ist, sondern endlich auch mal wieder eine OLG-Entscheidung, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 Ws 529/22.

In der Sache ging es um einen der typischen § 154-er-Fälle. Das OLG hat dann – entgegen der Auffassung des LG Stuttgart – den Pflichtverteidiger nachträglich bestellt und begründet das wie folgt:

„2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg:

a) Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung auf seinen Antrag hin unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Vorliegend lag zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Denn der Beschwerdeführer befand sich seit 21. März 2022 in anderer Sache in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt.

bb) Er war auch unverteidigt im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO. Nach dem Wortlaut dieser Norm wird ein Pflichtverteidiger grundsätzlich nur bestellt, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. In Fällen wie diesem, in denen sich bereits ein Wahlverteidiger legitimiert hat, reicht es aus, wenn dieser ankündigt, im Moment der Bestellung als Pflichtverteidiger sein Wahlmandat niederzulegen (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 141 Rn. 4). Zwar enthält der Schriftsatz von Rechtsanwalt pp. vom 14. April 2022 eine solche Ankündigung nicht, dies steht der Beiordnung aber nicht entgegen. Denn auch der bloße Antrag des Wahlverteidigers, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger enden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.1982 – VI 5/82, StV 1983, 190; OLG München, Beschluss vom 06.03.1992 – 1 Ws 161/92, StV 1993, 65; Kämpfer/Travers in: MüKo, StPO, 2. Auflage, § 141 Rn. 4; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 141 Rn. 9).

cc) Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO war entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht möglich. Nach dieser Vorschrift kann eine Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden soll. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich aber auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen, § 141 Abs. 2 StPO. Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gemäß § 141 Abs. 1 ist sie nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Gegen eine unmittelbare Anwendung sprechen sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung innerhalb des § 141 StPO. Eine entsprechende Anwendung kommt mangels einer Regelungslücke nicht in Betracht (Krawczyk in: BeckOK StPO, § 141 Rn. 23 mwN).

b) Obwohl zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorlagen, hat das Landgericht dem Beschwerdeführer nicht unverzüglich (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO) Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet, sondern bis zum 9. November 2022 zugewartet, um dann das Verfahren einzustellen und den Beiordnungsantrag abzulehnen. In Fällen, in denen wie vorliegend die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde, ist es nach Auffassung des Senats ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung hat eine rückwirkende Beiordnung bislang mit dem Argument ausgeschlossen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Sie erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interessen eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Auch aus der Regelung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) folge nichts anderes, denn die Richtlinie sehe nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von Kosten freizuhalten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestehe gemäß Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie nur, wenn die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ein solches Erfordernis bestehe aber in rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr (OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268 Rn. 9-11; OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 – 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625; KG, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 Ws 30/20, BeckRS 2020, 9383 Rn. 13; OLG Hamburg Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077 Rn. 14; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, NStZ 2021, 253 (offengelassen für den Fall rechtzeitiger Antragstellung)).

bb) Teilweise wird die Ansicht vertreten, die rückwirkende Beiordnung sei jedenfalls dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt werde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO gegeben seien und die Entscheidung aus allein in der Sphäre der Justiz liegenden Gründen nicht vor Verfahrensabschluss erfolge. Dies ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie, wonach Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügten, ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zustehe, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Prozesskostenhilfe bedeute in diesem Zusammenhang die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden könne (Art. 3 PKH-Richtlinie). Geregelt sei nunmehr also, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden solle. Ziel und Zweck der Regelung sei eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil über den Antrag nicht vor Abschluss des Verfahrens entschieden werde. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO das Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. In der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sehe. Auch ein Vergleich mit den Regelungen bzgl. der Bewilligung von Prozesskostenhilfe spreche für die Möglichkeit einer rückwirkenden Beiordnung. So komme nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz grundsätzlich nicht in Betracht, etwas anderes gelte aber für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt worden sei, der nicht bzw. nicht vorab verbeschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20, BeckRS 2021, 8406 Rn. 4). Gründe, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers anders zu behandeln als einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, seien nicht ersichtlich (OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711 Rn. 14-19; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193 Rn. 22-26).

cc) Der Senat schließt sich der letztgenannten Ansicht an. Soweit von der gegenteiligen Auffassung eingewandt wird, Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie mache den Anspruch auf Prozesskostenhilfe davon abhängig, dass die Bewilligung im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei und eine solche Erforderlichkeit bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr bestehe, überzeugt dies insbesondere im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und damit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt (Kämpfer/Travers in: MüKOStPO, 2. Auflage, § 142 Rn. 14). Auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK wird das Recht einer angeklagten Person, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, davon abhängig gemacht, dass dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die „Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege“ wird in diesem Zusammenhang aber im Anschluss an die englische Sprachfassung („interests of justice“) nicht auf die Gesichtspunkte der Rechtspflege im Sinne objektiv-organisatorischer Erfordernisse reduziert, sondern vielmehr im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Angeklagten verstanden (Gaede in: MüKoStPO, 1. Auflage, EMRK Art. 6 Rn. 209). Ein Anlass, den Begriff der „Erforderlichkeit der Rechtspflege“ in der PKH-Richtlinie anders zu interpretieren besteht nicht, zumal in den Vorbemerkungen der Richtlinie ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Bezug genommen wird. Zur Verfahrensgerechtigkeit in diesem Sinne gehört es aber, die Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers danach zu treffen, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und ein entsprechender Antrag rechtzeitig gestellt wurde.“

Damit sind es dann insgesamt drei OLG, die die Frage zutreffend entscheiden.

Aus der übrigen, also der LG und AG-Rechtsprechung habe ich dann noch den LG Magdeburg, Beschl. v. 11.01.2023 – 25 Qs 712 Js 39489/22 (91/22). Das LG Magdeburg hat es schon immer richtig gemacht.