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Zur Erstattung von Corona-Desinfektionskosten, oder: AG Altena, AG Heinsberg. LG Aachen, LG Hamburg: Ja

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Und heute dann zum letzten Mal in 2021 der „Kessel Buntes“, denn am nächsten Samstag ist der 1. Weihnachtsfeiertag und dann ist das Jahr auch schon vorbei.

Ich stelle hier dann zunächst vier Entscheidungen zur Erstattung von Desinfektionkosten vor, und zwar:

Alle vier Gerichte haben die Desinfektionskosten erstattet, ich erspare mir hier die Einzelheiten, sondern ordne das Selbstleseverfahren an. Das LG Hamburg hat die Revision zugelassen, vielleicht hören wir dann ja mal etwas vom BGH dazu.

Doe Volltexet zu AG Heinsberg und LG Aachen findet man übrigens nicht bei mir, sondern beim Kollegen Frese aus Heinsberg. Ich habe auf die von ihm eingestellten Entscheidungen verlinkt. Ging schneller 🙂 .

 

Selbständiges Einziehungsverfahren nach § 29a OWiG, oder: Abrechnungsvariante 4.0

entnommen openclipart.org

In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage, welche Gebühren der Rechtsanwalt abrechnen kann, der den Betroffenen allein im selbständigen Einziehungsverfahren nach § 29a OWiG verteidigt hat, wenn eine Geldbuße nicht festgesetzt worden ist, umstritten. Das LG Hamburg hat zu den bislang vertretenen Auffassungen nun mit dem LG Hamburg, Beschl. v. 18.10.2021 – 612 Qs 100/20 – noch eine weitere Abrechnungsvariante hinzugefügt. Da der Beschluss mit rund 16 Seiten (!) ein Mammutbeschluss ist, gibt es hier dann nur eine Zusammenfassung:

Einig ist sich die Rechtsprechung in diesen Fällen, dass aufgrund der anwaltlichen Tätigkeit des Verteidigers im Einziehungsverfahren vor dem Gericht des ersten Rechtzugs die Verfahrensgebühr Nr. 5116 Abs. 1 VV RVG entstanden ist.

Die Frage, ob im Rahmen eines selbstständigen Einziehungsverfahren nach § 29a OWiG, bei dem der Verteidiger allein im Einziehungsverfahren tätig wird und eine Geldbuße nicht festgesetzt worden ist, neben dem Gebührentatbestand der Nr. 5116 VV RVG zusätzlich zum einen die Grundgebühr nach Nr. 5100 VV RVG, aber auch die weitere Vergütung nach den Nr. 5101-5114 VV RVG anfallen kann, wird aber dann sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur uneinheitlich beurteilt, und zwar wie folgt:

  • Nach einer Ansicht sollen für die anwaltliche Tätigkeit in diesen Fällen allein die Gebühren nach Nr. 5116 VV RVG entstehen (OLG Karlsruhe AGS 2013, 173 = RVGreport 2012, 301 = StRR 2012, 279 = VRR 2012, 319 m. jew. abl. Anm. Burhoff; LG Kassel RVGreport 2019, 343; LG Koblenz AGS 2018, 494 = RVGreport 2018, 386; Krumm, in: Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, Vorbemerkung 5 Rn. 3),
  • Nach anderer Ansicht sollen sowohl die Gebühr nach Nr. 5100 VV RVG als auch die Gebühren Nr. 5101-5114 VV RVG anfallen (LG Karlsruhe AGS 2013, 230 = VRR 2013, 238 = RVGreport 2013, 234 = DAR 2013, 358 = RVGprofessionell 2013, 119 = StRR 2013, 310; LG Oldenburg AGS 2014, 65 = JurBüro 2013, 135 = RVGreport 2013, 62 = VRR 2013, 159 = StRR 2013, 314 = RVGprofessionell 2013, 153; LG Stuttgart RVGreport 2020, 347 = DAR 2020, 358 = RVGprofessionell 2020, 131; LG Trier, RVGreport 2016, 385 = VRR 10/2016,20; Burhoff, in: Gerold/Schmidt, 25. Aufl. 2021, RVG W 5116 Rn. 1; Knaudt, in: BeckOK RVG, 53. Ed. 1.9.2021, RVG VV Vorbemerkung 5 Rn. 5.1).
  • Nach einer vermittelnden Ansicht können neben der Verfahrensgebühr 5116 VV RVG auch die Grundgebühr nach Nr. 5100 VV RVG, nicht aber die weiteren Gebühren für anwaltliche Tätigkeiten im Verwaltungsverfahren und gerichtlichen Verfahren nach Nr. 5101 – 5114 VV RVG geltend gemacht werden (LG Freiburg AGS 2020, 122 = StRR 6/2020, 31 = JurBüro 2020, 130 = RVGprofessionell 2020, 69 = RVGreport 2020, 461).

Das LG Hamburg toppt das nun noch und fügt noch eine Variante 4 hinzu: Es geht nämlich für diese Fälle davon aus,

  • dass neben der Gebühr nach Nr. 5116 VV RVG sowohl die Grundgebühr (Nr. 5100 VV RVG) als auch die Gebühren für das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde (Nr. 5101 – 5106 VV RVG) anfallen können, nicht hingegen die Gebühren für das gerichtliche Verfahren im ersten Rechtszug nach Nr. 5107 – 5114 VV RVG. Das Entstehen der Grundgebühr Nr. 5100 VV RVG begründet das LG mit der Systematik des Teils 5 VV RVG, dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen und dem Regelungszweck der Nr. 5116 VV RVG im Einziehungsverfahren.
  • Nach Auffassung des LG besteht grundsätzlich auch ein Anspruch auf Gewährung der Verfahrensgebühr im Verwaltungsverfahren (Nr. 5101-5106 VV RVG). Dies folgt für das LG wiederum aus dem Wortlaut und der Systematik der gesetzlichen Vergütungsverzeichnisse, insbesondere aus der Zusammenschau aus Vorbem. 5 Abs. 1 VV RVG und Vorbem. 5.1 Abs. 2 Satz 2 VV RVG.
  • Nach Auffassung des LG verdient der Verteidiger des Betroffenen im selbständigen Einziehungsverfahren ohne Geldbuße jedoch keine Gebühren für das gerichtliche Verfahren nach Nr. 5107 – 5112 VV RVG. Insofern mangelt es aufgrund des fehlenden festgesetzten Bußgeldes an einer mit Vorbem. 5.1 Abs. 2 VV RVG vergleichbaren Regelung, die auch bei gerichtlichen Verfahren eine Orientierung am mittleren Betrag der in der Bußgeldvorschrift angedrohten Geldbuße erlaubt. Eine analoge Anwendung der Vorbem. 5.1 Abs. 2 Satz 2 VV RVG scheidet nach Auffassung des LG aus, da deren Voraussetzungen nicht vorliegen.

Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum man nun noch eine Variante 4 entwicklen muss(te). Denn die entschiedene Frage ist weitgehend ausdiskutiert, wie die o.a. zahlreichen Rechtsprechungsnachweise zeigen.  Zumal von den Gerichten, die auch die Gebühren für das gerichtliche Verfahren gewähren (LG Karlsruhe, LG Oldenburg, LG Stuttgart, LG Trier, jeweils a.a.O.) überzeugend dargelegt worden ist, dass und warum eine analoge Anwendung der Regelung der Vorbem. 5.1 Abs. 2 Satz 2 VV RVG möglich und sinnvoll ist (Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O. Nr. 5116 Rn. 1 und Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, 6. Aufl. 2021, Nr. 5115 VV Rn 5).

Pflichti II: Und nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Dissens in Hamburg

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Im zweiten Posting dann ein Beschluss zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers. Das LG Hamburg hat die im LG Hamburg, Beschl. v. 15.7.2021 – 622 Qs 22/21 – anders als das übergeordnete OLG – bejaht, und zwra mit folgender Begründung:

„In der sowohl von dem Amtsgericht Hamburg-St. Georg in dem angefochtenen Beschluss als auch von Rechtsanwalt pp. in Bezug genommenen Entscheidung des OLG Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962-963/20) wird die Auffassung vertreten, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers jedenfalls dann zulässig sei, wenn die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung über den Beiordnungsantrag wesentlich verzögert wurde (so auch OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21, und LG Regensburg, Beschluss vom 30.Dezember 2020 — 5 Qs 188/20).

In Anbetracht der erfolgten Gesetzesänderung und der damit verbundenen Stärkung der Rechte des Beschuldigten schließt sich die Kammer unter den hier gegebenen besonderen Umständen des Falls der Ansicht des OLG Nürnberg an und erachtet es ausnahmsweise für zulässig, auch rückwirkend für den Zeitraum ab Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Das OLG Nürnberg stützt seine Ansicht unter anderem nachvollziehbar auf die der Gesetzesänderung zugrundeliegenden „PKH-Richt-linie“ RL 2016/1919/EU, insbesondere deren Art. 4, wonach die Bezahlung des Rechtsbeistandes mittelloser Beschuldigter durch die Mitgliedstaaten rechtzeitig und praktisch wirksam sichergestellt werden soll. Eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten als deklariertes Regelungsziel würde jedoch unter-laufen, wenn eine Pflichtverteidigung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (weitergehend OLG Bamberg aaO: Das Gericht zieht für die Richtigkeit seiner Auffassung über die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers eine Parallele zur ausnahmsweise zulässigen rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach den Vorschriften der StPO und ZPO). Die vom Hanseatischen Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20 geführte Argumentation gegen diese die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 heranziehende Ansicht verfängt zur Überzeugung der Kammer für den hier vorliegenden Fall einer offensichtlichen Verzögerung der Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung nicht. Dieser Entscheidung lag einerseits erkennbar kein Fall der verzögerten Pflichtverteidigerbestellung zugrunde. Das Argument, dass die Richtlinie keineswegs vorsieht, den Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten, gar nach rechtskräftig erfolgter kostenpflichtiger Verurteilung noch eine Beiordnung eines Verteidigers vorzunehmen, kann andererseits schon deshalb nicht auf hiesigen Fall übertragen werden, weil hier keine kostenpflichtige Verurteilung als verfahrensabschließende Maßnahme ergangen ist.

Auch der Umstand, dass die im Zuge der gesetzlichen Neuregelung bisher statthafte einfache Beschwerde durch die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO ersetzt worden ist, legt nahe, dass gesetzgeberische Intention eine schnelle Bestellungsentscheidung war, was überdies auch durch das neu gefasste Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO zum Ausdruck kommt (OLG Nürnberg aaO).

…..“.

Und aus dem „Lager“ derjenigen Gericht, die eine nachträgliche Bestellung immer noch ablehnen, hier nur der Hinweis auf:

„Die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht haben sich um eine schnelle Bescheidung des Antrages zu bemühen. Zwar liegt eine ungebührliche Verzögerung der Bearbeitung im vorliegenden Fall nach Ansicht der Kammer noch nicht vor. Hingegen erschließt sich der Kammer nicht, warum mit der Übersendung der Akte an das Amtsgericht am 09.06.2021 nicht bereits eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgte, obwohl die Voraussetzungen bereits vorlagen und ein solches Vorgehen bereits beabsichtigt war. Sofern die Voraussetzungen für eine bereits erfolgte Bestellung entfallen sollte, könnte die Bestellung nach § 143 StPO aufgehoben werden.2

Dieser „Mahnung“ folgen doch im Zweifel keine Taten.

Pflichti I: Und immer wieder nachträgliche Beiordnung, oder: Was heißt „unverzügliche“ Antragsweiterleitung?

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Heute dann wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen. Der Strom von Entscheidungen reißt nicht ab – auf das die Sammlung anwächst.

Ich stelle dann zunächt wieder einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung vor. Zunächst weise ich hin auf den LG Halle, Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Qs 41/21. Das LG teilt der Staatsanwaltschaft mehr als deutlich mit, was es davon hält, wenn ein Beiordnungsantrag nicht „unverzüglich“ an das Gericht weitergeleitet wird und wann eine Weiterleitung nicht mehr „unverzüglich“ ist, nämlich:

Die Weiterleitung eines Antrags auf Beiordnung als Pflichtverteidiger drei Wochen nach Antragstellung – ist auch unter Berücksichtigung einer Prüfungs- und Überlegungsfrist nicht unverzüglich im Sinne von §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. 1 Satz 2 StPO.

Ebenso deutlich der LG Halle, Beschl. v. 20.04.2021 – 10a Qs 42/21. Auch da hatte die StA den Beiordnungsantrag rund sechs Wochen liegen lassen und dann eingestellt. Das LG meint: So nicht. Und dann – aller guten Dinge sind drei – noch einmal das LG Halle im LG Halle, Beschl. v. 20.04.2021 – 10a Qs 43/21. In allen drei Beschlüssen weist das LG übrigens darauf hin, dass auch die Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, wonach eine Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, zu keinem anderen Ergebnis führt. Diese Regelung gilt nur für den Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers ohne Antrag nach § 141 Abs. 2 StPO.

Richtig wird dann aber nicht nur in Halle entschieden, sondern auch beim LG Hamburg, wie sich aus dem LG Hamburg, Beschl. v. 21.05.2021 -601 Qs 18/21 – ergibt. Das LG macht es – zumindest teilweise anders – als das „überordnete“ OLG.

Anders als die wohl zumindest h.M. in der landgerichtlichen Rechtsprechung macht es das LG Bonn im LG Bonn, Beschl. v. 18.05.2021 – 63 Qs 41/21. Das sieht die nahcträgliche Beiordnung als unzulässig an und bemüht mal wieder das Kostenargument. Dabei wird m.E. immer übersehen, dass es letztlich nicht auf die Frage der „Bedürftigkeit“ des Beschuldigten ankommen kann. Denn der muss ja nach Nr. 9007 KV GKG die Kosten des Pflichtverteidigers tragen, wenn er verurteilt wird.

Pflichti I: „Unverzüglich“ bedeutet: „eine Woche“, oder: Rückwirkende Bestellung

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Heute dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich starte mit dem m.E. sehr schön begründeten LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2021 – 12 Qs 22/21 –, der sich noch einmal mit den Fragen der nachträglichen Beiordnung befasst. Der Beschuldigte hatte sich in anderer Sache in Haft befunden, so dass ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorlag. Über den Beiordnungsantrag des Beschuldigten war aber nicht entschieden und nach Aufhebung des Haftbefehls wurde die Beiordnung dann abgelehnt. Dazu das LG, dessen Entscheidung man auch zusammenfassen könnte mit: „So nicht.“:

„2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger beizuordnen.

a) Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegen vor. Nach dieser Vorschrift ist der Fall einer notwendigen Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet, was auch die Straf- und Untersuchungshaft umfasst (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 16). Unerheblich ist dabei, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes gleichzeitig geführtes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch den Vollzug der Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt. (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).

Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), beide in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.

Vom weggefallenen systematischen Argument abgesehen ist eine andere Bewertung mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine Einschränkung im Hinblick auf Anlass oder Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (ABl. L 297/1 vom 4. November 2016, fortan: PKH-Richtlinie), deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).

Damit war es für die Pflichtverteidigerbestellung grundsätzlich ausreichend, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt der Antragstellung am 19. Februar 2021 in Untersuchungshaft in anderer Sache befand.

b) Für die Bestellung ist im gegebenen Fall unschädlich, dass der Grund der notwendigen Verteidigung im Zeitpunkt der amtsrichterlichen Entscheidung über den Antrag am 6. April 2021 bereits entfallen war.

aa) Zur früheren Rechtslage war weitgehend anerkannt, dass eine Pflichtverteidigerbestellung nur für die Zukunft möglich ist, da die Beiordnung dem Zweck einer zukünftigen ordnungsgemäßen Verteidigung und nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder einem Vergütungsanspruch des Verteidigers gegen die Staatskasse dient (Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 19).

bb) Nach Auffassung der Kammer gilt das nicht mehr uneingeschränkt für die neue Rechtslage. Vorliegend hatte die Beiordnung nachträglich zu erfolgen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des OLG Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 120/20, juris; ähnlich LG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2021 – 604 Qs 6/21, BeckRS 2021, 6859 Rn 9; LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 – II-10 Qs 6/20, juris Rn. 42 m.w.N.) geht die Kammer davon aus, dass im Lichte der PKH-Richtlinie eine nachträgliche Verteidigerbestellung nicht versagt werden kann, wenn die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde.

(1) Befindet sich der Beschuldigte – wie hier – in einer Anstaltsunterbringung, wird ihm, wenn er noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald diese Unterbringung bekannt wird (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO; ein Ausnahmefall gem. Abs. 2 Satz 3 der Vorschrift lag hier nicht vor). Dem Fall, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat, steht dabei gleich, dass der gewählte Verteidiger – wie hier – bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen (vgl. BT-Drs. 19/13829, 36).

Die sachbearbeitende Staatsanwältin erhielt Kenntnis vom aktuellen Freiheitsentzug des Angeklagten spätestens am 10. Februar 2021, als sie die von der polizeilichen Ermittlung zurückgelaufene Akte, in der die Untersuchungshaft des Angeklagten in der Haftsache deutlich vermerkt war, zur Akteneinsicht an Rechtsanwalt P. verfügte. Am 22. Februar 2021 ging sodann der Beiordnungsantrag des Rechtsanwalts bei der Staatsanwaltschaft ein. Damit hatte die Staatsanwaltschaft gem. § 142 Abs. 2 i.V.m. § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ihrerseits den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung „unverzüglich“ zu stellen, wenn sie nicht nach § 142 Abs. 2 StPO vorgehen wollte. Nach letztgenannter Bestimmung kann die Staatsanwaltschaft in Eilfällen selbst über die Bestellung entscheiden, was sie sich dann binnen Wochenfrist vom Gericht bestätigen lassen muss.

Die Strafprozessordnung definiert den Begriff der Unverzüglichkeit nicht. Ausweislich der Gesetzesmaterialien bedeutet unverzüglich zwar nicht sofort, die Bestellung muss aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Drs. 19/13829, 37). Diese Begriffsbestimmung nähert sich damit dem allgemeinen juristischen Verständnis der Unverzüglichkeit als „ohne schuldhaftes Zögern“ (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB; ähnlich LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 – II-10 Qs 6/20, juris Rn. 30). Diese Auslegung steht im Einklang mit der vorrangigen und europarechtlich autonom auszulegenden PKH-Richtlinie. Nach deren Art. 6 Abs. 1 Satz 1 sind die Entscheidungen über die Bestellung von Rechtsbeiständen unverzüglich zu treffen. Dem im obigen Sinn verstandenen „unverzüglich“ der deutschen Sprachfassung der Richtlinie entsprechen gleichsinnig in der englischen Fassung „without undue delay“, in der französischen „sans retard indu“, in der italienischen „senza indebito ritardo“ oder in der polnischen „bez zb?dnej zw?oki“.

(2) Der – hier nicht aktivierten – Bestimmung des § 142 Abs. 4 Satz 2 StPO kann die konkretisierende Wertung entnommen werden, dass Unverzüglichkeit bei Wahrung der Wochenfrist noch bejaht werden kann; darüber hinaus jedoch nicht mehr (so schon zum alten Recht Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 141 Rn. 19). Die Kammer hält diese Wertung jedenfalls auf den hier gegebenen Fall einer auf § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO beruhenden notwendigen Verteidigung regelmäßig für anwendbar. Zumindest bei einem im Inland vollzogenen und aktenkundigen Freiheitsentzug ist eine darüber hinaus gehende längere Prüfungsfrist des Beiordnungsgrundes sachlich nicht erforderlich.

(3) Die Wochenfrist – zwischen Eingang des Beiordnungsantrags des Verteidigers und der Abschlussverfügung, die den Beiordnungsantrag der Staatsanwaltschaft an das Gericht enthielt – wurde hier durch die Staatsanwaltschaft um mehr als das Doppelte überschritten, ohne dass aus der Akte nachvollziehbare Gründe hierfür erkennbar würden. Damit liegt eine nicht gerechtfertigte Verzögerung vor.

(4) Folge des Verstoßes gegen das Unverzüglichkeitsgebot ist hier, dass die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend zu erfolgen hat. Das ist notwendig, um ein Unterlaufen des Zwecks der PKH-Richtlinie zur effektiven Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten durch eine Verzögerung oder Untätigkeit auf Justizseite zu verhindern (OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 120/20, juris Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 142 Rn. 20; vgl. auch den 1. Erwägungsgrund der PKH-Richtlinie). Nur ein solches Verständnis stellt die praktische Wirksamkeit („effet utile“, dazu etwa Mayer in Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV, 71. EL August 2020, Art. 19 Rn. 57 f.; Nachweise zur Rechtsprechung des EuGH bei Potacs, EuR 2009, 465, 467 f.) der unionsrechtlichen Mindeststandards der PKH-Richtlinie (vgl. dazu deren 16. und 30. Erwägungsgrund) sicher.

(5) Die Kammer sieht sich mit vorliegender Entscheidung in Übereinstimmung mit den Erwägungen des OLG Nürnberg in dessen zitiertem Beschluss vom 6. November 2020. Sofern im dortigen Leitsatz die Pflichtverteidigerbestellung an eine „wesentliche“ Verzögerung anknüpft, versteht die Kammer das nicht als eine zusätzliche Voraussetzung für die Beiordnung – dafür geben die dortigen Beschlussgründe nichts her –, sondern als Bezugnahme auf den konkret vom Strafsenat entschiedenen Sachverhalt, in dem die eingetretene Verzögerung evident wesentlich war.“

Und dann für die Sammlung aus dem inzwischen unüberschaubaren Reservoir der Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung:

Für mich nicht nachvollziehbar und klar gegen Sinn und Zweck der Neuregelung.