Schlagwort-Archive: LG Bielefeld

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Topp vom LG Hamburg, Flop vom LG Bielefeld

Bild von Tumisu, please consider ? Thank you! ? auf Pixabay

Und zum Tagesschluss dann noch zwei Entscheidungen zum Dauerbrenner: Rückwirkende Bestellung. Einmal Topp vom LG Hamburg, das die Frage anders sieht als das „übergeordnete“ OLG Hamburg, und einmal Flop vom LG Bielefeld, das sich der falschen Auffassung angeschlossen hat, die eine rückwirkende Bestellung ablehnt.

Da die Argumente ausgetauscht sind, reichen m.E. die Leitsätze – allerdings: Der Beschluss der LG Hamburg ist lesenswert:

    1. Jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers ordnungsgemäß vor Abschluss/Einstellung des Verfahrens gestellt und über ihn allein aufgrund justizinterner Verzögerungen in einer gegen das Unverzüglichkeitsgebot im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO verstoßenden Weise nicht entschieden worden ist, ist eine rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger zulässig.
    2. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch dann Anwendung, wenn gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft in einem anderen Verfahren vollstreckt wird.
    3. Unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, d. h. ohne sachlich nicht begründete Verzögerung, erfolgen muss.

Es ist – der obergerichtlichen Rechtsprechung folgend – daran fest zu halten, dass eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein abgeschlossenes Verfahren oder einen abgeschlossenen Instanzenzug unzulässig ist. Dies gilt weiterhin auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde und in der Sache hätte Erfolg haben können.

Zu der Entscheidung ist anzumerken: Die Formulierung: „Soweit in der Rechtsprechung – nunmehr auch mit Blick auf den mit dem am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I. S. 2128 ff.) verfolgten Zweck — vereinzelt erwogen wird unter besonderen Umständen sei eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen, ….“ halte ich angesichts der Zahl der Entscheidungen/Gerichte, die die Frage anders sehen, als das LG für – gelinde ausgedrückt „keck“. Aber das kommt eben dabei heraus, wenn man auf Rechtsprechung des BGH aus 1996 zurückgreift…..

StPO I: Vier Pflichtverteidigungsentscheidungen, oder: 3 x rückwirkende Bestellung, 1 x Betreuung

© fotomek – Fotolia.com

So, heute dann ein StPO-Tag.

Zunächst stelle ich Pflichtverteidigungsentscheidungen vor.

Ich beginne mit drei Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, dem Dauerbrenner zum neuen Recht, und zwar:

Als zulässig angesehen haben die rückwirkende Bestellung:

Als unzulässig angesehen hat die rückwirkende Bestellung, was unzutreffend ist und bleibt:

Und zu den Beiordnungsgründe der LG Schwerin, Beschl. v. 30.09.2021 – 31 Qs 56/21 – mit folgendem Leitsatz:

Einem Beschuldigten ist ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er unter einer besonders umfassenden Betreuung steht, so dass von einer fehlenden Verteidigungsfähigkeit auszugehen ist. Die Betreuung kann als umfassend eingestuft werden, wenn ihr Aufgabenkreis umfasst Behörden-, Versicherungs-, Renten- und Sozialleistungsangelegenheiten, die Entgegennahme, das Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise, Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, Hilfe zum Lebensunterhalt, und Leistungen aus der Sozialversicherung, Gesundheitssorge, Vermögenssorge mit Einwilligungsvorbehalt und Wohnungsangelegenheiten umfasst.

StrEG II: Ausschluss des Entschädigungsanspruchs, oder: Zeitpunkt für Beurteilung grober Fahrlässigkeit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

In der zweiten Entscheidungen zur Entschädigung nach dem StrEG, dem LG Bielefeld, Beschl. v. 18.05.2021 – 8 Qs 175/21 – nimmt das LG (noch einmal) zum Ausschluss des Entschädigungsanspruch nach § 5 Abs. 2 StrEG Stellung.

Am 18.03 2020 hatten Polizeibeamte Führerschein, Kraftrad nebst Schlüssel und Fahrzeugschein des Betroffenen wegen des Verdachts sicher gestellt, dass dieser sich mit einem weiteren ehemaligen Beschuldigten gemäß § 315d Abs.1 Nr.3 StGB eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens strafbar gemacht habe.  Am 04.05.2020 wurde dann von der StA – nach verzögwerter/verspäteter Bearbeitung (endlich) beim AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis und die richterliche Bestätigung der Führerscheinbeschlagnahme beantragt. Diesen Antrag hat das AG am 19.06.2020  abgelehnt, weil – auch wenn von einer nicht angepassten Geschwindigkeit im Straßenverkehr ausgegangen werde – ein dringender Tatverdacht hinsichtlich einer Straftat, die eine endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB rechtfertige, nicht gegeben sei. Die hiergegen eingelegte Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist als unbegründet verworfen worden.

Nachdem die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren dann gemäß § 170 Abs.2 StPO  eingestellt hatte, hat dieser beantragt, die Entschädigungspflicht des Landes wegen der Sicherstellung seines Führerscheins und seines Kraftrades nebst Schlüssel und Fahrzeugschein für die Zeit vom 18.03.2020 bis zur Herausgabe am 26.06.2020 festzustellen.

Das hat das AG für den Zeitraum vom 15.05.2020 bis zum 26.06.2020 festgestellt und den weitergehenden Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, eine Entschädigung sei gemäß § 5 StrEG ausgeschlossen, weil der Betroffene durch sein verkehrswidriges Verhalten die Strafverfolgungsmaßnahme grob fahrlässig verursacht habe; lediglich für den Zeitraum der Sicherstellung, der auf die verspätete Bearbeitung des Verfahrens zurückzuführen sei, sei eine Entschädigung zu gewähren.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die das LG als begründet angesehen hat.

„Aufgrund der Einstellung des gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahrens steht dem Betroffenen als ehemals Beschuldigten gemäß § 2 StrEG eine Entschädigung aus der Staatskasse insoweit zu, als er durch die Beschlagnahme seines Führerscheins und die Sicherstellung seines Kraftrades nebst Schlüssel und Fahrzeugschein einen Schaden erlitten hat.

Die Entschädigung ist nicht gemäß § 5 Abs.2 StrEG ausgeschlossen, weil der Betroffene diese Strafverfolgungsmaßnahmen vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hätte.

Für die Beurteilung kommt es auf die Umstände an, die zum Zeitpunkt der Anordnung, bzw. Aufrechterhaltung der Strafverfolgungsmaßnahme bekannt waren.

Es kann auch in den Taten selbst, die Gegenstand der Ermittlungen sind, ein Verhalten gesehen werden, welches einen Entschädigungsausschluss begründet (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. zu § 5 StrEG Rz.7; Cornelius in Graf, StPO, 3. Aufl., zu § 5 StrEG Rz10). Allerdings ist dann zu fordern, dass die Taten festgestellt sind (Cornelius, a.a.O.; OLG Celle NStZ-RR 2011, 223).

Das zum Entschädigungsausschluss führende Verhalten muss positiv feststehen; der Umstand, dass die gegen den Beschuldigten sprechenden Verdachtsgründe von den Strafverfolgungsorganen für ausreichend gehalten werden, ihn der angelasteten Tat überführen zu können, reicht für die Zurechnung des Vollzugs der Strafverfolgungsmaßnahme allein noch nicht aus ( Meyer, StrEG, zu § 5 Rz .38).

Auf der Basis des in der polizeilichen Strafanzeige vom 18.03.2020 aufgeführten Ermittlungsstands erfüllt die Fahrweise des Betroffenen keinen Tatbestand, der eine Entziehung seiner Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB rechtfertigen könnte. Insoweit wird auf die ausführlichen Gründe des amtsgerichtlichen Beschlusses vom 19.06.2020 (Bl. 58-60 d.A.), mit dem die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis abgelehnt worden ist, und die ergänzende Begründung in dem auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ergangenen Beschluss der Kammer vom 09.10.2020 verwiesen.

Der Betroffene hat eine zeitweise Überschreitung von 50 km/h lediglich für möglich erachtet. Der frühere Mitbeschuldigte A., der versetzt hinter dem Betroffenen fuhr, hat eine Geschwindigkeit von über 70 km/h ausgeschlossen.

Eine höhere Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit kann objektiv nicht festgestellt werden; die von den Polizeibeamten beim Nachfahren vorgenommene Geschwindigkeitsschätzung reicht hierfür nicht aus.

Soweit aufgrund der Angaben des Betroffenen ein verkehrsordnungswidriges Verhalten durch Überschreiten der höchstzulässigen Geschwindigkeit und Nichteinhaltung des Rechtsfahrgebots angenommen werden kann, rechtfertigt dies nicht die Versagung einer Entschädigung nach § 5 Abs.2 StrEG wegen grob fahrlässiger Verursachung der Strafverfolgungsmaßnahmen. Der Versagungstatbestand ist aufgrund seines Ausnahmecharakters eng auszulegen, so dass im Zweifelsfall ein Entschädigungsausschluss nicht anzunehmen ist (vgl. KG Berlin, 2 Ws 351/11, Beschluss vom 11.01.2012, zitiert nach juris; Cornelius, a.a.O. zu § 5 Rz 19).

Grob fahrlässig handelt, wer in ungewöhnlichem Maße die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, die eine verständige Person in gleicher Lage aufwenden würde, um sich vor Schaden durch Strafverfolgungsmaßnahmen zu schützen (Cornelius, a.a.O. zu § 5 Rz.17).

Das objektiv sicher feststellbare Fehlverhalten des Betroffenen im Straßenverkehr stellt nicht einen derart gravierenden Sorgfaltspflichtverstoß dar, der geeignet erschiene, die Beschlagnahme seines Führerscheins und die Sicherstellung seines Kraftrades geradezu herauszufordern.“

Geht doch.

Verkehrsrecht I: Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: E-Scooter, Rennen und bedeutender Fremdschaden

Bild von Andreas Breitling auf Pixabay

Heute ist also letzter Arbeitstag vor Weihnachten. Ich habe überlegt, ob ich diesen Mittwoch wie einen Freitag behandeln und daher dann RVG-Entscheidungen bringen soll. Aber das habe ich dann doch gelassen, die verschiebe – so die Planung heute – ich auf den 2. Weihnachtsfeiertag. Da passen die zum „Warmwerden“ ganz gut.

Heute mache ich dann lieber noch einmal Verkehrsrecht. Hier zunächst eine kleine Übersicht zu Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Da haben sich in den letzten Zeit ein paar Entscheidungen angesammelt:

    • AG Dresden, Urt. v. 5.11.2020 – 213 Cs 634 Js 44073/20 – Zur (verneinten) Entziehung der Fahrerlaubnis im Fall einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter. Das AG hat bei einem Angeklagten, der als Ersttäter nachts zu verkehrsarmer Zeit mit einem E-Scooter gefahren ist, von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen und ein Fahrverbot verhängt.
    • Dazu gibt es dann auch noch LG Osnabrück, Beschl. v. 16.10.2020 – 10 Qs 54/20 – aber leider nicht als Volltext.
    • LG Bielefeld, Beschl. v. 8.10.2020 – 8 Qs-401 Js 513/20-231/20 – und AG Bielefeld, Beschl. v. 19.06.2020 – 9 Gs 1985/20, beide zur Annahme der Tatbestandsmerkmale des verbotetenen Kraftfahrzeugrennens/der nicht angepassten Geschwindigkeit in § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB nehmen. AG und LG haben die Entziehung der Fahrerlaubnis abgelehnt. Das LG geht davon aus, dass mit der Messmethode „Nachfahren“ der Nachweis nicht geführt sei.
    • LG Frankfurt/Main, Beschl. v. 10.06.2020 – 5/9a Qs 29/20 – zur Bestimmung des bedeutenden Fremdschadens i.S. von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB. Die Entscheidung ist m.E. falsch. Schon bemerkenswert, wie das LG mal eben mit der Formulierung: „Hierdurch hat der Beschuldigte auch die Verursachung eines bedeutenden Fremdschadens billigend in Kauf genommen, ohne seinen Pflichten aus § 142 StGB nachzukommen. Hieran können auch anderweitige und lediglich vorläufige Schadensschätzungen der Polizeibeamten nichts ändern.“ anders lautende Rechtsprechung zur der Problematik mal eben negiert. Na ja, Frankfurt eben.

Pflichti III: Anhörung im Strafvollstreckungsverfahren, oder: Da muss ein Verteidiger anwesend sein

© Coloures-pic – Fotolia.com

Und die dritte und letzte Entscheidung kommt aus dem Bereich des Vollstreckungsrechts. Der Kollege Brüntrup aus Minden hat mir dem LG Bielefeld, Beschl. v. 06.10.2020 – 3 Qs 326/20 – vor einigen Tagen geschickt.

Ergangen ist die Entscheidung im Vollstreckungsverfahren. Der Mandant des Kollegen ist in einem Verfahren nach einer Verurteilung wegen besonders schweren Raubes zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung angehört worden. Der Kollege Brüntrup, der Wahlverteidiger war, war nicht anwesend. Das LG hat die amtsgerichtliche Entscheidung aufgehoben:

„Die angefochtene Entscheidung verletzt das Recht des Verurteilten auf ein faires Verfahren. Aufgrund der psychischen Erkrankung des Verurteilten und des  eingeholten Gutachtens lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO analog vor.

Mit dieser notwendigen Verteidigung ist es nicht zu vereinbaren, dass die mündliche Anhörung ohne den Verteidiger durchgeführt worden ist. Zwar handelt es sich bei der Anhörung im Vollstreckungsverfahren nicht um eine förmliche Vernehmung im Sinne der §§ 163a, 168c StPO. Jedoch gebietet es der im Rechtsstaatsprinzjp wurzelnde Grundsatz des fairen Verfahrens, dem Verteidiger in entsprechender Anwendung der vorgenannten Vorschriften auch bei der mündlichen Anhörung im Vollstreckungsverfahren die Teilnahme zu gestatten. Dieses Recht hat das Amtsgericht verletzt (vgl. OLG Hamm BeckRS 2015, 19671 ; OLG Köln BeckRS 2006, 1622). Soweit das Amtsgericht ausgeführt hat, der Verteidiger sei nur Wahl- und nicht Pflichtverteidiger, ändert dies an der Tatsache, dass es sich – aus Sicht der Kammer – um eine notwendige Verteidigung handelt, nichts.

Soweit der Verurteilte sich im Anhörungstermin damit einverstanden erklärt hat, angehört zu werden und der Vermerk über die Anhörung seinem Verteidiger zugeleitet wird, führt dies zu keiner anderen Einschätzung. Das Anwesenheitsrecht des Pflichtverteidigers wird durch Erklärungen des Verurteilten nicht berührt. Seine Aufgabe verlangt von ihm, das Verfahren in eigener Verantwortung und unabhängig von dem Verurteilten zu dessen Schutz mitzugestalten (vgl. OLG Hamm a. a. O.; OLG  Köln a. a. O.) Gleiches muss daher für den Wahlverteidiger gelten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, da der Verurteilte auch dann – wie im Falle der erfolgten Beiordnung — nicht in der Lage ist, sich selber zu verteidigen.

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Eine eigene Entscheidung der Kammer kommt wegen der erneut — unter Beteiligung des Verteidigers durchzuführenden Anhörung nicht in Betracht.“

Damit lässt sich argumentieren, wenn es um die Frage der Beiordnung des Rechtsanwalts im Strafvollstreckungsverfahren geht.