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Bewährung III: Widerruf einer Strafe nach Jugendrecht, oder: Wenn der Verurteilte inzwischen erwachsen ist

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Die dritte Entscheidung betreffend Widerruf stammt aus dem Bereich des Jugendrechts.

Der Verurteilte ist durch Urteil des Jugendschöffengerichts wegen gemeinschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Jugendstrafe verurteilt worden, der Rest der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Nachdem der Verurteilte dann wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, hat das AG die Bewährung widerrufen. Auf die sofortige Beschwerde hat das LG Traunstein im LG Traunstein, Beschl. v. 31.03.2021 – Qs 70/21 jug – den Widerrfsbeschluss wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben:

„Die zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten ist begründet.

Es fehlt vorliegend an der gemäß § 58 Abs. 1 Satz 3 JGG erforderlichen Gelegenheit des Verurteilten zur mündlichen Äußerung. Das Amtsgericht Rosenheim hat den Verurteilten mit Schreiben vom 25.01.2021 auf den Antrag der Staatsanwaltschaft Traunstein, die Restjugendstrafe zu widerrufen, hingewiesen und Gelegenheit gegeben, sich zu dem Antrag der Staatsanwaltschaft binnen zwei Wochen ab Zugang dieses Schreibens zu äußern.

Die Vorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 3 JGG findet gemäß § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG auch in Verfahren, wie dem vorliegenden, Anwendung, in dem gegen einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht angewandt wurde; dass der Verurteilte mittlerweile erwachsen ist, ändert hieran nichts (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 08.11.2016 – 3 Ws 396/16). Soweit die Ansicht vertreten wird, dass das Erfordernis der mündlichen Anhörung seine Grenze darin findet, dass der Verurteilte mittlerweile deutlich das Erwachsenenalter erreicht hat, so dass eine erzieherische Einwirkung gar nicht mehr möglich ist, wird auf die Vollendung des 24. bzw. 26. Lebensjahres abgestellt (vgl. BeckOK JGG, 20. Edition, § 6, Rz. 35). Der Verurteilte ist erst 23 Jahre alt. Dem Anhörungserfordernis ist mit dem Anschreiben vom 25.01.2021 nicht Genüge getan, da dieses lediglich als Aufforderung zu einer schriftlichen Stellungnahme verstanden werden kann (vgl. OLG Hamm, a.a.O.).

Der Verstoß gegen die Gewährung der Möglichkeit einer mündlichen Anhörung verhilft der sofortigen Beschwerde gegen den Widerruf zum Erfolg. Ein Nachholen der Anhörung in der Beschwerdeinstanz ist nicht möglich, da der Verurteilte ansonsten eine Instanz verliert (vgl. BeckOK, a.a.O., Rz. 36).“

„Hätten Sie es gewusst?“ 🙂

JGG III: Jugendlicher Beschuldigter aus Guinea nennt Polizeibeamte „Rassisten“, oder: Pflichtverteidiger

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Die dritte JGG-Entscheidung behandelt u.a. Pflichtverteidigungsfragen, sie hätte also auch ganz gut an einem „Pflichti-Tag“ vorgestellt werden können. Aber ich bringe sie heute, damit sie nicht „untergeht“. Denn es handelt sich bei dem LG Bremen, Beschl. v. 28.06.2021 – 41 Qs 243/21 – um eine „sehr schöne“ Entscheidung, die der Kollege Sürig aus Bremen erstritten hat.

Es geht in dem umfangreiche begründeten Beschluss insbesondere um eine Rückwirkungsproblematik. In dem Zusammenhang nimmt das LG aber auch zu einigen anderen Fragen Stellung. Die Entscheidung, die ich wegen ihre Umfangs hier nicht voll einstelle, ist lesenswert. Vor allem auch, weil das LG zur Frage der rückwirkenden Bestellung eines Plfichtverteidigers eine andere Auffassung als das „übergeordnete“ OLG Bremen vertritt. Es geht also 🙂 .

Also: Hier nur die Leitsätze zu der Entscheidung, und zwar:

  1. Die Bezeichnung von Polizeibeamten als „Rassisten“ anlässlich eines konkreten Einsatzes stellt weder eine Verletzung der Menschenwürde noch eine Formalbeleidigung noch eine Schmähkritik dar.

  2. Bei einem zur Tatzeit jugendlichen Beschuldigten ist eine extensive Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO geboten.

  3. Einem aus einem fremden Kulturkreis stammenden, nicht gerichtserfahrenen und nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügenden Jugendlichen führt die Frage, ob die Bezeichnung eines anderen als „Rassist“ eine Beleidigung ist, zu einer schwierigen Rechtslage und macht die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlich.

  4. Liegt im Zeitpunkt der Antragstellung eine Pflichtverteidigerbeiordnung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vor, ist dem Angeschuldigten unverzüglich ein Verteidiger zu bestellen.

  5. Ein Pflichtverteidiger kann dann nachträglich, insbesondere nach Einstellung des Verfahrens bestellt werden, wenn der Antrag auf Beiordnung bereits rechtzeitig vor Verfahrensabschluss gestellt wurde, bereits zuvor eine Bestellung hätte erfolgen müssen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

JGG I: Absehen von der Einziehung im JGG-Verfahren, oder: Kein Ermessen, sondern Frage der Vollstreckung

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Heute stelle ich dann mal Entscheidungen vor, die mit dem JGG zu tun haben.

An der Spitze natürlich der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen, der BGH, Beschl. v. 20.01.2021 – GSSt 2/20. Schon etwas älter, aber vom BGH erst vor ein paar Tagen veröffentlicht.

Das Verfahren zieht sich schon etwas hin. In einem seit 2019 beim 1. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das LG den Angeklagten – einen im Tatzeitraum Heranwachsenden – u.a. t wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung und vielfacher Betrugstaten zu einer Jugendstrafe verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen erbeutete der Angeklagte durch die Taten Geld und Waren im Gesamtwert von etwa 17.000 EUR, wobei dem LG-Urteil zu entnehmen ist, dass er nicht mehr bereichert und vermögenslos ist. Das Landgericht hat angenommen, dass die Einziehungsentscheidung im Jugendgerichtsverfahren namentlich wegen des das Jugendstrafrecht beherrschenden Erziehungsgedankens im Ermessen des Tatgerichts stehe. Auf dieser Basis hat es von der Einziehung des Wertes von Taterträgen abgesehen. Diese würde den Angeklagten entmutigen und der Versuchung aussetzen, erneut Straftaten zu begehen.

Der 1. Strafsenat wollte die gegen die Nichtanordnung der Einziehung gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft verwerfen. Er ist davon ausgegangen, dass aufgrund der neuen Regelungen der Vermögensabschöpfung die Entscheidung über die Einziehung von Taterträgen und des Wertes von Taterträgen (§ 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB) im Jugendstrafverfahren im Ermessen des Tatgerichts (§ 8 Abs. 3 Satz 1 JGG) steht. Die dem LG danach zustehende Ermessensausübung sei  rechtlich nicht zu beanstanden.

Aber: An einer auf diese Rechtsauffassung gestützten Verwerfungsentscheidung hat sich der 1. Strafsenat durch Entscheidungen des 2. und 5. Strafsenats gehindert gesehen, wonach Einziehungsentscheidungen nach § 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB bei Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen im Jugendstrafrecht gleichfalls zwingend anzuordnen seien (vgl. BGH, Urt. v. 21.11.2018 – 2 StR 262/18, NStZ 2019, 221, 222; vom 24.05.2018 – 5 StR 623/17 und 624/17; vom o8.05.2019 – 5 StR 95/19 Beschl. v. 24.01.2019 – 5 StR 475/18). Er hat deshalb gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei diesen Strafsenaten angefragt, ob sie an entgegenstehender Rechtsprechung festhielten. Ferner hat er beim 3. und 4. Strafsenat angefragt, ob dortige Rechtsprechung entgegenstehe und ob gegebenenfalls an dieser festgehalten werde (Beschluss vom 11. 07.2019 – 1 StR 467/18, NStZ 2019, 682 – Anfragebeschluss).

In ihren Antwortbeschlüssen haben der 2. und 5. Strafsenat an ihrer Rechtsprechung festgehalten (Beschlüsse vom 06.05.2020 – 2 ARs 203/19; vom 06.02.2020 – 5 ARs 20/19, NStZ-RR 2020, 124). Der 4. Strafsenat hat mit Beschluss vom 10.03.2020 (4 ARs 10/19, NStZ-RR 2020, 261) unter Bezugnahme auf seinen Beschluss vom 15.01.2019 (4 StR 513/18) geantwortet, dass seine Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung des 1. Strafsenats entgegenstehe und er bei dieser bleibe. In gleicher Weise hat sich der 6. Strafsenat geäußert (Beschl. v.01.12.2020 – 6 ARs 15/20). Rechtsprechung des 3. Strafsenats steht nach dessen Auskunft nicht entgegen (Beschl. v. 16.10.2019 – 3 ARs 11/19).

Deshalb dann die Vorlage zum Großen Senat für Strafsachen (BGH, Beschl. v. 08.07.2020 – 1 StR 467/18). Und der hat nun geantwortet, und zwar wie folgt:

Die Entscheidung über die Einziehung des Wertes von Taterträgen (§ 73c Satz 1 StGB) steht auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht nicht im Ermessen des Tatgerichts.

Die Entscheidung ist also gegen den 1. Strafsenat ausgefallen. Im Zweifel werden/müssen solche Fragen also dann im Rahmen der die Vollstreckung der Einziehungsentscheidung nach § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO entschieden werden.

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: „Einziehung droht“ und zweimal JGG-Verfahren, einmal zum Vergessen

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Heute dann mal wieder ein Pflichti-Tag, und zwar mit drei Bereichen: Beiordnungsgründe, Pflichterverteidigerwechsel und

Ich starte mit den Beiordnungsgründen.

Dazu weise ich zunächst hin auf den kleinen, aber feinen AG Eggenfelden, Beschl. v. 31.05.2021 – Cs 502 Js 5973/21 – zur Beiordnung wegen Schwere der Tat, und zwar:

„Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, weil wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Die „Schwere der Tat“ kann sich auch aus mittelbaren Folgen des Verfahrens ergeben, insbesondere – bei einer Gesamtwürdigung der Umstände – auch eine Einziehung von Wertersatz in sehr großem Umfang. So liegt der Fall hier. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist hier neben der drohenden Geldstrafe von 160 Tagessätzen auch die Auswirkung der mittelbaren Folgen, nämlich insbesondere der drohenden Einziehung von Wertersatz in Höhe von 27.500,00 EUR zu berücksichtigen. Bei dem Einziehungsbetrag handelt es sich um einen Betrag, der annähernd ein Jahresgehalt des Angeschuldigten ausmacht. In der Gesamtschau ist daher – auch ohne Berücksichtigung von bis-her nicht näher dargelegten ausländerrechtlichen Folgen für den Angeschuldigten – die Pflichtverteidigerbestellung geboten.“

Die zweite Entscheidung, der LG Stendal, Beschl. v. 07.05.2021 – 503 Qs 2/21 – behandelt die Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren, die das LG sehr schön begründet:

„Die gem. § 68 JGG i. V. m. §§ 142 Abs. 7, 304, 311 Abs. 2 StPO fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist erfolgreich, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung des Beschuldigten vorliegt. Aufgrund des amtsgerichtlichen Urteils ist derzeit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des § 68 Nr. 5 JGG sowie auch des § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 140 Abs. 2 StPO gegeben.

1. Gem. § 68 Nr. 5 JGG ist unter anderem bei der Erwartung der Verhängung einer Jugendstrafe oder der Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe von Gesetzes wegen ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Zu erwarten ist eine Jugendstrafe, wenn deutlich mehr als ihre bloße Möglichkeit, d. h. mindestens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verhängung besteht. Dabei genügt regelmäßig, wenn sie zur Bewährung ausgesetzt, oder die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung nach den §§ 61 ff. JGG einem nachträglichen Beschluss vorbehalten werden kann (BT-Drs. 19/13837, 59). Aufgrund der gleich belastenden Qualität wird teilweise vertreten, auch die erwartete Entscheidung nach § 27 JGG als einen Fall der notwendigen Verteidigung anzusehen (zust. Kölbel/Eisenberg, JGG, § 68; krit. Heuer u.a., ZJJ 2019, S. 1, 4).

Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Amtsgerichts Gardelegen vom 26.11.2020 besteht im vorliegenden Ermittlungsverfahren in Ansehung des hiesigen Tatvorwurfes und der bisherigen anderweitigen jugendrechtlichen Ahndungen die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Freiheitsentzuges oder die Entscheidung über einen solchen.

2. Daneben ist auch ein Fall der notwendigen Verteidigung über § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 141 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der Tat“ gegeben. Im allgemeinen Strafrecht ist inzwischen anerkannt, dass die „Schwere der Tat“ bei einer Straferwartung von einem Jahr auch dann als erreicht gilt, auch wenn dies erst im Wege der Gesamtstrafenbildung erfolgt (vgl. nur OLG Naumburg BeckRS 2013, 10548).

Für das Jugendrecht folgt hieraus insoweit, dass einbeziehungsfähige Urteile bei der Prognose ebenfalls zu berücksichtigen sind (so schon OLG Köln StV 1991, 151). Vorliegend existiert gegen den Beschuldigten ein bereits rechtskräftiges Urteil, in welchem die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt war, weil noch nicht mit Sicherheit beurteilt werden konnte, ob in den Straftaten des Beschuldigten schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, dass eine Jugendstrafe erforderlich ist (§ 27 JGG). Dieses gem. § 31 Abs. 2 JGG einbeziehungsfähige Urteil wird bei der Prognose über die Straferwartung im hiesigen Verfahren zu berücksichtigen sein.“

Und dann habe ich hier noch den LG Hechingen, Beschl. v. 21.05.2021 – 3 Qs 21/21 jug.. D as LG hebt auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft – habe nur ich den Eidnruck, dass man dort gerne Rechtsmittel einlegt, wenn ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden ist – die amtsgerichtliche Bestellung auf. Der Beschluss ist auch im JGG-Verfahren ergangen, ich würde über ihn lieber das Mäntelchen des Schweigens legen. Denn das LG meint, dass ein Pflichtverteidiger nicht beigeordnet werden muss. Man fragt sich, ob man in Hechingen schon mal was von der „Gesamtbetrachtung“ der potentiellen Beiordnungsgründe gehört hat. Und da meine: Der ehemalige Angeklagte war ein 16-Jähriger, dem eine Trunkenheitsfahrt mit seinem Roller zur Last gelegt worden ist. Gegenstand des Verfahrens war u.a. auch ein SV-Gutachten. Aber das reicht dem LG nicht, denn:

„Die Schwierigkeit der Sachlage kann auch die Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten (OLG Hamm StV 1987, 192; LG Bochum StV 1987, 383; OLG Karlsruhe StV 1991, 199) be-gründen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht jedes in einer Hauptverhandlung zu erörternde Sachverständigengutachten zu einer Pflichtverteidigerbestellung führen kann. Erforderlich ist hier, dass das Gutachten inhaltlich so komplex ist, dass es besonderer Sachkunde oder Einarbeitung bedarf, um sich sachgerecht und gegebenenfalls kritisch mit ihm auseinander zu setzen. Ein solcher komplexer Fall lag jedoch nicht vor. Hier ging es nur um die Frage, wann der vormalige Angeklagte zuletzt vor der Tat Cannabisprodukte konsumiert hat. Die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen sind auch ohne Kenntnis der entsprechenden Grenzwerte verständlich und können auch von einem Laien kritisch hinterfragt werden. Die Vernehmung des Sachverständigen dauerte 15 Minuten. Eine ausführliche, nur von einem Verteidiger zu bewerkstelligende Auseinandersetzung mit dem Gutachten war nicht erforderlich….

….

c) Der vormalige Angeklagte war auch nicht unfähig, sich selbst zu verteidigen.

Hierfür bestehen überhaupt keine Anhaltspunkte. Insbesondere war der vormalige Angeklagte da-zu in der Lage, in einem handschriftlich verfassten Schreiben sinnvoll zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen. Im Jugendstrafverfahren ist zudem auch keine extensive Auslegung dieser Variante des § 140 Abs. 2 StPO geboten (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 24, StPO § 140 Rn. 24).“

Mann, Mann, was denken die da in Hechingen?

Pflichti II: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: Beim AG Erfurt klappt das im JGG-Verfahren

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Die zweite Entscheidung, der AG Erfurt, Beschl. v. 26.02.2021 – 45 Gs 378/21 jug -, den mir die Kollegin Klein aus Weimar geschickt hat, behandelt auch die Frage der nachträglichen Bestellung. Und das AG macht es richtig, und zwar sowohl zur Frage der nachträglichen Bestellung als auch hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Bestellung, und ordnet bei:

„Dem zur Tatzeit Jugendlichen werden Diebstähle am 05.07.2020 und 17.07.2020 zur Last gelegt (vgl. BI. 54 d.A.)

Mit Schreiben vom 05.08.2020 beantragte die Verteidigerin als Pflichtverteidigerin, für den seit dem 22.07.2020 inhaftierten Beschuldigten, beigeordnet zu werden (vgl. BI. 32, 54 d.A). Die Inhaftierung erfolgte auf Grundlage des Sicherungshaftbefehls des Amtsgerichtes Weimar vom 02.06.2020 im Verfahren 2 BRs 117/19 (vgl. BI. 62 d.A).

Mit Verfügung vom 10.12.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Erfurt das Verfahren im Hinblick auf das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichtes Weimar vom 04.09.2019 (AZ: 750 Js 1440/19 – 2 Ls jug) gemäß § 154 Abs.1 StPO ein. Aufgrund des Widerrufs der Bewährung in vorbenannter Sache befindet sich der Beschuldigte bis voraussichtlich 20.03.2021 in der JSA Arnstadt in Haft.

Der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ist zulässig. Der Umstand, dass das Verfahren mittlerweile eingestellt wurde führt nach Neufassung der §§ 140 ff StPO zu keiner anderen Betrachtungsweise, denn einzig maßgebend ist, dass die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen: Das war am 05.08.2020 der Fall.

Der Antrag ist auch begründet, da sowohl die Voraussetzungen des § 140 Abs.1 Nr. 5 StPO n.F., als auch des § 140 Abs.2 StPO vorlagen.

Nach § 140Abs1. Nr. 5 StPO ist dem Beschuldigten, der sich aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Einschränkung nach früherem Recht, dass die Inhaftierung mindesten 3 Monate gedauert haben muss ist weggefallen.

Diese Voraussetzungen    liegen hier vor, denn der Beschuldigte befindet sich seit dem 22.07.2020 in der JSA Arnstadt. Dort erfolgte auch die Durchsicht des Effektenprotokolls um fest-zustellen, ob dort ein Handy aufgeführt ist, dass Gegenstand der Tat vom 05.07.2020 war (vgl. Bl. 54 d.A)

Darüber hinaus liegen hier aber auch die Voraussetzungen des § 140 Abs.2 StPO vor. Danach ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Schwere der Tat dies gebietet.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dabei sind im Jugendstrafrecht die gleichen Grundsätze wie im Erwachsenenstrafrecht anzuwenden (vgl. OLG Hamm, 14.05.2003, 3 Ss 1163/02)

Auch der Wortlaut des § 68 Abs.1 JGG spricht für diese Betrachtungsweise.

Danach ist auch im Jugendstrafrecht grundsätzlich erforderlich, das eine Straferwartung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist. Das mag beim einem drohenden Widerruf einer achtmonatigen Bewährungsstrafe fraglich sein.

Die Staatsanwaltschaft verkennt aber insoweit, dass im Jugendstrafrecht der § 31 JGG zu beachten ist (vgl. OLG Hamm a.a.O.)

Zum Zeitpunkt der Antragstellung, war hier die Anwendung des § 31 JGG zu erwarten, wobei, im Hinblick darauf das die Taten vom 05.07.2020 und 17.07.2020 nach der Verurteilung am 04.09.2019 erfolgten und ein hohes Rückfallintervall vorliegt mit einer Einheitsjugendstrafe von ca. 1 Jahr zu rechnen war.

Dies ergibt sich auch aus dem Beschluss des Amtsgerichtes Arnstadt vom 20.08.2020, durch den die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde (vgl. BI. 62 ff d.A). Dort wird dezidiert das Verhalten des Beschuldigten nach der letzten Verurteilung beschrieben (vgl. BI. 63 d.A.) Der Umstand, dass es sich hier um keine einschlägige Straftat handelt, spielt im Jugendstrafrecht eine untergeordnete Rolle, da der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht.

Nach alldem lagen die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung vor und dem Antrag der Verteidigerin vom 05.08.2020 war stattzugeben.