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Pflichti I: Schwierige Sachlage?, oder: Auswertung eines DNA-Gutachtens im JGG-Verfahren

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Heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag.

In den starte ich mit dem LG Amberg, Beschl. v. 04.02.2021 – 51 Qs 1/21 jug – zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren, wenn es um die Auswertung eines DNA-Gutachtens geht. Das LG hat – anders als das AG – einen Pflichtverteidiger bestellt:

„Es liegt eine notwendige Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG. § 140 Abs. 2 StPO vor. Es ist eine Schwierigkeit der Sachlage gegeben. Diese folgt daraus, dass dem Beschuldigten die Tat nur mittels eines molekulargenetischen Sachbeweises nachgewiesen werden kann. Der Beschuldigte hat sich bisher zur Sache nicht eingelassen. Zeugenaussagen, aus denen sich die Identität des Täters ergeben könnten, liegen nicht vor bzw. sind zumindest nicht aktenkundig. Es wurde lediglich eine DNA-Spur an einem Stein gefunden, bei der es sich um eine Mischspur von mindestens 3 Personen handelt. Das molekulargenetische Gutachten vom 22.07.2020 kam insofern zu dem Ergebnis. dass zwar u.a. sämtliche Allele detektiebar waren, die der Beschuldigte aufweist. Er kommt daher grundsätzlich als Spurenmitverursacher in Frage. Es wird aber auch ausgeführt. dass die Voraussetzungen für eine biostatistische Befundinterpretation nicht gegeben mittels eines molekulargenetischen Sachbeweises nachgewiesen werden kann. Der Beschuldigte hat sich bisher zur Sache nicht eingelassen. Zeugenaussagen, aus denen sich die Identität des Täters ergeben könnten, liegen nicht vor bzw. sind zumindest nicht aktenkundig. Es wurde lediglich eine DNA-Spur an einem Stein gefunden, bei der es sich um eine Mischspur von mindestens 3 Personen handelt. Das molekulargenetische Gutachten vom 22.07.2020 kam insofern zu dem Ergebnis, dass zwar u.a. sämtliche Allele detektierbar waren, die der Beschuldigte aufweist. Er kommt daher grundsätzlich als Spurenmitverursacher in Frage. Es wird aber auch ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine biostatistische Befundinterpretation nicht gegeben seien, da erzielte Ergebnisse zum Teil schwache Signalintensitäten aufweisen würden, sodass grundsätzlich die Möglichkeit einer Fehlapplikation während der PCR bestehe. Darüber hinaus seien unter Einbeziehung nicht reproduzierbarer Zusatzmerkmale unter anderem auch vielfach Merkmale darstellbar gewesen, die Bastian J. aufweise; dieser komme daher grundsätzlich als Mitverursacher infrage. Aus dem erwähnten Gutachten ergibt sich aber auch weiter, dass es offensichtlich 7 Tatverdächtige als Verursacher gibt. Zwar wurden Hinweise auf signifikante DNA-Mengen von den anderen Tatverdächtigen nicht festgestellt. Ob daraus jedoch ohne weitere Anhaltspunkte geschlossen werden kann, dass diese als Täter grundsätzlich ausgeschlossen werden können, erscheint fraglich.

Zwar erfordert das Vorliegen eines Sachverständigengutachten nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Grundsätzlich ist aber im Jugendstrafverfahren eine extensive und großzügige Auslegung der Generalklausel in § 140 Abs. 2 S. 1 StPO geboten. Dies gilt v.a. auch deshalb, weil junge Beschuldigte zur eigenen Verteidigung nur begrenzt in der Lage sind. Auch enthält das JGG u.a. im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§ 3 S. 1 JGG), der Rechtsfolgenspanne sowie speziell der Rechtsmittelbeschränkung (§ 55) durchaus komplizierte Sonderregelungen. Prinzipiell ist ein Verteidiger daher umso eher notwendig, je jünger der Beschuldigte ist (zum Ganzen: Eisenberg/Kölbel, 21. Aufl. 2020, JGG § 68 Rn. 23 m.w.N.). Aufgrund der aufgezeigten Problematik hinsichtlich des Tatnachweises, wobei ein derartiges Gutachten für einen juristischen Laien nicht leicht verständlich ist, und des noch jungen Alters des Beschuldigten ist daher bezogen auf den vorliegenden Einzelfall die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich (vgl. Auch LG Aachen Beschl. v. 8.7.2020 — 62 Qs-111 Js 146/20-41/20, BeckRS 2020, 33074).“

Der StA gefällt die Eröffnungsentscheidung nicht, oder: Beschwerde zulässig?

Und zum Schluss des Tages weise ich dann noch hin auf den LG Bielefeld, Beschl. v. 25.04.2019 – 3 Qs 123/19, den mir der Kollege Brüntruo aus Minden vor einiger Zeit geschickt hat.

Es geht um ein BTM-Verfahren gegen einen Jugendlichen, in dem die StA mit der Eröffnungsentscheidung des Jugendschöffengericht nicht einverstanden war und dagegen Beschwerde eingelegt hat. Damit ist sie dann aber gescheitert:

„Die Beschwerde ist teilweise schon unzulässig und im Übrigen unbegründet.

Soweit sich die Staatsanwaltschaft gegen die Eröffnung mit einer abweichenden rechtlichen Qualifizierung der Tat zu Ziffer 2 der Anklageschrift wendet, ist die Beschwerde unzulässig. Es liegt keine teilweise Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens und mithin kein Fall des § 210 Abs. 2, 1. Alt. StPO vor. Eine solche teilweise Ablehnung kann nur wirksam bezüglich einer im verfahrensrechtlichen Sinne selbstständigen Tat ergehen (vgl.. LG Zweibrücken, BeckRS 2013, 3688). Das Amtsgericht hat vorliegend die Anklage lediglich mit einer abweichenden rechtlichen Würdigung zugelassen. In diesen Fällen besteht kein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft, da es sich nur um eine vorläufige Tatbewertung handelt und die Staatsanwaltschaft — sollte es bei der abweichenden Würdigung bleiben — ihren abweichenden Standpunkt in der Hauptverhandlung und eventuell mittels einer Berufung oder Revision geltend machen kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 210, Rn. 5; OLG München NStZ 1986, 183).

Soweit sich die Beschwerde auch — wovon die Kammer ausgeht — gegen die Eröffnung des Verfahrens vor dem Amtsgericht — Jugendrichter — Rahden wendet, ist sie zwar zulässig, in der Sache aber unbegründet.

Auch wenn in der Beschwerdebegründung die Eröffnung des Verfahrens vor dem Jugendrichter nicht explizit erwähnt wird, geht die Kammer davon aus, dass mit der Beschwerde auch diese Entscheidung angegriffen werden soll. Eine abweichende Beschränkung enthält die Beschwerdebegründung nicht. Zudem kann das jeweilige Delikt auch im Jugendstrafrecht Auswirkungen auf die für die Zuständigkeit maßgebliche, zu erwartende Strafe haben.

In der Sache ist die Beschwerde jedoch insoweit unbegründet. Das Amtsgericht ­Jugendschöffengericht – Minden hat das Verfahren zu Recht vor dem Jugendrichter eröffnet. Dieser ist gemäß § 39 JGG zuständig, Soweit eine Anklage beim Jugendschöffengericht erhoben wurde, handelt es sich trotz des der Staatsanwaltschaft zustehenden Beurteilungsspielraums um eine in vollem Umfang überprüfbare Prognoseentscheidung. Diese führt vorliegend aus Sicht der Kammer zu einer Zuständigkeit des Jugendrichters.

Gemäß § 39 Abs. 1 JGG ist der Jugendrichter für Verfehlungen Jugendlicher zuständig, wenn nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder zulässig Nebenstrafen und Folgen oder die Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten sind. § 39 JGG gilt auch für Heranwachsende, soweit die Anwendung von Jugendstrafrecht zu erwarten ist. Dies ist hier der Fall. Der Angeklagte war zu den Zeitpunkten der ihm zur Last gelegten Taten 19 Jahre und 9-Monate bzw. 19 Jahre und 11 Monate-alt. Nach dem Bericht der Jugendgerichtshilfe dürfte bei ihm vom Vorliegen von Reifeverzögerungen auszugehen sein. Zwar war der Angeklagte nach dem Bericht in seiner Schulzeit vielfach auf sich alleine gestellt. Auch nachdem er bei seinem Vater eingezogen war, hatte dieser wohl wenig Zeit für ihn und wollte, dass sein Sohn schnell selbstständig und erwachsen wird, Dies steht jedoch Reifeverzögerungen vorliegend nicht entgegen. Der Angeklagte wohnte zu den Tatzeitpunkten – genau wie aktuell auch – noch bei seinem Vater und traut sich ein Leben in einem eigenen Haushalt derzeit nicht zu. Zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Taten absolvierte er ein freiwilliges soziales Jahr. Seine Ausbildung hatte er noch nicht begonnen. Mithin hatte er zum Tatzeitpunkt weder seine Lebensführung verselbstständigt, noch den zur erfolgreichen Sozialisation erforderlichen beruflichen Standort gefunden.

Es sind ferner für den Angeklagten nur Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder zulässig Nebenstrafen und Folgen zu erwarten. Eine Jugendstrafe kommt nicht in Betracht. Dabei kommt es vorliegend nicht darauf an, ob der Angeklagte sich nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen im Hinblick auf den Vorwurf zu Ziffer 2 der Anklageschrift wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln oder unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge strafbar gemacht hat. Dies kann mithin dahinstehen. Unabhängig von dem Delikt liegen beim Angeklagten nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen weder schädliche Neigungen vor, noch ist die Schwere der Schuld zu bejahen. Der Angeklagte ist strafrechtlich bisher nicht in Erscheinung getreten. Ihm werden lediglich zwei Delikte zur Last gelegt, wobei eines dieser Delikte den Erwerb von Marihuana zum Eigenkonsum betrifft. Auch im Hinblick auf den Vorwurf zu Ziffer 2 der Anklage ist unabhängig von der Frage, ob die nicht geringe Menge erreicht wird oder nicht, von einer eher überschaubaren Gesamtmenge und mithin Handelstätigkeit auszugehen.“

Pflichti I: Bestellung im JGG-Verfahren, oder: Wie bei Erwachsenen, wenn es schwierig ist

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Heute dann mal wieder drei Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen.

Ich eröffne mit dem schon etwas älteren LG Dresden, Beschl. v. 09.05.2018 – 2 Qs 13/18 -, den ich allerdings erst vor kurzem übersandt erhalten habe. Themati: Beiordnung im JGG-Verfahren. Das LG sagt: Das läuft wie bei Erwachsenen:

„Ein Pflichtverteidiger ist gemäß §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO dann zu bestellen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mit-wirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Für die Beurteilung der Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung gelten zunächst die Grundsätze, wie sie auch bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafverfahren gegen Erwachsene gelten. Jedoch bedarf § 140 Abs. 2 StPO einer jugendspezifischen Auslegung, die zu berücksichtigen hat, dass der Jugendliche oder Heranwachsende insbesondere in der Regel unerfahren ist im Umgang mit staatlichen Instanzen, eingeschränkte sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten hat und dadurch in seiner Interessenwahrnehmung vor Gericht gehandicapt sein könnte (OLG Schleswig StV 2009, 86).

Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es geboten, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Zum Einen ist für eine effektive Rechtsverteidigung eine Akteneinsicht geboten, um sich mit dem von der Staatsanwaltschaft eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten auseinanderzusetzen, dessen Inhalt dem Angeklagten nicht bekannt ist. Zum Anderen stellt § 176 Abs. 4 Nr. 3 und Nr. 4 StGB Straftatbestände dar, die erst zum 27.01.2015 neu gefasst wurden und deren Subsumtion nicht einfach erscheint. So hat der Bundesgerichtshof in einem Beschluss vom 22.01.2015, Az. 3 StR 490/14 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Einwirken auf ein Kind mit pornografischen Abbildungen im Sinne von § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB eine psychische Einflussnahme tiefergehender Art bedarf.“

Pflichti I: Bestellung im JGG-Verfahren, oder: Verminderte Schuldfähigkeit zu prüfen

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Während meines Urlaubs habe ich recht viele Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen erhalten. Allen Kollegen herzlichen Dank für die Einsendung. Ich beginne dann heute mit dem Abbau des „Pflichtverteidigungsbergs“.

Und da starte ich mit dem LG Aachen, Beschl. v. 26.03.2019 – 100 Qs 703 Js 2131/18 – 12/19. Er behandelt die Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren, in dem dem Jugendlichen u.a. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zur Last gelegt wird. Tragender Grund für die Bestellung: Die im Raum stehende Anwendung des § 21 StGB:

„Die formell unbedenkliche Beschwerde hat in der Sache Erfolg:

Gemäß §§ 68 Nr. 1, 109 Abs. 1 JGG ist dem heranwachsenden Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre. Nach § 140 Abs. 2 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Während sich die Schwere der Tat vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt, ist die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage danach zu bestimmen, ob die Beweisaufnahme von besonderem Umfang oder schwierigen Beweisen geprägt ist oder ob bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt biSlarig nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen (Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 StPO, Rn. 23 ff.).

Vorliegend handelt es sich zwar um einen einfach gelagerten Fall eines am 18.11.2018 begangenen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, so dass insofern keine schwierige Sach- oder Rechtslage gegeben ist. Auch stehen neben den Polizeibeamten für das Geschehen auf der Monschauer Straße auch unabhängige Zeugen zur Verfügung, insbesondere Herr K.. Jedoch ist ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO auch dann zu bestellen, wenn wegen starker Alkoholisierung die Anwendung des § 21 StGB in Betracht kommt (LG Düsseldorf, Beschluss vom 27.01.2015, 5 Qs 20/14; LG Essen, Beschluss vom 26.04.1988, 23a Qs 44/88). Da die Blutalkoholkonzentration des Angeschuldigten um 05:09 Uhr noch bei 1,42 Promille lag, ergibt eine Rückrechnung, dass die Blutalkoholkonzentration zum Tatzeitpunkt (03:45 Uhr) bei etwa 1,92 Promille gelegen haben dürfte. Bei jugendlichen und heranwachsenden Tätern können jedoch auch schon Blutalkoholwerte unter 2 Promille zu einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit führen (BGH, Beschluss vom 06.12.1997, 4 StR 510/06, Rn 7, zitiert nach juris), so dass die Anwendung des § 21 StGB jedenfalls zu überlegen sein dürfte. Insoweit sind Spezialkenntnisse erforderlich, über die der Angeschuldigte nicht verfügen dürfte.

Hinzu kommt, dass — wegen des parallel gegen den Angeschuldigten geführten Ermittlungsverfahrens wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung — die Einstellung des vorliegenden Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO wegen einer weitaus schwerwiegenderen Anklage möglich erscheint (vgl. LG Essen a.a.O.), was ebenfalls für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ficht.

Bei wertender Betrachtung der besonderen Umstände des Einzelfalls ist daher die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung vor dem Jugendrichter notwendig.

Pflichti II: Der Verteidiger als Störenfried im JGG-Verfahren, oder: Du kannst/musst dich von deiner Mutter unterstützen lassen

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Ziemlich geärgert hat mich die zweite Entscheidung, die ich heute vorstelle. Den LG Koblenz, Beschl. v. 02.01.2019 – 2 Qs 120/18 jug – hat mir der Kollege Scheffler aus Bad Kreuznach übersandt. Der Beschluss lässt sich m.E. in die Rubrik: „Der Verteidiger ist ein Störenfried“ einordnen.

Das LG hat die Ablehnung einer Pflichtverteidigerantrags des Kollegen in einem Verfahren gegen eine Jugendliche – knapp 15 Jahre alt – durch das AG abgesegnet. Grundlage ist etwa folgender Sachverhalt:

Gegen die wird wegen falscher Verdächtigung ein Strafverfahren geführt. Ihr wird vorgeworfen, sie habe den Geschädigten gegenüber der Polizei bewusst wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt, um gegenüber ihrem Freund zu vertuschen, dass der Geschlechtsverkehr mit dem Geschädigten tatsächlich einvernehmlich war. In dem daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahren konnte der Geschädigte WhatsApp-Nachrichten vorlegen, die deutliche Anhaltspunkte für die Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs beinhalteten. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die Angeklagte nochmals polizeilich vernommen. Hierbei wurde sie trotz des sich aus den WhatsApp-Nachrichten ergebenden Verdachts, bei der Anzeigeerstattung die Unwahrheit gesagt zu haben, nicht als Beschuldigte belehrt. In der Vernehmung äußerte sie, die Anzeige zurückziehen zu wollen, da der Sachverhalt anders gewesen sei als in der Anzeige niedergelegt.

Den Beiordnugsantrag hat das AG – mehr als drei Monate nach Antragstellung und nach Eröffnung des Hauptverfahrens – zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das LG „segnet“ wie folgt ab:;

Die Voraussetzungen, unter denen eine Beiordnung gemäß §§ 68 Nr. 1 und Nr. 4 JGG, 140 Abs. 1 oder 2 StPO erfolgt, liegen nicht vor.

Gemäß § 68 Nr. 1 JGG bestellt der Vorsitzende dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre.

Liegen – wie hier – die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO nicht vor, ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. In § 68 Nr. 1 JGG wird hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung uneingeschränkt auf das allgemeine Strafrecht verwiesen. Die zur näheren Konkretisierung und Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 140 Abs. 2 StPO im Erwachsenenrecht ergangene Rechtsprechung findet daher auch im Jugendstrafrecht Anwendung. Den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens ist jedoch Rechnung zu tragen (vgl. KG NStZ-RR 2013, 357 m.w.N).

1. Eine Beiordnung als Pflichtverteidiger ist nicht wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage angezeigt.

Für die Schwierigkeit der Sachlage ist unter anderem auf die voraussichtliche Dauer der Haupt-verhandlung und die Schwierigkeit der Beweislage abzustellen. Dabei ist eine schwierige Sachlage nicht stets bei längerer Dauer der Hauptverhandlung oder bei schwieriger Beweislage anzunehmen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 140 Rn. 26a). Vorliegend ist mit der Durchführung einer Hauptverhandlung zu rechnen, die an einem Tag zum Abschluss kommen kann. Von der Staatsanwaltschaft sind drei Zeugen benannt. Ferner dürften die WhatsApp-Nachrichten zu verlesen sein. Es ist demnach von einer allenfalls durchschnittlichen Dauer der Haupt-verhandlung und einer zumindest nicht schwierigen Beweislage auf der Grundlage der gefundenen Beweismittel auszugehen.

Das Gericht sieht auch darin, dass sowohl das tatsächliche Geschehen am 15. April 2018 als auch die Aussagen der Angeklagten hinsichtlich dieses Geschehens zu rekonstruieren sein werden, keine Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage. Denn entweder war der Geschlechtsverkehr einvernehmlich, dann kommt in Betracht, dass die – verwertbare Aussage – vom 16. April 2018 geeignet ist, den Straftatbestand des § 164 StGB zu erfüllen oder der Geschlechtsverkehr war nicht einvernehmlich, sodass eine Strafbarkeit gern. § 164 StGB nicht in Betracht kommt. Der Sachverhalt ist daher denkbar einfach gelagert und bedarf keiner aufwendigen Rekonstruktion verschiedener Geschehensabläufe.

Die Kammer sieht auch keinen Anlass dafür, dass eine vollständige Akteneinsicht erforderlich sein soll. Maßgeblicher Akteninhalt für die Hauptverhandlung sind die Whats-App-Nachrichten, die beiden protokollierten Aussagen der Angeklagten und die protokollierte Aussage des Zeugen pp. Ihre beiden Aussagen hat die Angeklagte selbst abgegeben. An der WhatsApp-Unterhaltung mit dem Zeugen pp. war die Angeklagte unmittelbar selbst beteiligt. Eine Kenntnis über diese Beweismittel besteht bei der Angeklagten. Dass der Zeuge pp. vernommen wurde, ist ohne weiteres auch für eine nicht anwaltlich vertretene Jugendliche erkennbar, da der ursprünglich von ihr vorgebrachte Tatvorwurf gegen ihn gerichtet war. Die Kammer sieht keinen Grund dafür, dass es der Angeklagten nicht möglich sein soll, diese Aktenteile zu benennen.

Eine schwierige Rechtslage ist dann gegeben, wenn bei Anwendung des materiellen oder formellen Rechts komplexe und höchstrichterlich bis dato nicht geklärte Rechtsfragen im konkreten Fall entschieden werden müssen oder wenn die Subsumtion unter die anzuwendende Vorschrift des materiellen Rechts Schwierigkeiten bereiten wird (vgl. MüKoStPO/Kaspar, 1. Auflage 2018, JGG § 68 Rn. 14-17a).

Der Einwand, dass bei der falschen Verdächtigung gern. § 164 StGB eine Absicht erforderlich sei, gegen den Anderen ein Verfahren einzuleiten und diese Absicht von anderen Vorsatzarten abgegrenzt werden müsse, trägt die Begründung einer schweren Rechtslage nicht. Es handelt sich um ein gewöhnliches subjektives Tatbestandsmerkmal, das keine besondere rechtliche Schwierigkeit bereitet. Im Übrigen hat die Angeklagte bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 16. April 2018 ausdrücklich gesagt, dass sie möchte, dass der Angeklagte dafür bestraft werde, so-dass sich ein Auseinandersetzen mit den verschiedenen Vorsatzformen im konkreten Fall erübrigen dürfte.

Auch ein gegebenenfalls bestehendes Beweisverwertungsverbot wegen der unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung vor der polizeilichen Nachvernehmung der Angeklagten führt im vorliegenden Fall nicht zu einer schwierigen Rechtslage. Vorliegend geht die Kammer da-von aus, dass sich das Amtsgericht durch die Vernehmung der Zeugen pp. und pp. sowie durch die Verlesung der am 14. und 15. April 2018 geführten WhatsApp-Unterhaltung zwischen der Angeklagten und dem Zeugen pp. eine hinreichende Überzeugung darüber bilden kann, ob der Tatvorwurf zutreffend ist oder nicht, sodass es im Rahmen der Beweisaufnahme im konkreten Fall gar nicht auf die gegenüber dem Zeugen pp. im Wege der Nachvernehmung getätigten Aussage ankommen dürfte. Doch auch, wenn das Amtsgericht seine Beweiswürdigung auf die gegenüber dem Zeugen pp. abgegebene Aussage in der Nachvernehmung stützen wird, stellt die Entscheidung über ein Beweisverwertungsverbot wegen einer unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung im Ermittlungsverfahren keine komplexe und höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage dar.

Der Fall ist sowohl in sachlicher als auch in rechtlicher Hinsicht einfach gelagert.

2. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist auch nicht deshalb erforderlich, weil die Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könnte.

Ob der Beschuldigte in der Lage ist, sich selber zu verteidigen, ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, wobei insbesondere die Persönlichkeit mitsamt der seelischen Verfassung des Jugendlichen und der Tatvorwurf einzubeziehen sind (BeckOK/Noak, JGG, 11. Edition, § 68 Rn. 28). Relevant für die Frage der Verteidigungsfähigkeit sind etwaige Anhaltspunkte für Faktoren der Unterlegenheit im psychischen Bereich wie Schüchternheit, Empfinden des Ausgeliefertseins oder psychische Schwäche, sowie verminderte Intelligenz. Das Gleiche gilt für etwaige erhebliche Defizite im Leistungsbereich wie zum Beispiel im Elementarbildungsniveau oder das Vorhandensein einer Schreib-Leseschwäche. Ferner können etwaige Beeinträchtigungen im Sozialverhalten relevant sein, gerade auch im Zusammenhang mit Alkohol- oder Betäubungsmitteleinfluss (vgl. Eisenberg JGG, 20. Auflage 2018, § 68 Rn. 27, 27a). Solche Beeinträchtigungen liegen bei der Angeklagten nicht vor. Sie geht in die neunte Klasse der Realschule pp. und es bestehen keinerlei Hinweise auf eine verminderte Intelligenz oder erhebliche Defizite im Leistungsbereich. Auch im Sozialverhalten zeigte sich die Angeklagte nach vorläufigem Bericht der Jugendgerichtshilfe bislang nicht auffällig. Der Tatvorwurf ist vorliegend denkbar einfach gelagert und auch für die Angeklagte, die nunmehr 15 Jahre und 6 Monate alt ist, leicht überschaubar. Im Übrigen kann diese die Unterstützung ihrer Mutter vor Gericht in Anspruch nehmen. Diese war zwar weder am 15. April 2018 noch bei den beiden polizeilichen Aussagen der Tochter zugegen, sie kann sich den Sachverhalt jedoch – ebenso wie der Verteidiger – von der Angeklagten im Vorfeld schildern lassen und ihrer Tochter bei der Darlegung des Sachverhaltes in der Hauptverhandlung behilflich sein. Darauf, dass sich die Angeklagte lieber von einem Anwalt vertreten lassen will, kommt es nicht an.

3. Schließlich ist die Mitwirkung eines Verteidigers auch nicht wegen der Schwere der Tat geboten.

Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist auch im Jugendstrafrecht maßgeblich auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung abzustellen. Zu berücksichtigen sind aber auch die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten sowie sonstige schwerwiegende Nachteile, die er infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat. Die Schwere der Tat gebietet danach die Beiordnung eines Pflicht-verteidigers grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht jedenfalls dann, wenn nach den Gesamtumständen eine Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist oder jedenfalls an-gesichts konkreter Umstände in Betracht kommt.

Bei der nicht vorbestraften Angeklagten ist nicht von einer Anwendung von Jugendstrafrecht auszugehen.

Da auch ein Fall des § 68 Nr. 4 JGG nicht vorliegt, war die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.“

Ich rufe in Erinnerung: Die Angeklagte ist knapp 15 Jahre alt.

Und einer so jungen Angeklagten wird vorgehalten, dass die Frage, ob ihre Angaben in ihrer zweiten Vernehmung trotz der unterlassenen Beschuldigtenbelehrung verwertbar sind, kurzerhand für irrelevant sei und dazu lapidar ausführt, der Tatnachweis könne ja auch anderweitig geführt werden. Abgesehen davon, dass die Frage eines Beweisverwertungsverbotes in den Fällen nun wahrlich nicht zum täglichen Allerlei gehört, hängt die Frage, ob ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, doch nicht davon ab, welche sonstigen Beweismittel zur Verfügung stehen. Man kann doch auch nicht voraussetzen, dass eine 15-Jährige (!) die Rechtsprechung zur Frage eines Beweisverwertungsverbots schon kennen wird, da es ja nicht um eine höchstrichterlich ungeklärte Frage gehe. In meinen Augen: Verfehlte Argumentation. Und: Kein Wort zu anders lautender Rechtsprechung, mit der man sich lieber gar nicht erst auseinander setzt. Augen zu und durch.

Damit setzt die Kammer die Angeklagte der Gefahr ausgesetzt, eines ganz wesentlichen Strafmilderungsgrunds verlustig zu gehen, würde doch ein Strafverteidiger angesichts der aufgrund der WhatsApp-Nachrichten recht ungünstigen Beweislage zumindest erwägen, der Verwertung der Angaben trotz des Verfahrensfehlers zuzustimmen, um auf der Rechtsfolgenebene damit argumentieren zu können, dass die Tat bereits in einem eher frühen Verfahrensstadium eingeräumt wurde. Zu derartigen Erwägungen ist eine 15-Jährige offensichtlich nicht in der Lage.

Endgültig zum großen Ärgernis wird der Beschluss, wenn die Kammer die Angeklagte dann darauf verweist, sie möge doch ihre Mutter in die Sitzung mitbringen. Das Anwesenheitsrecht der Erziehungsberechtigten in der Hauptverhandlung soll doch jugendlichen Angeklagten (zuästzliche) Hilfe und Unterstützung sichern, und nicht die Bestellung von Pflichtverteidigern verhindern. Findet die Argumentation des LG Koblenz Nachahmer, wird wohl bald der erste erwachsene Angeklagte zu lesen bekommen, dass ihm kein Verteidiger bestellt wird, da er ja seine Frau in die Hauptverhandlung mitbringen könne (s. § 149 StPO). Und man fragt sich, welches Verständnis die Kammer eigentlich von den Rechten (jugendlicher) Angeklagter hat. Offensichtlich ein verfehltes.

Im Übrigen: Das AG hat es für angemessen gehalten, einen im August gestellten Beiordnungsantrag im Dezember zu bescheiden. Wie man das mit dem im JGG-Verfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz in Einklang bringen will, erschließt sich nicht. Dazu von der Kammer natürlich kein Wort. Warum auch? ist/war ja alles nicht schwierig und die Angeklagte kann es gut allein machen. Unfassbar.