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Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung?, oder: LG Berlin bejaht mit sehr schöner Begründung

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Ich komme dann hier im zweiten Posting noch einmal auf den LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – zurück, den ich ja heute Morgen schon wegen des Beiordnungsgrundes vorgestellt hatte (Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe).

Der Beschluss hat aber auch eine verfahrensrechtliche Problematik. Dabei geht es zwar „nur“ um die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, zu der ich ja sonst nur noch die Entscheidungen en bloc erwähne. Die Begründung des LG Berlin ist es aber wert, dass man sie einmal vollständig einstellt. Sie ist nämlich sehr schön:

„2. Die Beiordnung kann auch seit Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung rückwirkend nach Einstellung des Verfahrens erfolgen, und zwar jedenfalls dann, wenn der Beiordnungsantrag – wie hier – vor der Verfahrenseinstellung ordnungsgemäß gestellt und darüber allein aufgrund justizinterner Verzögerungen nicht entschieden worden ist. Denn es ist gerade der Wille des Gesetzgebers und der damit umgesetzten Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (sogenannte PKH-Richtlinie) gewesen, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (vgl. insoweit bereits Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie [EU] 2013/48 u.a. über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren), sondern gerade auch mittellose Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 2, 36). Diese vom Gesetzgeber und der Richtlinie intendierte effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten liefe jedoch ins Leere, wenn ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, – wie hier aufgrund justizinterner Verzögerung – unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20 m.w.N.; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 47. Edition v. 1. April 2023, § 142 Rn. 30 m.w.N.; Kämpfer/Travers, in: MüKoStPO, 2. Auflage 2023, § 142 Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 – 4 Ws 529/22 -, juris Rn. 17 ff.; OLG Nürnberg Beschluss vorn 6. November 2020 – Ws962/20, Ws963/20 BeckRS 2020, 35193 Rn. 25ff; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21 -, juris Rn. 14 ff.; LG Berlin, Beschluss vorn 6. Oktober 2022 – 511 Qs 79/22 -, BA S. 4 ff.; LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 – 612 Qs 6/22 -, juris Rn. 7 ff. rn.w.N.; LG Stade, Beschluss vom 30. September 2021 – 102 Qs 41/21 -, juris Rn. 9 ff.).

Angesichts der gesetzgeberischen Intention und der nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten effet utile-Grundsatz zwingend zu berücksichtigenden europäischen Vorgaben überzeugt die Gegenansicht (vgl. Willnow, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 142 Rn. 16; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20 -, juris Rn. 15 f.; KG, Beschlüsse vom 6. Februar 2023 – 6 Ws 169/22 – 121 AR 275/22 -, BA S. 5 ff.; vorn 9. April 2020 – 2 Ws 30 ¬31/20 -, juris Rn. 15; vom 30. Dezember 2019 – 4 Ws 115/19 -, BA S. 3 f.; vom 20. August 2019 -4 Ws 81/19 -, BA S. 3 f.; LG Berlin, Beschluss vorn 21. Dezember 2022 – 534 Qs 97/22 -, BA S. 2 ff.; zur alten Rechtslage nur BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 – 1 StR 344/08 -, juris Rn. 4) nicht. Danach sei die Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Abschluss des Verfahrens nicht möglich, weil die Beiordnung im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten, sondern – wie nach alter Rechtslage – allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies stünde auch im Einklang mit der PKH-Richtlinie, die in Art. 4 Abs. 1 den „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ nur dann von den Mitgliedstaaten sichergestellt wissen will, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ sei (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 15). Dieses Interesse sei jedoch mit dem Abschluss des Verfahrens entfallen (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 5). Einen „Systemwechsel“ von der Prüfung des Rechtspflegeinteresses hin zu einer Bedürftigkeitsprüfung habe der hiesige Gesetzgeber nicht beabsichtigt (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).

Die Gegenansicht verkennt, dass „das Interesse der Rechtspflege“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie nicht allein auf ein objektiv-organisatorisches Erfordernis reduziert werden darf, sondern im Lichte des – im Erwägungsgrund 3 der PKH-Richtlinie ausdrücklich in Bezug genommenen – Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (dort „Interesse der Rechtspflege“) weit im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten zu verstehen ist (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; zu Art. 6 EMRK: Gaede,         MüKoStPO, 1. Auflage 2018, Art. 6 EMRK Rn. 209). Folgerichtig stellt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung auch klar, dass kein Raum für eine über das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung hinausgehende weitere Prüfung des Rechtspflegeinteresses besteht, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die übrigen Antragsvoraussetzungen des § 141 StPO gegeben sind. In einem solchen Fall muss die Bestellung unverzüglich, das heißt nicht sofort, aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 37).

Zudem dient die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht nur dazu, einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt zu schaffen, sondern mittelbar auch den Interessen des Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Denn auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liegt die Befürchtung nicht fern, dass ein Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Bestellung im Wissen um die – andernfalls bestehende – Möglichkeit, letztlich keine Vergütung zu erhalten, nicht im gleichen Maße für seinen Mandanten tätig wird, wie dies bei einer Wahlverteidigung mit einem solventen Mandanten der Fall wäre (vgl. zu alldem OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021, a.a.O., Rn. 15 f.; a.A. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Diesen Gedanken, dass dem Beschuldigten ab Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen schnellstmöglich anwaltlicher Rat zur bestmöglichen Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung stehen muss, hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO deutlich gemacht (vgl. OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 16).

Die (ausnahmsweise) Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung zum Pflichtverteidiger steht darüber hinaus auch im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Diese kommt nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nämlich grundsätzlich bei bereits abgeschlossenen Verfahren nicht in Betracht. Denn Aufgabe der Prozesskostenhilfe sei es nach Ansicht des BGH nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Etwas anderes gelte aber ausnahmsweise dann, wenn ein vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens mit den erforderlichen Unterlagen gestellter Bewilligungsantrag nicht bzw. nicht vorab beschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20 -, juris Rn. 4, st. Rspr). Sachliche Gründe, die die unterschiedliche Behandlung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und eines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Zwar ist es richtig, dass die Pflichtverteidigerbestellung anders als die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht an die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse knüpft, also nicht allein den mittellosen Beschuldigten bzw. Angeklagten im Blick hat (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Entscheidend ist aber, dass beide Instrumente dem Betroffenen bei Vorliegen der Antragsvoraussetzungen effektiven Zugang zu anwaltlichem Rat verschaffen sollen (vgl. OLG Bamberg, a.a.O. Rn. 18 f.).“

Ein bisschen Fortbidlung für das ein oder andere OLG oder LG 🙂 .

Pflichti II: Schon wieder rückwirkende Bestellung, oder: Manchen lernen es nie

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Und dann einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, leider dieses Mal mit einem Schwergewicht bei den Entscheidungen, die die rückwirkende Bestellung als unzulässig ansehen.

Darunter befindet sich dann auch ein Beschluss des OLG Dresden, den das OLG nicht veröffentlicht hat. Man fragt sich, warum? Wir finden in der Zusammenstellung dann auch ein Beschluss des LG Leipzig, in dem man eben mal die Rechtsprechung, die man bisher vertreten hat, aufgibt. Und einen des LG Zweibrücken, die die andere Auffassung als „Mindermeinung“ abtut, na ja.

Und ich bleibe dabei. Das Ablehnen der rückwirkenden Bestellung ist falsch. Es ist ein Freibrief für die StA, die letztlich tun und lassen kann, was und wann sie will.

Gegen eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

Für eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

 

Nochmals: Verwertung einer Dashcam-Aufzeichnung, oder: Unfallaufklärung mit Dashcam bei Beweisnot

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Im „Kessel Buntes“ am Samstag dann heute zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Ich beginne mit dem LG Aachen, Urt. v. 15.06.2023 – 12 O 398/22 -, das sich noch einmal zur Verwertung von Dashcam-Aufzeichnungen äußert. Das LG hatte über Schadensersatzansprüche bei einem Kollisionsunfall nach einer Kurvendurchfahrt mit dem Vorwurf des beiderseitigen Fahrstreifenwechsel zu entscheiden. Das LG hat Zeugen vernommen, was aber kein Ergebnis gebracht hat. Das LG hat dann eine vorliegende Dashcam-Aufzeichung verwertet. Zur Zulässigkeit führt es aus:

„(bb) Die Verwertung des Dashcam-Videos war als Beweismittel auch zulässig.

(1) Keine Partei – insbesondere nicht der Kläger – hat der Verwertung der Dashcam-Videos widersprochen.

(2) Es kann auch dahinstehen, ob die streitgegenständliche Videoaufzeichnungen nach den geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen unzulässig sind. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre ihre Verwertung als Beweismittel dennoch zulässig. Das ergibt sich aus einer vorzunehmenden Güterabwägung (ausführlich BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 39, juris).

(a) Auf der einen Seite stehen das Interesse des (Gegen-)Beweisführers – hier des Beklagten zu 1) – an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche und seines im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege und an einer materiell richtigen Entscheidung nach freier Beweiswürdigung. Auf der anderen Seite steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348¬377, Rn. 40 m.w.N., juris).

(b)  Zwar begründet die Dashcam-Aufnahme, durch die das Fahrzeug des Klägers mit dessen Kraftfahrzeugkennzeichen in und kurz nach der Unfallsituation aufgenommen und diese Sequenz abgespeichert worden ist, einen Eingriff in das Recht des Klägers, der durch die Nutzung als Beweismittel fortgesetzt wird (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 41 f., juris).

(c) Der Eingriff ist allerdings nicht rechtswidrig, da die schutzwürdigen Belange des Beklagten zu 1) das Schutzinteresse des Klägers überwiegen. In der Rechtsprechung sind wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eines Rahmenrechts, dessen Reichweite nicht absolut feststeht, Abwägungskriterien u.a. nach Maßgabe einer abgestuften Schutzwürdigkeit bestimmter Sphären, in denen sich die Persönlichkeit verwirklicht, herausgearbeitet worden. Danach genießen besonders hohen Schutz die sogenannten sensitiven Daten, die der Intim-und Geheimsphäre zuzuordnen sind. Geschützt ist aber auch das Recht auf Selbstbestimmung bei der Offenbarung von persönlichen Lebenssachverhalten, die lediglich zur Sozial- und Privatsphäre gehören. Allerdings hat der Einzelne keine absolute, uneingeschränkte Herrschaft über „seine“ Daten; denn er entfaltet seine Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft. In dieser stellt die Information, auch soweit sie personenbezogen ist, einen Teil der sozialen Realität dar, der nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Vielmehr ist über die Spannungslage zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 44 m.w.N.).

(d) Bei der gebotenen Abwägung ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger lediglich in seiner Sozialsphäre betroffen ist. Aufgezeichnet wurde ein Unfallgeschehen unter Beteiligung seines Kraftfahrzeugs. Das Geschehen ereignete sich im öffentlichen Straßenraum, in den er sich freiwillig begeben hat. Er hat sich durch seine Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Rechnung zu tragen ist zudem der häufigen besonderen Beweisnot, die der Schnelligkeit des Verkehrsgeschehens geschuldet ist. Wenn überhaupt Zeugen vorhanden sind, ist der Beweiswert ihrer Aussagen angesichts der Flüchtigkeit des Unfallgeschehens und der Gefahr von Rekonstruktions- und Solidarisierungstendenzen regelmäßig gering; unfallanalytische Gutachten setzen verlässliche Anknüpfungstatsachen voraus, an denen es häufig fehlt. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Aufnahmen auch Feststellungen zum Fahrverhalten des Aufzeichnenden erlauben und grundsätzlich auch zu Gunsten des Beweisgegners sprechen und verwertet werden können.

Der mögliche Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer, Fußgänger, Radfahrer oder anderer Kraftfahrer bzw. Insassen führt nicht zu einer anderen Gewichtung. Zwar besteht durch permanent und anlasslos aufzeichnende Videokameras in zahlreichen Privatfahrzeugen für das informationelle Selbstbestimmungsrecht der übrigen Verkehrsteilnehmer ein Gefährdungspotential, da durch die bestehenden Möglichkeiten von Gesichtserkennungssoftware, Weiterleitung und Zusammenführung der Daten zahlreicher Aufzeichnungsgeräte nicht auszuschließen ist, dass letztlich Bewegungsprofile individueller Personen erstellt werden könnten. Dem ist jedoch nicht durch Beweisverwertungsverbote im Zivilprozess zu begegnen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Möglichkeit einer Beweisverwertung Anreize für die Nutzung von Dashcams setzen kann, doch ist ihr Gefahrenpotential nicht im Zivilprozess einzugrenzen oder (zusätzlich) zu sanktionieren. Deshalb ist es für die Frage der Verwertbarkeit des Beweismittels nicht von Bedeutung, dass der Teil der Aufzeichnung, der nicht im Prozess vorgelegt worden oder für die Unfallrekonstruktion nicht erheblich ist, möglicherweise zu Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dritter Personen führt.

Dem danach nicht so schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Klägers steht nicht nur ein „schlichtes“ Beweisinteresse gegenüber. Denn jedes Beweisverwertungsverbot beeinträchtigt nicht nur die im Rahmen der Zivilprozessordnung grundsätzlich eröffnete Möglichkeit der Wahrheitserforschung und damit die Durchsetzung der Gerechtigkeit und die Gewährleistung einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege, sondern auch durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechte der auf Durchsetzung ihres Anspruchs klagenden Parteien. Es besteht auch ein individuelles Interesse der Partei eines Zivilprozesses an der Findung der materiellen Wahrheit bis hin zur Abwehr eines möglichen Prozessbetruges (zum Ganzen: BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 — VI ZR 233/17 —, BGHZ 218, 348-377, Rn. 43 ff. m.w.N., juris).

(e) In der Konsequenz war die Verwertung der Dashcam-Aufzeichnungen hier zulässig. Dabei war im konkreten Einzelfall zusätzlich zu berücksichtigen, dass dem Beklagten zu 1) hier insbesondere auch keine anderen Beweismittel zur Verfügung standen, um den Gegenbeweis zu führen und seine (vollständige oder quotale) Haftung zu widerlegen, wohingegen der Kläger mit dem Zeugen II» über ein Beweismittel verfügte.

(cc) Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zu 1) im Zuge des Abbiegevorgangs einen (teilweisen) Fahrspurwechsel durch Überfahren der Trennlinie vorgenommen hat und es hierdurch zum Unfall gekommen ist. Damit hat der Kläger gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen. Dass er einen Abbiegevorang beabsichtigt und angekündigt hätte, hat er bereits nicht vorgetragen, sondern bestritten, einen Wechsel überhaupt vorgenommen zu haben. Ohnehin konnte ein Wechsel der Fahrspur zum fraglichen Zeitpunkt nicht ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vonstattengehen, wie es § 7 Abs. 5 StVO allerdings voraussetzt, weil sich der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug praktisch neben dem klägerischen Fahrzeug befand und insofern kein Einscheren an der fraglichen Stelle möglich war.“

Und das war es dann für die Klage. Die hat das LG abgewiesen.

Anzumerken ist, dass das LG die Vorgaben aus der genannten Entscheidung des BGH umsetzt werden, ohne dass allerdings den gestiegenen Bedeutungsgehalt des Datenschutzes in Form der DSGVO näher zu erörtern. Andererseits frage ich mich, warum das LG die Verwertbarkeit des  Videos überhaupt erörtert, denn es hatte keine Partei der Verwertung widersprochen.

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Wenn die StA „toter Mann spielt.“

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Und dann der Klassiker zum neuen Recht, nämlich zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Es handelt sich um drei Beschlüsse, nämlich den LG Leipzig, Beschl. v. 02.08.2023 – 5 Qs 41/23, den AG Aurich, Beschl. v. 04.07.2023 – 6 Gs 1305/23 und den AG Amberg, Beschl. v. 21.07.2023 – 6b Gs 1771/23. Alle drei sind m.E. falsch.

Der AG Aurich, Beschl. v. 04.07.2023 – 6 Gs 1305/23 – und der AG Amberg, Beschl. v. 21.07.2023 – 6b Gs 1771/23 – geben die übliche – falsche – Begründung in diesen Fällen: Das haben wir immer schon so gemacht und das neue Recht zwingt uns nicht, unsere – falsche – Auffassung zu ändern. Muss man leider mit leben.

Kleiner Hinweis an das AG Aurich. Der Satz: „Auch ist kein umfangreiches Tätigwerden des Verteidigers ersichtlich, was eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte.“ erschließt sich nicht. Und er macht es auch nicht besser. Denn er ist ebenso falsch. Denn die Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Beiordnung hat ja nun nichts mit dem Umfang der anwaltlichen Tätigkeit zu tun.

Und zum AG Amberg, Beschl. v. 21.07.2023 – 6b Gs 1771/23 – insoweit läuft die Beschwerde – ist anzumerken: Mich wundert, dass man an seinen eigenen Meinung festhält, obwohl das für den Bezirk zuständige OLg die Frage anders entschieden hat. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass das OLG in einer gerade vom AG entschiedenen Frage, nämlich im AG Amberg, Beschl. v. 12.10.2022 – 6 Gs 398/21, mit „Pauken und Trompeten“ anders entschieden hat, nämlich im OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.07.2023 – Ws 133/23. Im Übrigen leuchtet mir nicht ein, warum die StA den Beiordnungsantrag nicht sofort nach Eingang dem AG vorlegt. In der StPO – zumindest in meiner – heißt es „unverzüglich“.

Der LG Leipzig, Beschl. v. 02.08.2023 – 5 Qs 41/23 – hat folgenden in der Praxis häufigen Sachverhalt: Dem Beschuldigten wird Diebstahl vorgeworfen. Sein Verteidiger legitimiert sich am 26.11.2022 unter Angabe der polizeilichen Tagebuchnummer gegenüber der bis dahin noch nicht mit der Sache befassten StA und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Zur Begründung verwies er darauf, dass sich der Beschuldigte – zu der Zeit in einem anderweitig geführten Verfahren in Untersuchungshaft befand.

Eine Reaktion der StA erfolgte nicht. Im April 2023 legte die Polizei schließlich der StA die Akten vor, die „Zuordnung“ des Verteidigerschriftsatzes vom 26.11.2022 zur Verfahrensakte erfolgte Anfang Juni 2023. In der Folge übersandte der sachbearbeitende Staatsanwalt dem AG die Akten mit der Anregung, eine Pflichtverteidigerbestellung abzulehnen, da der Beschuldigte in der anderen Sache am 06.12.2022 aus der Haft entlassen worden war.

Das AG macht es jedoch richtig und gibt dem Antrag des Beschuldigten statt und ordnete ihm einen Pflichtverteidiger bei. Zum Zeitpunkt der Antragstellung hätten unstreitig die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgelegen. Auch hätte die Akte unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag vorgelegt werden müssen.

Dagegen dann die sofortige Beschwerde der bis dahin untätigen Staatsanwaltschaft; man ist offenbar wach geworden. Und das Rechtsmittel hat dann aber beim LG Erfolg:

„Zum Zeitpunkt des Beschlusserlasses am 03.07.2023 lag ein Fall einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO nicht (mehr) vor…..

…..

Auch die von dem Amtsgericht Torgau angestellte Erwägung, dass der Beiordnungsantrag des Verteidigers vom 26.11.2022 nicht rechtzeitig bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO dem Amtsgericht vorgelegt worden wäre, rechtfertigt eine (rückwirkende) Beiordnung nicht. Zwar ist gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen, wenn der Beschuldigte dies beantragt hat und die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 StPO vorliegen. Wie sich auch § 140 Abs. 2 Nr. 3 StPO jedoch ergibt, ist der unbestimmte Rechtsbegriff der „Unverzüglichkeit“ nicht nach Maßgabe eines bestimmten Zeitablaufs zu bemessen. Ein Verstoß gegen die Unverzüglichkeit, ein schuldhafttes Zögern, ist nur dann gegeben, wenn die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) einen Beiordnungsantrag pflichtwidrig übergehen und das Verfahren weiterbetreiben, insbesondere weitere Ermittlungshandlungen mit Außenwirkung und Beweiserhebungen zum Nachteil des Beschuldigten vornehmen bzw. anstrengen (vgl. BT-Drucksache 19/13829, S. 38 zu § 141 Abs. 2 Satz 2 StPO: „… Mit der Richtlinienvorgabe zur unverzüglichen Verteidigerbeiordnung in den Fällen der Haft ist diese Ausnahme vereinbar, da eine vorwerfbare Verzögerung der Verteidigerbestellung solange nicht vorliegt, wie weder Vernehmungen noch sonstige Ermittlungsmaßnahmen mit Außenwirkung vorgenommen werden sollen…“). Entsprechendes ist vorliegend auch nicht passiert. Zum Zeitpunkt der Antragsstellung am 26.11.2022 war das Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Leipzig noch gar nicht eingegangen bzw. erfasst, was zu diesem Zeitpunkt auch dem Verteidiger, der lediglich die polizeiliche Tagebuchnr. in seinem, am Tattag verfassten Schriftsatz vom 26.11.2022 angab, bekannt gewesen sein dürfte. Als erste Amtshandlung veranlasste der sachbearbeitende Staatsanwalt am 07.06.2023 die Beinahme des Schriftsatzes des Verteidigers vom 26.11.2022 zur Sachakte, zog nachfolgend eine Auskunft der Staatsanwaltschaft Passau bei und legte unmittelbar nach deren Eingang am 20.06.2023 das Verfahren dem Amtsgericht Torgau – Ermittlungsrichter – zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor. Unter Missachtung des Beiordnungsantrages wurden keine weiteren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen veranlasst. Im Übrigen ergibt sich aus der Ermittlungsakte, dass zwar die Verfahrensakte durch die Polizei erst am 17.04.2023 an die Staatsanwaltschaft Leipzig gesandt, aber nach dem 26.11.2022 auch von dort aus keine weiteren Ermittlungen durchgeführt wurden. Von daher fanden keinerlei Ermittlungshandlungen zum Nachteil des Beschuldigten unter Verletzung seiner Verteidigerrechte statt, weshalb es zu einer schuldhaft verspäteten Vorlage des Antrages vom 26.11.2022 nicht gekommen ist.

Im Übrigen folgt auch aus einer anderen Erwägung, dass vorliegend eine rückwirkende Beiordnung nur als systemwidrig anzusehen ist, weshalb die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Torgau nicht durchgreift. Gemäß § 143 Abs. 2 S.1 StPO kann nämlich eine erfolgte Beiordnung aufgehoben werden, wenn ein Fall einer notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegt. Gemäß § 143 Abs. 2 S. 2 StPO gilt dies im Falle des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO insbesondere dann, wenn der Beschuldigte mindestens 2 Wochen vor der Hauptverhandlung aus der Haft entlassen worden ist. Es wäre demzufolge vorliegend völlig widersinnig, wenn zunächst eine rückwirkende Beiordnung angeordnet werden würde, dann aber umgehend wieder auf Antrag der Staatsanwaltschaft aufgehoben werden müsste, da der Beschuldigte sich bereits seit mehreren Monaten wieder auf freiem Fuß befindet und ein Strafverfahren noch gar nicht angestrengt ist. In der Regelung des § 143 Abs. 2 StPO spiegelt sich nämlich der Rechtsgedanke wieder, dass eine Beiordnung allein dem öffentlichen Zweck dient, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden (zukünftigen) (Straf-)Verfahren zu gewährleisten, jedoch nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten (BGH-Beschluss vom 20.07.2009, Az. 1 StR 344/08, NStZ-RR 2009, 348). An dieser Beurteilung hat auch die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, nachfolgend als PKH-Richtlinie bezeichnet), die durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 in nationales Recht umgesetzt wurde, nichts geändert (OLG Dresden, Beschl. v. 24.02.2023, Az. 2 Ws 33/23; ständige Rspr. der Kammer: Beschl. v. 08.05.2023, Az. 5 Qs 27/23; Beschl. v. 01.06.2023, Az. 5 Qs 32/23 u. Beschl. v. 10.07.2023, Az. 5 Qs 36/23).

§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO sieht bei einem inhaftierten Beschuldigten eine notwendige Verteidigung vor, da der sich nicht auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte ersichtlich in seiner Verteidigung eingeschränkt ist. Deshalb ist nicht ansatzweise ersichtlich, warum der nunmehr seit längerer Zeit aus der Haft entlassene Beschuldigte noch eines bestellten Verteidigers bedarf, obwohl der die eigene Verteidigungsfähigkeit einschränkende Umstand in Wegfall geraten ist. Eine Pflichtverteidigerbeiordnung quasi als Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörde für eine verspätete Vorlage eines Beiordnungsantrages ist gesetzlich nicht vorgesehen und war es auch bisher nicht. Werden Beweise unter Verletzung bzw. Missachtung strafprozessualer Rechte eines Beschuldigten erhoben, ist in einem späteren Strafverfahren (soweit ein solches überhaupt angestrengt wird) zu klären, ob und inwieweit derartige Beweismittel in eine strafrechtliche Hauptverhandlung eingebracht und verwertet werden können.“

Wie gesagt: Auch falsch. Der Beschluss wird nicht dadurch richtig, dass man mit „widersinnig“ und „nicht ansatzweise“ argmentiert und alte Rechtsprechung des BGH anführt.

Im Übrigen kann ich die  Behauptung des LG, es sei nicht zu einer schuldhaften Verzögerung der Verbescheidung des Beiordnungsantrags gekommen, nicht nachvollziehen. Die Staatsanwalt hat nach Eingang des Beiordnungsantrags mehrere Monate verstreichen lassen, ohne irgendwie auf den Antrag zu reagieren. Eine derartige Verzögerung ist m.E. nicht hinnehmbar; die Staatsanwaltschaft hätte sich bei der Polizei nach dem Verfahrensstand erkundigen können und auch müssen. Stattdessen hat sie „toter Mann gespielt“. Genau das wollte der Gesetzgeber aber mit der Einführung der „unverzüglichen Entscheidung aber verhindern. Allerdings: Ebenfalls nicht nachvollziebar ist für mich, dass der Verteidiger nicht mal an seinen noch offenen Antrag erinnert hat.

Darüber hinaus ist auch der Hinweis des LG auf die Begründung zur Reform des Rechts der notwendigen Vertedigung im Jahr 2019 verfehlt, denn die zitierte Passage bezieht sich ausschließlich auf den Fall des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, wonach eine an sich von Amts wegen gebotene Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Diese Vorschrift betrifft jedoch nur Beiordnungen von Amts wegen, wohingegen Beiordnungsanträge des Beschuldigten gerade nicht erfasst sind. Kann man alles beim Kollegen Hillenbrand in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3677 m.w.N. nachlesen.

Und: Auch die mögliche Aufhebung der Bestellung rechtfertigt die Untätigkeit der StA nicht. Denn es handelt es sich nicht um eine zwingende Rücknahme, da in solchen Fällen sorgfältig geprüft werden muss, ob der Rücknahme nicht Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen bzw. ob die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers wegen der früheren Inhaftierung des Beschuldigten weiterhin erforderlich ist. Zum anderen entbindet die Möglichkeit einer späteren (!) Rücknahme die Ermittlungsbehörden ja wohl nicht von ihrer Pflicht zur Befolgung des vom Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ausdrücklich normierten Unverzüglichkeitsgebots. Das scheint man aber in Leipzig anders zu sehen. Ohne weitere Worte.

Aber: Zumindest die Kostenentscheidung ist – aus Sicht des LG – richtig. Immerhin.

AG III: Datenübermittlung aus Personalausweisregister, oder: Beweisverwertungsverbot?

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Und zum Tagesschluss dann noch eine Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren, nämlich das AG Frankfurt am Main, Urt. v. 11.04.2023 – 994 OWi – 359 Js 13613/23.

Es geht um einen Abstandsverstoß im September 2022 auf der BAB A 3. Die Betroffene hatte ihre Fahrzeugführereigenschaft in Zusammenhang mit einem Entbindungsantrag eingeräumt. Die Richtigkeit der Abstandsmessung ist vom Verteidiger nicht in Zweifel gezogen. Er hatte sich jedoch darauf berufen, dass im Vorfeld der Ermittlungen Fehler passiert seien. Aufgrund eines Verstoßes gegen § 22 Abs. 3, 3 PaßG beziehungs-eise § 24 Abs. 2 und Abs. 3 PAuswG liege ein Verfahrenshindernis vor, sodass das Verfahren eingestellt oder die Betroffene freizusprechen sei. Die Betroffene hätte vor Anforderung eines Passbildes als Betroffene im Verfahren angehört werden müssen.

Das hat das AG anders gesehen:

„Sofern sich der Verteidiger darauf beruft, dass das Verfahren aufgrund eines Verfahrensfehlers wegen Verstoßes gegen § 24 Abs. 2 und Abs. 3 des PAuswG an einem derart schwerwiegenden Verfahrensmangel leidet, dass dies zur Einstellung beziehungsweise hier zum Freispruch hätte führen müssen, kann dem nicht entsprochen werden.

Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 Nummer 1 PAuswG dürfen Behörden auf deren Ersuchen Daten aus dem Personalausweisregister übermitteln, wenn die ersuchende Behörde aufgrund von Gesetz oder Rechtsverordnung berechtigt ist, solche Daten zu erhalten. Dies sind etwa Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungsbehörden im Ordnungswidrigkeitsverfahren auf Basis der vom §§ 161,163b StPO; 35, 46 Abs. 1 OWiG erhaltenen Ermächtigungsgrundlagen.

In der Hauptverhandlung verlesen worden ist Blatt 31 der Akte, der polizeiliche Vermerk des PK pp. vom 21.11.2022, wonach die Halteranschrift des zunächst im Verfahren als Betroffener geführten Herrn pp. angefahren wurde, um eine Betroffenenermittlung durchzuführen. Laut Bericht ist bei dem zuvor geführten Betroffenen pp. geklingelt worden und dieser habe die Tür aufgemacht. Nach erneuter Belehrung und Verweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht habe er hiervon Gebrauch gemacht. Im Anschluss habe Unterzeichner, pp., gefragt, ob er denn alleine wohne. Er gab ab, dass er mit seiner Frau, Frau pp. zusammenwohne, welche derzeit nicht zu Hause sei. Daraufhin habe die Streife das Haus verlassen.

Anhand eines angeforderten Lichtbildes des Personalausweises von Frau pp. sei diese sodann an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Fahrzeugführerin identifiziert worden.

Die Polizeibehörde durch PK pp. hat daher im Rahmen der allgemeinen Ermächtigungsgrundlangen zur Ermittlung des Sachverhalts betreffend des Ordnungswidrigkeitenverfahrens gehandelt, wobei hierdurch die formellen Voraussetzungen des § 24 PAuswG eingehalten worden sind.

Auch im Übrigen sind keine Fehler bei der Anforderung des Bildes aus dem Personalausweis der Betroffenen erfolgt.

Es mag sein, dass in der Praxis teilweise standardmäßig Lichtbilder angefordert werden, ohne dass zunächst andere Ermittlungen durchgeführt werden. Vorliegend war jedoch die Polizeibehörde bereits bei dem zuvor als Betroffeneneigenschaft geführten Herrn pp. vor Ort und hat vor Ort Ermittlungen hinsichtlich der Betroffenen angestellt. Hierbei war aufgrund des Fahrerfotos, Blatt 7 der Akte, ersichtlich, dass es sich um eine weibliche Person handeln muss. Aufgrund der Angaben des Herrn pp., dass er mit einer Frau pp.  zusammenwohne, lag der Verdacht nahe, dass es sich hierbei um die mögliche Betroffene handeln könnte. Hiernach hat die Polizei bereits die vermutete Betroffene zum Zwecke der Identifizierung aufgesucht, diese aber nicht angetroffen im konkreten Zeitpunkt.

Dies ist vorliegend als ausreichende Ermittlungshandlung anzusehen, um es zu rechtfertigen, von der Betroffenen ein Lichtbild aus dem Personalausweis anzufordern.

Sollte dies anders gesehen werden, handelt es sich hierbei jedenfalls nicht um einen derart unerträglichen Verstoß, dass dieser zu einem Beweisverwertungsverbot führen könnte, Vgl. Hornung, PaßG-PAuswG 1 Aufl. 2011, § 22 Randnummer 12 m.w.n. Willkür ist nicht ersichtlich.“

Na ja. Vorab: Das OLG Frankfurt am Main hat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen, das aber mit keinem Wort begründet. Nun ja, kann man machen, aber: Es gibt ja abweichende Rechtsprechung zu der Frage. Dazu hätte man ja mal ein Wort verlieren können. Und: Wie ist es denn, wenn der Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, er dann aber weiter befragt wird und er dann Angaben macht? Verwertbar? Schwierig? Jedenfalls hätte man auch dazu mal ein Wort verlieren können. Aber hat man nicht……