Schlagwort-Archive: nachträgliche Bestellung

Pflichti I: Mehrere/zusätzliche Nebenklägerbeistände?, oder: Keine Bestellung nach Rechtskraft

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann heute „Pflichti-Entscheidungen“.

Zu der Thematik stelle ich zunächst den BGH, Beschl. v. 24.02.2025 – 5 StR 531/24 – vor. Es geht zwar nicht um einen Pflichtverteidiger, aber um einen Nebenklägerbeistand.

Folgender Sachverhalt: Dem gegen den Beschuldigten B. geführten Sicherungsverfahren hatte sich der durch die Anlasstat Verletzte A. am 15.03.2024 wirksam als Nebenkläger angeschlossen (§ 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Das LG Görlitz hatte ihm anschließend mit Beschluss vom 19.03.2024 – seinem Antrag entsprechend – Rechtsanwalt R. aus W. als Beistand bestellt (§ 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO), der für den Nebenkläger in erster Instanz auch tätig geworden ist.

Mit Urteil vom 17.04.2024 hat das LG Görlitz den Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Hiergegen hat der Nebenkläger persönlich mit einem handschriftlich verfassten Schreiben vom 23.04.2024 Revision eingelegt. Die schriftlichen Urteilsgründe wurden ihm am 07.06.2024 zugestellt.

Mit Schreiben vom 28.06.2024 teilte Rechtsanwalt Be. aus D. dem LG mit, dass nunmehr er die Vertretung des Nebenklägers übernommen habe und damit beauftragt sei, diesen im Revisionsverfahren zu vertreten; zugleich beantragte er Akteneinsicht. Mit weiterem Schreiben vom 02.07.2024 reichte er die Kopie einer Vollmacht zur Akte. Unter dem 05.07.2024 begründete er die Revision für den Nebenkläger und erhob die Sachrüge.

Das Revisionsverfahren war sodann seit dem 11.09.2024 beim BGH anhängig, am selben Tage erfolgte auch die Zustellung des Verwerfungsantrags des Generalbundesanwalts an Rechtsanwalt Be. Mit Beschluss vom 18.11.2024 hat der Senat die Revision des Nebenklägers  als unzulässig verworfen (§ 349 Abs. 1 StPO).

Erst mit Schreiben vom 19.11.2024 beantragt dann Rechtsanwalt Be. für den Nebenkläger, diesem als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 StPO beigeordnet zu werden. Der BGH hat den Antrag abgelehnt:

„Der Antrag hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen des § 397a Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

1. Der nunmehr beantragten Beiordnung steht schon entgegen, dass dem Nebenkläger bereits durch das Landgericht wirksam ein Rechtsanwalt als Beistand gemäß § 397a Abs. 1 StPO bestellt worden ist; eine Entpflichtung ist nicht erfolgt. Die Bestellung nach § 397a Abs. 1 StPO wirkt dabei über die jeweilige Instanz hinaus und erstreckt sich auch auf die Revisionsinstanz (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2023 – 5 StR 559/23 mwN).

Die Bestellung zusätzlicher Beistände sieht das Gesetz nicht vor – eine der Regelung des § 144 StPO vergleichbare Vorschrift enthalten die §§ 395 ff. StPO nicht.

2. Der Bestellung steht zudem entgegen, dass der Antrag erst am 19. November 2024 und damit nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens beim Senat eingegangen ist. Ein Antrag, der erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt wird, bleibt im Allgemeinen aber von vornherein erfolglos (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2008 – 3 StR 48/08, NStZ-RR 2008, 255, 256; MüKo-StPO/Valerius, 2. Aufl., § 397a Rn. 35). Es handelt sich hier auch nicht um einen Fall, in dem eine rückwirkende Bestellung ausnahmsweise in Betracht kommt, weil der Antrag zwar rechtzeitig gestellt, er jedoch beispielsweise im Geschäftsgang vor der Entscheidung über das Rechtsmittel übersehen worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25. August 2000 – 2 StR 236/00, NStZ 2001, 106; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 397a Rn. 15 mwN).

3. Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass der Nebenkläger diese Beiordnung erstmals im Zusammenhang mit einem Rechtsmittel begehrte, das im Sinne des § 349 Abs. 1 StPO unzulässig war – in derartigen Fällen scheidet eine Bestellung als Beistand in der Regel ohnehin aus (BGH, Beschluss vom 24. März 1999 – 2 StR 637/98, BGHR StPO § 397a Abs. 1 Beistand 1; yer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 397a Rn. 11,12).“

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung?, oder: Achtung: Volltext zum „Kosteninteresse“ als Service

© MASP – Fotolia.com

Und dann hier noch zwei weitere Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, und zwar zwei Beschlüsse des LG Oldenburg, nämlich der LG Oldenburg, Beschl. v. 07.03.2022 – 4 Qs 76/22 – und der LG Oldenburg, Beschl. v. 24.02.2022 – 1 Qs 65/22. Beide lehnen die rückwirkende Bestellung ab, und zwar mit den bekannten/unzutreffenden Argumenten. Insoweit also nichts Neues und an sich auch nicht besonders berichtenswert.

Aber: Der beide Beschlüssen verweisen mal wieder auf das sog. „Kosteninteresseargument“ (vgl. hier aus dem LG Oldenburg, Beschl. v. 07.03.2022 – 4 Qs 76/229):

„bb) Auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte größtenteils die Ansicht vertreten, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht kommt, weil sie ausschließlich dem Zweck dient, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch die notwendige ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (OLG Hamburg, Beschl. v. 16.09.2020 —2 Ws 112/20; OLG Bremen, Beschl. vom 23.09.2020 – 1 Ws 120/20; OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.03.2021 – 1 Ws 12/21). Diese Einschätzung teilt die Kammer. Die rückwirkende Beiordnung ist auf etwas Unmögliches gerichtet und kann die notwendige Verteidigung eines Angeklagten für die Vergangenheit nicht mehr gewährleisten (OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020 -1 Ws 19/20).

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers widerspräche damit dem Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung. Denn das Institut ist insbesondere dazu bestimmt, dem Angeklagten einen rechtskundigen Beistand zu sichern und so einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (vgl. BGH, Beschl. v. 27.04.1989 —1 StR 627/88). Aus diesem Grund zählt § 140 StPO einzelne Fallgruppen auf, in denen die Verteidigung eines Beschuldigten durch einen Verteidiger als notwendig anzusehen ist. Dabei ist es unerheblich, ob der Beschuldigte in der Lage wäre, die Kosten der Verteidigung aus eigenen Mitteln aufzubringen oder nicht. Vielmehr knüpft das strafprozessuale Recht der notwendigen Verteidigung gerade nicht an die Bedürftigkeit der beschuldigten Person an. Dies kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass die Bestellungsvorschriften eine Bedürftigkeitsprüfung nicht vorsehen. Vielmehr hat der Beschuldigte bzw. Angeklagte im Falle einer späteren Verurteilung die Kosten seiner Verteidigung zu tragen, selbst wenn diese im Falle der Pflichtverteidigung zunächst (gegebenenfalls teilweise) aus der Staatskasse entrichtet wurden (vgl. LG Bonn, Beschl. v. 18.05.2021 — 63 Qs-920 Js 214/21¬41/21).

Entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht (so z. B. OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020 – Ws 962/20, WS 963/20 und hiernach nunmehr auch OLG Bamberg, Beschl. v. 29.04.2021 – 1 Ws 260/21), hat sich dies nach Einschätzung der Kammer auch nicht mit Blick auf die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26.10.2016 und die darauf beruhenden Änderungen aus dem Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 geändert. Denn nach Art. 4 dieser Richtlinie ist der „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ dann sicherzustellen, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“, mithin dann, wenn es für das weitere Verfahren von Bedeutung ist (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 16.09.2020 – 2 Ws 112/20). Die Richtlinie zielt aber gerade nicht darauf ab, den Beschuldigten nachträglich zu jeder Phase eines Verfahrens von den Kosten seiner Verteidigung freizuhalten (vgl. OLG Braunschweig, Beschl. vom 02.03.2021 – 1 Ws 12/21). Nach Abschluss eines Strafverfahrens kann eine Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren jedoch nicht mehr im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein. Sie kann das Verfahren in keiner Weise mehr beeinflussen. Eine derartige Änderung war auch vom Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie nicht gewollt (vgi. BT-Drucks. 19/13829, S. 2, 21f.). Es war insbesondere nicht das Ziel der Richtlinie, den Vergütungsanspruch des Verteidigers zu sichern.“

Dass das falsch ist, hat aber gerade noch einmal der Kollege Hillenbrand in einem schönen Beitrag in StRR 3/2022 dargelegt, den ich dann mal als „Service“ online gestellt habe. Kostenloser Download ist möglich. Damit kann man die Diskussion in der Frage ja mal anfeuern. Hier geht es dann zu dem Beitrag: „Die Vergütung des Pflichtverteidigers als notwendiges Element eines fairen Verfahrensvon RiLG T. Hillenbrand.

Im Übrigen: Ich verstehe nicht, warum das LG Oldenburg so viel Aufhebens um die Frage der Zulässigkeit der nachträglichen Beiordnung macht. Wäre von seinem Standpunkt aus doch jeweils gar nicht nötig gewesen, da man ja die Voraussetzungen für eine Beiordnung überhaupt verneint hat. Man hat ein bisschen den Eindruck, dass sich die Kammer unbedingt in der strittigen Frage äußern wollte.

Pflichti II: Und immer wieder nachträgliche Bestellung, oder: LG Gera und AG Heidelberg tun es auch

© Coloures-pic – Fotolia.com

Was wäre ein „Pflichti-Tag“ ohne Entscheidungen zu rückwirkenden/nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers. Dazu stehen bereits viele Entscheidungen – die meisten wohl positiv auf meiner Homepage. Und ich werde weiter berichten, damit man einen guten Überblick bekommt, welches Gericht wie entscheidet. Daher danke ich allen Kollegen, die Entscheidungen zu der Problematik ein geschickt haben und auch denen, die noch einschicken werden.

Ich weise heute dann auf:

Eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung kann erfolgen, wenn zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheidungsreifen Antrags auf Beiordnung ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag und das Erfordernis der Unverzüglichkeit bei der Bestellung nicht ausreichend beachtet wurde.

Die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig, wenn der Bestellungsantrag rechtzeitig gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Bestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt worden ist.

Pflichti I: Immer wieder rückwirkende Bestellung, oder: Du hast ja einen Wahlverteidiger…

© Coloures-pic – Fotolia.com

Heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen – verbunden mit einem herzlichen Dankeschön an alle Einsender.

Ich beginne mit dem Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ , gekoppelt mit der Frage: Welche Auswirkungen hat es, wenn der Beschuldigte einen Wahlanwalt hat.

Zu den Fragen drei Entscheidungen, und zwar den LG Neubrandenbrug, Beschl. v. 30.07.2021 – 23 Qs 86/21-, den LG Stralsund, Beschl. v. 23.08.2021 – 26 Qs 161/21 – und den AG Torgau, Beschl. v. 03.08.2021 – 5 Gs 163/21. Beide LG und das AG haben die nachträgliche Bestellung als zulässig angesehen.

Ich stelle hier aber mal nur die Gründe des Beschlusses des LG Neubrandenburg ein, weil die sich auch noch zu § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO verhalten:

„Gemäß § 140 Abs. 1 Ziff. 2 StPO liegt jedoch ein Fall der notwendigen Verteidigung deshalb vor, weil Gegenstand des Verfahrens ein versuchtes Verbrechen gemäß § 306 StGB gewesen ist. Dieser Tatvorwurf ist im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO eröffnet worden. Im Gegensatz zur nicht ganz eindeutigen, wohl im nachfolgenden Sinne auszulegenden Auffassung in der Kommentierung von Schmitt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64.A, Rdr. 3 zu § 141) ist der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfes nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von § 163 a StPO – oder § 136 StPO – im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung hinreichend sind. Die in der Kommentierung genannten Fundstelle (BT-Drucks 19/13829 S 35) bezieht sich auf die Richtlinie 2013/48 EU. Diese setze voraus, dass die beschuldigte Person durch „amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise Kenntnis“ von der Verdächtigung der Begehung einer Straftat erhalten habe, womit Anträge aufgrund der Vermutung bestehender Ermittlungen unzulässig seien. Dem lässt sich entnehmen, dass nach Auffassung des Gesetzgebers Voraussetzung für die Möglichkeit der Antragstellung die Konfrontation von amtlicher Seite mit dem Tatvorwurf notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung ist. Ob der Begriff „auf sonstige Weise“ auch die Inkenntnissetzung durch Dritte – etwa durch Mitbeschuldigte, deren Verteidiger Akteneinsicht hatten – mit umfasst, kann dahinstehen, erscheint aber eher fraglich (vgl. Krawczyk, Beck StPO § 141 Rdr. 4; weitergehend auf die bloße Kenntnis des Beschuldigten abstellend LG Magdeburg 25 Qs 233 Js 9703/19 (65/20), 25  65/20)

Der Tatverdacht wurde dem Beschuldigten noch am 16.3.2021 durch die Polizeibeamten mitgeteilt, der Verteidiger wurde noch in der Nacht informiert, nach Aktenlage wohl auch darüber, dass eine Ingewahrsamnahme erfolgt und möglicherweise eine richterliche Vernehmung anstehe. Dies ist jedenfalls im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO eine amtliche Mitteilung.

Da die Neufassung der Vorschriften über die Pflichtverteidigerbestellung eine zeitnahe Beiordnung eines Verteidigers ermöglichen soll, ist nach Auffassung der Kammer in der Regel die vorläufige tatbestandliche Einordnung im Zeitpunkt des Tatvorwurfes oder zumindest im Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend.

Zu beiden Zeitpunkten war der Vorwurf der versuchten Brandstiftung Gegenstand des Ermittlungsverfahrens.

Sofern man die Meinung vertreten will, die rechtlich zutreffende Einordnung sei maßgebend, würde dies im Ergebnis nichts ändern. Der bisher ermittelte Sachverhalt ergibt nach Auffassung der Kammer Tatverdacht in Bezug auf eine versuchte Brandstiftung. Mit dem Übergießen mit Benzin, dem Anbringen benzingetränkter Tücher unter den Wischerblättern und dem Beisichführen von Feuerzeugen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nach den Tätervorstellungen ein Zeitpunkt erreicht, dem die Inbrandsetzung unmittelbar folgen soll, vorausgesetzt die Feuerzeuge waren funktions-tüchtig griffbereit mitgeführt (vgl. die Erwägungen in BGH 3 StR 28/06).

3. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO. Zum einen bezieht sich die Ausnahmevorschrift nur auf die Fälle, in denen unabhängig von einem Antrag von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre, zum anderen haben sich die Untersuchungshandlungen nicht in der Einholung von Registerauskünften und der Beiziehung von Akten erschöpft. Es wurden nämlich versucht, eine Zeugenaussage einzuholen, eine Beschlagnahme wurde richterlich bestätigt und ein KTU-Antrag vorbereitet.

Nach dem Verfahrenslauf kann auch von einer Absicht, das Verfahren „alsbald“ einzustellen nicht ausgegangen werden.

4. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens steht der – nachträglichen – Beiordnung nicht entgegen……

…. Jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation ist davon auszugehen, dass aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 und des nunmehr ausdrücklich konstituierten Unverzüglichkeitsgebots des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bei dessen Missachtung eine rückwirkende Bestellung möglich ist, wobei im Fall einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO auch zu bedenken ist, dass ein eingestelltes Ermittlungsverfahren jederzeit wieder aufgenommen werden kann.

Das zum früheren Recht vorgebrachte Argument der Obergerichte, die Beiordnung diene nicht „fiskalischen Interessen“, sondern nur der Gewährleistung der Verteidigungsmöglichkeit, solange diese notwendig erscheint, greift jedenfalls bei der nunmehr geänderten Rechtslage nicht mehr. Zum einen ist die Gesetzesänderung in der Umsetzung einer EU-Richtlinie erfolgt, die die finanziellen Möglichkeiten des Beschuldigten als eine wichtige Voraussetzung für die Beiordnung erachtet, zum anderen ist der Gesamtzusammenhang der Regelungen nunmehr auf schnellstmögliche Umsetzung des Anspruchs auf Beiordnung eines Verteidigers gerichtet, wie auch die Tatsache zeigt, dass das zuvor gültige Rechtsmittel der einfachen Beschwerde nunmehr durch das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ersetzt worden ist. Bei gesetzeskonformer Handhabung der einschlägigen Vorschriften tritt das Problem der nachträglichen Beiordnung nur noch in Ausnahmefällen auf, die nicht gesetzeskonforme Handhabung durch die Ermittlungsbehörden bedarf der Korrektur durch die Eröffnung der Möglichkeit nachträglicher Beiordnung (vgl. zur aktuellen Rechtslage mit im wesentlichen gleicher Auffassung OLG Nürnberg Ws 962/20; OLG Bamberg, 1 Ws 260/21; LG Hamburg 604 Qs 6/21; LG Bochum 11-10 Qs – 36 Js 596/19 – 6/20; LG Aurich 12 Qs 78/20; unentschlossen Meyer-Goßner/Schmitt § 142, Rdr. 20; die nachträgliche Beiordnung weiterhin ablehnende Entscheidungen beziehen sich überwiegend nicht auf solche einer Beantragung nach § 141 Ab. 1 Satz 1, etwa OLG Hamburg StraFo 2020, 486; die bei Mey-er-Goßner/Schmitt benannte Entscheidung des OLG Brandenburg NStZ 2020, 625 bezieht sich zudem entgegen der dortigen Ausführungen auf die vor dem 10.12.2019 geltende Rechtslage).“

Und zum „Einwand“: Du hast ja einen Wahlanwalt führt das LG Neubrandenburg aus:

„5. Dass der Beschuldigte durch den Wahlverteidiger „ausreichend vertreten“ wurde, ist auch nach der neuen Rechtslage entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nach dem Willen des Gesetzgebers ohne Relevanz.

Dazu BT-Drucks 19/13829, S 36: „Außerdem ist Grundvoraussetzung für die Antragstellung, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen. Damit soll der Vorrang der Wahlverteidigung (vgl. § 141 Absatz 1 StPO-E) aufrechterhalten werden.“

Der Verteidiger hat die Niederlegung des Wahlmandates für den Beiordnungsfall zumindest im Schriftsatz vom 18.5.2021 angekündigt, es ist aber von einer dahingehenden konkludenten Erklärung bereits im Schriftsatz vom 27.4.2021 auszugehen.“

Ganz anders zum letzten Punkt dann der AG Rostock, Beschl. v. 24.08.2021 – 23 Ds 161/21, der mich – gelinde ausgedrückt – etwas ratlos zurücklässt. Am AG Rostock scheint die Rechtsprechung der letzten Zeit vorbei gegangen zu sein bzw.: Man hätte sich ja mal zur Frage der konkludenten Niederlegung äußern können:

„Vorliegend beantragte der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, kündigte jedoch nicht an, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Angeschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung am 07.05.2021 bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.“

Pflichti II: „Rückwirkungsentscheidungen“, oder: Nachträglicher Pflichtverteidiger/nachträgliche PKH

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Das zweite Posting enthält dann zwei Entscheidungen zur „Rückwirkung“, und zwar einmal nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers und dann noch die rückwirkende Bewilligung von PKH.

Zunächst hier der LG Bielefeld, Beschl. v. 16.04.2021 – 2 Qs 138/21 – zur nachträglichen Bestellung. Das LG folgt der m.E. h.m. in der Rechtsprechung der LG, die die nachträgliche Bestellung als zulässig ansehen nicht. M.E. falsch, da damit der Umgehung der Neuregelung Tür und Tor geöffnet wird, aber muss man – leider – akzeptieren.

Und als zweite „Rückwirkungsentscheidung“ dann der BGH, Beschl. v. 18.03.2021 – 5 StR 222/20 – zur rückwirkenden Bewilligugng von Prozesskostenhilfe für den Nebenkläger im Adhäsionsverfahren. Die hat der BGH – in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung – abgelehnt:

2. a) Eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt nicht in Betracht. Nach § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen Prozesskostenhilfe für eine „beabsichtigte“ Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung. Grundsätzlich muss die Förderung eines noch nicht abgeschlossenen Rechtsstreits in Rede stehen. Aufgabe der Prozesskostenhilfe ist es demgegenüber nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz kommt demgemäß die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht mehr in Betracht. Etwas anderes gilt ausnahmsweise für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (BGH, Beschlüsse vom 13. Oktober 2010 – 5 StR 179/10; vom 25. Juli 2017 – 3 StR 132/17; vom 7. März 2018 – 5 StR 587/17; Zöller-Schultzky, 33. Aufl., § 127 Rn. 12, 18). Daran fehlt es hier, weil der Antrag des Nebenklägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erst am 9. November 2020, nach Erlass des – das Verfahren rechtskräftig beendenden – Senatsbeschlusses vom 1. September 2020, beim Bundesgerichtshof eingegangen ist.

b) Für eine Wiedereinsetzung nach § 44 StPO ist kein Raum. Der Wiedereinsetzungsantrag mit dem Ziel, das Verfahren in den Stand vor Erlass der Senatsentscheidung vom 1. September 2020 zurückzuversetzen, ist unzulässig, da keine Frist versäumt wurde. Die bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss reichende Zeitspanne, innerhalb der ein Prozesskostenhilfeantrag gestellt werden kann, ist weder bestimmt noch im Voraus bestimmbar und somit keine Frist im Sinne des § 44 StPO (BGH, Beschluss vom 10. Juli 1996 – 2 StR 295/96 [für den vergleichbaren Fall des Anschlusses als Nebenkläger]).