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Pflichti III: Und nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Einmal richtig, zweimal falsch

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Und dann – wie gewohnt – zum Schluss noch etwas zum „Dauerbrenner“ Zulässigkeit  der rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers. Die Porblematik ist nicht erledigt.

Ich habe dann zunächst den positiven und richtigen AG Koblenz, Beschl. v. 10.07.2023 – 30 Gs 5496/23. Das macht es so, wie die m.e. inzwischen wohl überwiegende Meinung: Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist danach dann zulässig, wenn der Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Vor-aussetzungen des § 140 StPO vorliegen und die Entscheidung über die Beiordnung nicht unverzüglich erfolgte, sondern wegen justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Also die Entscheidung bitte merken 🙂 .

Vergessen sollte man hingegen den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 21.07.2023 – 5a Ws 1/21 – und den LG Berlin, Beschl. v. 20.06.2023 – 534 Qs 97/23. Beide lehnen die Möglichkeit einer rückwirkenden Bestellung ab. Die Argumente sind bekannt.

Nun, m.E. sind sie falsch. Vor allem auch, weil diese Rechtsprechung des zögerliche Handeln von StA und/oder Gerichten nachträglich „absegnet“. Der Sachverhalt zu OLG Frankfurt am Main ist ein „schönes“ Beispiel. Die „Erinnerung“ des Kollegen stammte aus Juni 2021. Allerdings sollte man dann nicht mehr lange warten und immer wieder erinnern. Vielleicht hilft es ja 🙂 . Obwohl ich beim OLG Frankfurt am Main wenig Hoffnung habe.

Dem LG berlin empfehle ich, vielleicht in dem Textbaustein doch mal die Rechtsprechung auszutauschen. Wenn man nach einer Gesetzesänderung im Jahr 2019 noch mit Rechtsprechung aus 1989 argumentiert, macht sich das m.E. nicht so gut. Zumal es ja auch genügend Entscheidungen gibt, die die falsche Auffassung stützen könnten.

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Der „Kampf“ geht weiter

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Und im dritten Posting dann, wie könnte es sein, noch zwei Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, dem Dauerbrenner im (neuen) Recht der Pflichtverteidigung.

Hier dann der mal wieder sehr schön begründete LG Gießen, Beschl. v. 26.06.2023 – 1 Qs 12/23, den ich mal wieder voll einstelle, weil er die Argumente für die Zulässigkeit noch einmal sehr schön zusammenstellt:

„Die zulässige, insbesondere statthafte (§ 142 Abs. 7 StPO), sofortige Beschwerde ist begründet.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die sofortige Beschwerde lag zwar kein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 68 JGG i.V.m. § 140 StPO) mehr vor, weil das Verfahren gegen den Beschuldigten zwischenzeitlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Über einen Antrag auf Beiordnung ist jedoch gemäß § 141 Abs. 1 StPO (i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG) unverzüglich, d.h. so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, also ohne sachlich nicht begründete Verzögerung zu entscheiden (vgl. Meyer-Goßner/Sch-mitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 7; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, JGG, 11. Auflage 2021, § 68a Rn. 3). Gemäß § 142 Abs. 1 StPO legt die Staatsanwaltschaft den Antrag eines Beschuldigten unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vor.

Insofern ist innerhalb der Rechtsprechung jedoch umstritten, ob eine Bestellung auch noch rückwirkend etwa nach Ende des Verfahrens erfolgen kann, wenn trotz rechtzeitiger Antragstellung durch justizinterne Vorgänge eine solche unterblieben ist (vgl. u.a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 142 Rn. 30; Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15). Das praktische Interesse der Beschuldigten liegt in diesen Fällen vielfach darin, dass mit der nachträglichen Bestellung, d.h. mit dem rückwirkenden Übergang von der Wahl- zur Pflichtverteidigung, eine Befreiung von den Verteidigerkosten einhergehen kann. Insofern wird — zumindest in Jugendstrafverfahren im Hinblick auf den Grundgedanken des § 2 Abs. 1 JGG und dem folgend der Kostenbefreiung sowie dem Anliegen, erhebliche finanzielle Belastungen wegen ihrer spezialpräventiv abträglichen Implikationen zu vermeiden — vielfach vertreten, eine Bestellung sei auch noch rückwirkend nach Abschluss des vorzunehmen (vgl. Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15; LG Neubrandenburg, BeckRS 2016, 20411; BeckOK StPO/Krawczyk. a.a.O. § 142 Rn. 30; LG Bonn, BeckRS 2010, 6327; AG Kempten, BeckRS 2019, 23506). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 09.12.2019 eine Stärkung des Rechts beschuldigter Personen auf Verteidigung im Strafverfahren zur Folge hat.

Von der obergerichtlichen Rechtsprechung wurde eine rückwirkende Bestellung nach Verfahrensabschluss bislang überwiegend abgelehnt, da eine Beiordnung weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen solle, sondern lediglich dem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, a.a.O. § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30; OLG Brandenburg, NStZ 2020, 625; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. März 2022 —1 Ws 28/22 (S) juris; BGH, NStZ-RR 2009, 348; OLG Bremen, NStZ 2021, 253).

Die Kammer folgt jedoch der Auffassung, dass es ausnahmsweise möglich und geboten ist, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO bzw. § 68 JGG) vorliegen, der Beiordnungsantrag noch vor (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens gestellt wurde und der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde (vgl. u.a. OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 — 4 Ws 529/22 —, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 —1 Ws 260/21 —, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962/20 juris; LG Düsseldorf, BeckRS 2021, 36883; LG Köln NStZ 2021, 639; LG Wuppertal BeckRS 2021, 32474; LG Bremen, Beschluss vom 17. August 2020 — 3 Qs 221/20 juris; LG Hechingen, BeckRS 2020, 14359; LG Magdeburg, BeckRS 2020, 2477; LG Saarbrücken, Beschluss vom 26.02.2004 — 4 Qs 10/04 1, juris Ls.; a.A. u.a.: OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. Februar 2023 — 7 Ws 30/23 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Oktober 2012 —111-3 Ws 215/12 —, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20 —, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 — 1 Ws 12/21 —, juris; KG Berlin, Beschluss vom 5. November 2020 — 5 Ws 217/19 —, juris). Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine an sich gebotene Pflichtverteidigerbestellung wegen verzögerter Sachbearbeitung vermieden wird und eine effektive Verteidigung wegen der ungeklärten Kostenfrage unterbleibt (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30 m.w.N.).

Die Voraussetzungen des Ausnahmefalls sind vorliegend erfüllt. Der Antrag auf Beiordnung wurde auf die Übersendung einer schriftlichen Anhörung an den Beschuldigten bereits am 21.06.2022 gestellt. Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 68 JGG lagen vor. Im Falle der Anwendung von Jugendstrafrecht hätte im Falle einer Verurteilung im Hinblick auf die Einbeziehung der früheren Verurteilung durch das Landgericht die Bildung einer Einheitsjugendstrafe (§ 31 Abs. 2 JGG) gedroht, sodass ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 68 Nr. 5 JGG vorgelegen hätte (vgl. BeckOK JGG/Noak, 29. Ed. 1.5.2023, JGG § 68 Rn. 27 m.w.N.). Insoweit kann es auch bereits dahinstehen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO (i.V.m. § 68 Nr. 1 JGG) begründet war (vgl. Meyer-Goß-ner/Schmitt, a.a.O., § 140 Rn. 23c), weil der Beschuldigte für den Fall einer neuerlichen Verurteilung — soweit es nicht zu einer Einbeziehung gekommen wäre — mit dem Widerruf der Bewährung aus dem Urteil des Landgerichts Gießen (1 KLs 605 Js 3922/21) — Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren auf Bewährung — hätte rechnen müssen. Schließlich ist die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Eine Entscheidung über den Antrag auf Beiordnung vom 21.06.2021 hätte zeitnah nach dessen Eingang ergehen müssen. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Der Anhörungs-bogen wurde dem Beschuldigten mit Datum vom 10.06.2022 übersandt. Eine Entscheidung über den Antrag ist aufgrund justizinterner Vorgänge bis zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO am 13.12.2022 unterblieben. Das Schreiben des Verteidigers ging zunächst am 21.06.2022 beim Polizeipräsidium Mittelhessen eingegangen. Das Verfahren wurde mit Abverfügung vom 18.08.2022 an die Staatsanwaltschaft Gießen abgegeben und ging dort am 23.08.2022 ein. Erst mit Verfügung vom 28.02.2023 wurde die Sache — nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO und Erinnerung des Verteidigers an seinen Antrag — an das Amtsgericht Gießen mit dem Antrag, den Verteidiger als Pflichtverteidiger zu bestellen abgegeben. Von einer zeitnahen Entscheidung kann daher nicht mehr die Rede sein.“

Und aus den zutreffenden Argumenten des LG Gießen ist die Auffassung des LG Frankfaurt am Main, das im LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.06.2023 – 5/27 Qs 22/23 – eine rückwirkende Bestellung abgelehnt hat, falsch. Wir schenken uns daher Näheres zu dem Beschluss.

U-Haft II: Zusätzliche Beschränkungen in der U-Haft, oder: Das geht nicht „standardmäßig“

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Und als zweite Entscheidung zu Haftfragen dann hier der LG Stuttgart, Beschl. v. 18.04.2023 – 9 Qs 22/23. Das ist einer der Beschlüsse, bei dem man nach dem Lesen weiß, dass das AG „nicht glücklich“ damit ist/sein wird.

Es geht um die Anordnung Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO in einem Verfahren wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit einer Schusswaffe u.a. Das AG hatte neben der U-Haft wegen Fluchtgefahr zusätzlich angeordnet, dass Besuche sowie die Telekommunikation des Beschuldigten der Erlaubnis bedürfen und zu überwachen sind. Auch sei der Schrift- und Paketverkehr zu überwachen. In den Beschlussgründen wurdeausgeführt, dass die Anordnungen „wegen des Vorliegens der Haftgründe erforderlich und zumutbar seien. Zudem entsprächen die Anordnungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bestehe die Gefahr, dass der Beschuldigte Fluchtversuche unternimmt, da er schon vor der Festnahme untergetaucht gewesen sei.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für den Erlass beschränkender Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

1. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Stuttgart, der die Strafkammer folgt, sind Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders als durch die in Rede stehenden Beschränkungen abgewehrt werden können (OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Februar 2022 — 1 Ws 21/22, juris Rn. 8). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll aus grundrechtlichen Erwägungen jede Beschränkung auf ihre konkrete Erforderlichkeit geprüft und begründet werden, eine standardmäßige Beschränkung der Rechte des Untersuchungsgefangenen ist nicht zulässig (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Januar 2021 — 3 Ws 7-9/21). Bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO ist insbesondere dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014 — 2 BvR 1513/14, juris Rn. 18).

Hieraus folgt insbesondere, dass beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO nur dann zulässig sind, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauchen könnte, genügt hingegen nicht (OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Bremen, Beschluss vom 10. Mai 2022 —1 Ws 30/22).

2. Von diesen Maßstäben ausgehend hält der angefochtene Beschluss der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Konkrete Anhaltspunkte für eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke werden in der Entscheidung des Amtsgerichts nicht dargelegt und sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Angeklagte, sei es aus der Justizvollzugsanstalt heraus oder mithilfe von auf freiem Fuß befindlichen dritten Personen, Fluchtvorbereitungen getroffen hätte.

a) Dabei hat die Strafkammer nicht übersehen, dass sich der Beschuldigte einem vor dem Amts-gericht Ellwangen geführten Strafverfahren durch Flucht entzogen hatte und erst nach mehreren Monaten und umfangreichen Fahndungsmaßnahmen festgenommen werden konnte. Dieser Umstand rechtfertigt die Anordnung von Haftbeschränkungen jedoch nicht, wenn es, wie vorliegend, an konkreten Anhaltspunkten für aktuelle Fluchtplanungen fehlt. Denn in solchen Fällen wird der Gefahr der Flucht eines Beschuldigten bereits durch dessen Inhaftierung hinreichend begegnet, zumal ein Entweichen aus der Untersuchungshaft anderer Planungen bedarf als das Untertauchen eines Beschuldigten, der sich auf freiem Fuß befindet (OLG Stuttgart a.a.O., juris Rn. 11).

b) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Beschuldigte strafrechtlich nicht unerheblich vorbelastet ist und nach polizeilichen Erkenntnissen der rechten Szene angehört.

Zwar kann zur Feststellung einer Gefahr, die die Anordnung von haftgrundbezogenen Beschränkungen rechtfertigen kann, auch auf tatsachengestützte allgemeine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden (OLG Bremen, Beschluss vom 7. September 2022 — 1 Ws 97/22). Ein Erfahrungssatz dahingehend, dass ein Beschuldigter, der sich vor seiner Inhaftierung der Festnahme durch Flucht zu entziehen versuchte, auch aus der Haft heraus Fluchtvorbereitungen trifft, besteht jedoch nicht (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Auch folgt eine konkrete Fluchtgefahr nicht allei-ne aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene.

c) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Vollzug der Untersuchungshaft für den Be-schuldigten schon allein aus Gründen der Sicherheit und Ordnung in der Vollzugsanstalt nach den einschlägigen justizvollzugsrechtlichen Vorschriften des Landes Baden-Württemberg mit di-versen Beschränkungen verbunden ist, ohne dass es hierfür gesonderter Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO bedarf. So ermächtigen etwa die §§ 13, 14, 17, 19, 20 und 21 JVollzGB II die zuständige Justizvollzugsanstalt zu umfangreichen Überwachungsmaßnahmen im Zusammen-hang mit den Verkehr mit der Außenwelt und die §§ 43 bis 53 JVollzGB II rechtfertigen Maßnah-men zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt.“

Akteneinsicht II: Einsicht in die Handakten der GStA?, oder: Die Akten sind tabu

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.04.2023 – 2 VAs 4/23. Er behandelt eine Thematik, die immer mal wieder eine Rolle spielt. Nämlich die Frage der Akteneinsicht in die Handakten der GStA (oder der Senatshefte der Revisionsgerichte).

Die – so das OLG Karlsruhe – gibt es nicht:

„1. Soweit der Antragsteller die Verpflichtung der Generalstaatsanwaltschaft begehrt, seinem Verteidiger Einsicht in die Akten der Generalstaatsanwaltschaft – 35 AR 437/23 – zu gewähren, erweist sich der Antrag jedenfalls als unbegründet.

a) Der Senat lässt offen, ob für ein solches Begehren der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet ist. Ob der Antrag deshalb unzulässig ist, weil er nicht innerhalb der Monatsfrist des § 26 Abs. 1 EGGVG, die spätestens mit der Bekanntgabe der Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft am 31.01.2023 zu laufen begann, beim Oberlandesgericht einging, erscheint deshalb fraglich, weil der Antragsteller seitens der Generalstaatsanwaltschaft nicht auf etwaige Rechtsmittelmöglichkeiten hingewiesen worden war (§ 26 Abs. 2 S. 2 EGGVG).

b) Der Antrag ist aber jedenfalls unbegründet. Denn bei den Handakten der Generalstaatsanwaltschaft oder der Staatsanwaltschaft handelt es sich – ebenso wie bei Senatsheften der Revisionsgerichte – um rein innerdienstliche Akten, die vom Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 StPO nicht umfasst sind (vgl. Kämpfer/Travers in MüKo StPO, 2. Aufl. 2023, § 147 Rn. 17; Willnow in KK StPO, 9. Aufl. 2023, § 147 Rn. 8; Wessing in BeckOK StPO, 46. Ed., Stand 01.01.2023, § 147 Rn. 20 – jeweils m.w.N.; BGH NStZ 2001, 551 betr. Senatshefte des BGH; s.a. VG Würzburg, Urteil vom 17.09.2021 – W 10 K 20.1059 -, BeckRS 2021, 40158 betr. Handakten der Bußgeld- und Strafsachenstelle oder der Steuerfahndungsstelle). Ein Anspruch auf Einsicht in derartige innerdienstliche Akten würde zu einer Umgehung von § 147 StPO führen. Diese Norm regelt das Akteneinsichtsrecht im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens und vermittelt ein Einsichtsrecht nur in solche Akten, die dem Gericht vorliegen oder im Falle einer Anklageerhebung vorzulegen wären. Die Handakten der Staatsanwaltschaft, auch der Generalstaatsanwaltschaft, die ohnehin nur im Rahmen der Dienstaufsicht mit den Entscheidungen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren befasst ist, sind ebenso wie sonstige rein innerdienstliche Unterlagen, wie polizeiliche Arbeitsvermerke, Senatshefte, Hilfsdateien, Notizen oder rein formeller Schriftverkehr mit fremden Behörden, von der Vorlagepflicht nicht betroffen (vgl. VG Würzburg, a.a.O.).

Soweit der Antragsteller in seiner Stellungnahme vom 18.04.2023 über seinen ursprünglichen Antrag hinaus eine Vervollständigung der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft F. durch die Generalstaatsanwaltschaft aus ihrer Handakte begehrt, ist der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG bereits nicht eröffnet.

Über die Gewährung von Akteneinsicht entscheidet gemäß § 147 Abs. 5 StPO im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft. Die Gewährung vollständiger Akteneinsicht beinhaltet auch die mögliche Verpflichtung zur Herbeischaffung existenter, eventuell noch nicht bei den Akten befindlicher Unterlagen, soweit sie für die Beurteilung der Schuld – oder Rechtsfolgenfrage von Relevanz sein können (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 10.06.1980 – 1 VAs 60/79 -, BeckRS 1980, 3949; Kämpfers/Travers in MüKo StPO, a.a.O. § 147 Rn. 12 u. 13; vgl. auch BGH NStZ 2022, 561). Ob sich derartige Unterlagen, die für die Beurteilung der Schuld- oder Rechtsfolgenfrage in den genannten Ermittlungsverfahren in den Handakten der Generalstaatsanwaltschaft befinden, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Ein entsprechender Antrag auf Aktenerweiterung ist zunächst bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, vorliegend der Staatsanwaltschaft F., zu stellen. Rechtsschutz gegen deren Entscheidung ist danach – ggf. in analoger Anwendung – nur über § 147 Abs. 5 StPO zu erlangen. Für einen (zusätzlichen) Rechtsschutz nach §§ 23 ff. EGGVG ist darüber hinaus – wegen des Grundsatzes des Subsidiarität – kein Raum.“

Ähnlich OLG Hamm, Beschl. v. 05.08.2004 – 2 Ws 200/04 für Mitschriften der Berufsrichter aus der Hauptverhandlung.

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Viermal topp, zweimal hopp

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Im zweiten Posting dann der Dauerbrenner im Recht der Pflichtverteidigung, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers nach Erledigung des Verfahrens. Wie immer zwei Gruppen, „gute“ und „schlechte“ Entscheidungen:

Zunächst hier die „guten“ Entscheidungen, und zwar.

1. Eine nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Insofern sieht das geltende Recht zur effektiven Ausgestaltung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vor, dass ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen ist. Um eine Untergrabung dieses Rechts zu verhindern, kann dem Beschuldigten bei Missachtung dieser Abläufe – der ansonsten richtige – Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegengehalten werden, wenn das konkrete Verteidigungsbedürfnis nach dieser angemessenen Entscheidungszeit wegfällt. Es ist in solchen Fällen dann regelmäßig auf die Begründetheit des Antrags vor Wegfall – etwa durch Verfahrenseinstellung – abzustellen.
2. Eine Pflichtverteidigerbestellung hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann. Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Die Verteidigungsfähigkeit bemisst sich nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Einzelfalles. Eine Beiordnung ist indes bereits regelmäßig angezeigt, wenn an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erhebliche Zweifel bestehen.

Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellungen sind im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge auch noch nach Erledigung des Verfahrens – schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren – geboten.

Zur (bejahten) Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist dann angebracht, wenn der Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde. die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen und die Entscheidung über die Beiordnung nicht unverzüglich erfolgte, sondern wegen justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Und dann hier die „schlechten“ Entscheidungen, nämlich:

Die rückwirkende Bestellung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ist nicht zulässig.