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StPO II: Zwangsweise Abnahme von Fingerabdrücken, oder: Entsperren eines Mobiltelefons

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Als zweite LG-Entscheidung zur StPO stelle ich den LG Ravensburg, Beschl. v. 14.02.2023 – 2 Qs 9/23 jug. – vor. Es geht in der Entscheidung um die Zulässigkeit der Anordnung der – ggf. zwangsweisen – Abnahme von Fingerabdrücken des Beschuldigten für Zwecke der Entsperrung eines Mobiltelefons. Ist das zulässig und aufgrund welcher Grundlage? Das LG sagt: Zulässig, die Maßnahme wird durch § 81b Abs. 1 StPO gedeckt:

„Die zulässige Beschwerde des Beschuldigten hat in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage. Die Kammer teilt grundsätzlich die Auffassung des Amtsgerichts (1.). Die Kammer weicht lediglich insoweit von der Begründung des Amtsgerichts ab, als dass die Ermittlungsmaßnahme auch auf § 81a StPO gestützt wurde (2.).

1. Die Voraussetzung des § 81b Abs. 1 1 Var. StPO liegen vor (a)), die angeordneten Maßnahmen sind von der einschlägigen Ermächtigungsgrundlage gedeckt (b)) und insbesondere verhältnismäßig (c)).

a) Gegen den Beschuldigten wird ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit sowie des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln geführt.

b) Die Anordnung zur Abnahme von Fingerabdrücken des Beschuldigten auch gegen seinen Willen und erforderlichenfalls im Wege der zwangsweisen Durchsetzung (aa)), sowie die Anordnung zur Nutzung der hieraus resultierenden biometrischen Daten für Zwecke der Entsperrung des Mobiltelefons (bb)) finden ihre Grundlage in § 81b Abs. 1 StPO.

aa) 81b Abs. 1 1. Var. StPO ermächtigt schon dem Wortlaut nach zur Abnahme von Fingerabdrücken beim Beschuldigten. Die Maßnahme hat der Beschuldigte als Passivmaßnahme zu dulden (vgl. Rottmeier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (195)). Im Fall des Widerstands berechtigt § 81b Abs. 1 sogar die Anwendung unmittelbaren Zwangs, etwa durch Auflegen der Finger des Beschuldigten auf den Fingerabdrucksensor (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 81b Rn. 15). Deshalb verletzt die Maßnahme weder die in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Selbstbelastungsfreiheit, noch den Kernbereich des fairen Verfahrens aus Art. 6 EMRK (vgl. Auch Bäumerich, NJW 2017, S. 2718 (2721)).

Der Einwand in der Beschwerdebegründung, der Beschuldigte habe sich freiwillig Fingerabdrücke abnehmen lassen, lässt sich aus den, der Kammer vorliegenden Ermittlungsakten so nicht entnehmen. Die einzige freiwillige Mitwirkungshandlung war die Abgabe einer Urinprobe am Tag der Wohnungsdurchsuchung.

bb) Auch die Nutzung der festgestellten Fingerabdrücke für Zwecke des Entsperrens des Mobiltelefons des Beschuldigten. ist als „ähnliche Maßnahme“ von § 81b Abs. 1 StPO umfasst.

Bei dieser Maßnahme handelt es sich sicherlich nicht um den klassischen Fall, welcher dem Erlass des § 81b Abs. 1 StPO zugrunde lag. Dem historischen Gesetzgeber lag vielmehr die Vorstellung zugrunde, die festgestellten Fingerabdrücke mit den Tatortspuren oder den Abdrücken einer. Kartei zu vergleichen, um damit einen Tatnachweis führen zu können (Bäumerich, NJW 2017, S. 2718 (2721), m.w.N.). Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber dies nicht in der Deutlichkeit in den Gesetzeswortlaut aufgenommen hat. Vielmehr formulierte er den Gesetzes-wortlaut offen, in dem er als Auffangterminus „ähnliche Maßnahmen“ verwendet. Dennoch genügt die Norm dem erforderlichen Bestimmtheitsgrundsatz, da jede Maßnahme an den beiden genannten Modalitäten und der amtlichen Überschrift „erkennungsdienstlichen Maßnahmen“ gemessen werden muss. Durch die offene Formulierung wird erreicht, dass sich der statische Gesetzeswortlaut an den jeweiligen Stand der Technik anpasst (vgl. Rottmeier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (194)). Mit der „technikoffenen“ Formulierung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass auch solche Maßnahmen gedeckt sind, die dem gesetzlichen Leitbild der Abnahme und Verwendung von äußeren körperlichen Beschaffenheitsmerkmalen zu Identifizierungs- oder Tat nachweiszwecken entsprechen (vgl. Rottrneier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (195)). Im weiteren Sinn kommt der Nutzung der festgestellten Fingerabdrücke zum Entsperren eines Mobiltelefons auch eine• Identifizierungsfunktion zu (vgl. ebenda). Die Identifizierungsfunktion wird hier im Unterschied zum klassischen Fall des § 81b StPO allerdings nicht unmittelbar zum Führen eines Tatnachweises verwendet, sondern als Zwischenziel zur Erlangung der für den Nachweis erforderlichen ge-speicherten Daten. Inwieweit die Maßnahme notwendig für das Strafverfahren ist, ist eine Frage der noch zu thematisierenden Verhältnismäßigkeit. Die Verwendung von biometrischen Körpermerkmalen zur Entschlüsselung von Daten durch einen Abgleich mit den im Endgerät hinterlegten Schlüsselmerkmalen ist deshalb auch vom Wortlaut umfasst (vgl. ebenda; LG Baden-Baden Beschluss vom 26. November 2019 – 2 Qs 147/19; Goers in: BeckOK StPO, 46. Edition, 01.01.2023, § 81b Rn. 4.1).

Der Einwand in der Beschwerdebegründung, aus der Neufassung des § 81b sei zu schließen, dass die Norm den hiesigen Fall gerade nicht regeln soll, findet in den Gesetzgebungsmaterialien keinen Anklang. Die Änderung des § 81b StPO basiert auf der EU-Verordnung 2019/816 vom 17. April 2019, welche eine Verbesserung des europäischen Strafregisterinformationssystems bezweckt (vgl. BT-Drucksache Nr. 149/21 vom 12. Februar 2021). Der unveränderte Absatz 1 wurde um die Absätze 2 bis 5 ergänzt. Die neuen Absätze 2 bis 5 sind für den vorliegenden Fall aber unbedeutend. Aus den Gesetzesmaterialien geht ferner nicht hervor, inwieweit sich der Gesetzgeber gerade Gedanken über den Geltungsbereich des § 81b StPO für die Entsperrung von Mobiltelefonen mittels biometrischer Merkmale gemacht haben soll.

Die Kammer hebt schließlich hervor, dass § 81b Abs. 1 StPO lediglich die Verwendung der festgestellten Fingerabdrücke zur Entsperrung des Mobiltelefons deckt. Davon unterschieden werden muss unweigerlich der Zugriff auf die im Mobiltelefon gespeicherten Daten selbst, welcher nicht mehr von § 81b StPO umfasst ist.

c) Die Abnahme und Verwendung von Fingerabdrücken für das Entsperren des Mobiltelefons ist für Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens notwendig und mithin verhältnismäßig. Insbesondere bleibt das Grundrecht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung hinter dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafrechtspflege zurück.

Das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit ist zugleich eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2022 – 2 BvR 54/22; Beschluss vom 8. März 2011 – 1 BvR 47/05). Der Tatverdacht muss sich hinsichtlich derjenigen Straftat ergeben, deren Aufklärung die Maßnahme dienen soll, und sie muss hierzu geeignet und erforderlich sein, indem die damit zu gewinnenden Erkenntnisse für die zu führenden Ermittlungen förderlich sind. (vgl. Trück in: MüKo StPO, 2. Auflage 2023, § 81b Rn. 7; BGH vom 11. Oktober 2018 — 5 BGs 48/18, StV 2020, 145 (146); LG Wuppertal vom 12. Januar 2021 — 24 Qs 10/20, BeckRS 2021, 861).

Das Entsperren des Mobiltelefons soll in einem nachfolgenden Schritt die Erlangung der auf dem Mobiltelefon gespeicherten Daten ermöglichen. Der Zugriff auf die gespeicherten Daten kann in der Regel mit ähnlicher Begründung auf andere StPO-Normen wie etwa § 110 StPO gestützt werden. Das Entsperren des Speichermediums ist mithin ein notwendiges Zwischenziel. Letztlich sind die dadurch erlangten Daten geeignet, den Tatnachweis für den Verdacht des vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu führen. Die Maßnahme ist auch erforderlich, weil eine Entsperrung des Mobiltelefons per Code mangels freiwilliger Herausgabe durch den Beschuldigten und Nicht-Auffindens etwaiger Zugangspasswörter bei der Durchsuchung nicht möglich ist. Ein Zugriff auf die gespeicherten Daten kann unter gewissen Umständen je nach Modell zwar auch auf andere Weise erreicht werden. Ein solches Vorgehen ist jedoch aufgrund des Zeit- und Kostenaufwands nicht gleichermaßen effektiv im Vergleich zur hiesigen Maßnahme.

Die Verwendung der festgestellten Fingerabdrücke ist auch angemessen, da das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund der hier eher geringen Eingriffsintensität hinter dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung zurückbleibt. Bei der Abwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Speicherung der Fingerabdrücke von nur kurzer Dauer ist und der Zweck der Maßnahme mit dem Entsperren des Mobiltelefons erreicht ist. Auch in die Abwägung zu stellen ist der ermöglichte eingriffsintensivere Zugriff auf die gespeicherten Daten, welcher neben dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme tangiert. Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass es sich um eine offene Ermittlungsmaßnahme handelt. Dem Beschuldigten wird weiter eine Tat vorgeworfen, die die Grenze eines Bagatelldelikts deutlich übersteigt. Schließlich liegt eine nicht geringe Menge an Betäubungsmitteln vor. Zudem steht der Verdacht des Handelns mit den Marihuana-Zigaretten im Raum, sodass neben dem unrechtmäßigen Erwerb und Besitz ein möglicher Handel als weiteres Unrecht hinzutritt. Beachtlich ins Gewicht fällt ferner der Umstand, dass das Mobiltelefon selbst mit großer Wahrscheinlichkeit ein Tat- und Beweismittel darstellt. Es ist zu erwarten, dass die darauf gespeicherten Daten Auskunft über Bestellvorgänge sowie Kontakte zu Händlern und Abnehmern im Zusammenhang mit den beim Zoll entdeckten Marihuana-Zigaretten geben.

2. Hingegen scheidet § 81a StPO als Rechtsgrundlage aus, weil die Entsperrung eines Datenträgers durch Verwendung biometrischer Merkmale nicht als körperliche Untersuchung verstanden werden kann. Selbst bei Herstellung einer Verbindung zwischen Finger und Mobiltelefon durch direktes Auflegen des Fingers des Beschuldigten auf das Mobiltelefon, fällt nicht in den Bereich des § 81a StPO (vgl. Trück in: MüKo StPO, 2. Auflage 2023, § 81a Rn. 9). Für die Abnahme der Fingerabdrücke mittels Fingerabdrucksensor greift wegen des ausdrücklichen Wortlauts bereits § 81b StPO als Befugnisnorm ein, so dass eine parallele Anwendung oder ein Rückgriff auf § 81a StPO nicht erforderlich ist.“

Dazu kurz – mehr dazu demnächst vom Kollegen Deutscher im StRR:

Mir ist nicht ganz klar, warum das LG, da in der StPO ausdrücklich um die genannte Maßnahme der Aufnahme von Fingerabdrücken, auf die „ähnlichen Maßnahmen“ abstellt. Zudem führt § 81b StPO als übergreifenden Zweck die „Durchführung des Strafverfahrens“ an und lässt dazu als Mittel die Aufnahme von Fingerabdrücken eben zu. Zudem unterscheidet das LG auch ausdrücklich zwischen der Abnahme von Fingerabdrücken und dem (späteren) Zugriff auf die Daten des Mobiltelefons. Über die Ausführungen zur Verwendun g kann man streiten, und zwar sowohl, ob sie hier überhaupt (schon) erforderlich waren als auch inhaltlich.

Pflichti I: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: OLG Stuttgart, willkommen im Club

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Und am ersten Tag des neuen Monats dann gleich ein paar Entscheidungen zur Pflichtverteidigungsfragen.

Ich beginne mit dem verfahrensrechtlichen Dauerbrenner aus dem Bereich, nämlich der Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers. Und da gibt es dann heute mal etwas richtig Positives zu melden, nämlich nicht „nur“ einen weiteren LG- oder AG-Beschluss, der die zutreffende Ansicht vertritt, dass die rückwirkende Bestellung zulässig ist, sondern endlich auch mal wieder eine OLG-Entscheidung, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 Ws 529/22.

In der Sache ging es um einen der typischen § 154-er-Fälle. Das OLG hat dann – entgegen der Auffassung des LG Stuttgart – den Pflichtverteidiger nachträglich bestellt und begründet das wie folgt:

„2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg:

a) Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung auf seinen Antrag hin unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Vorliegend lag zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Denn der Beschwerdeführer befand sich seit 21. März 2022 in anderer Sache in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt.

bb) Er war auch unverteidigt im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO. Nach dem Wortlaut dieser Norm wird ein Pflichtverteidiger grundsätzlich nur bestellt, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. In Fällen wie diesem, in denen sich bereits ein Wahlverteidiger legitimiert hat, reicht es aus, wenn dieser ankündigt, im Moment der Bestellung als Pflichtverteidiger sein Wahlmandat niederzulegen (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 141 Rn. 4). Zwar enthält der Schriftsatz von Rechtsanwalt pp. vom 14. April 2022 eine solche Ankündigung nicht, dies steht der Beiordnung aber nicht entgegen. Denn auch der bloße Antrag des Wahlverteidigers, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger enden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.1982 – VI 5/82, StV 1983, 190; OLG München, Beschluss vom 06.03.1992 – 1 Ws 161/92, StV 1993, 65; Kämpfer/Travers in: MüKo, StPO, 2. Auflage, § 141 Rn. 4; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 141 Rn. 9).

cc) Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO war entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht möglich. Nach dieser Vorschrift kann eine Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden soll. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich aber auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen, § 141 Abs. 2 StPO. Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gemäß § 141 Abs. 1 ist sie nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Gegen eine unmittelbare Anwendung sprechen sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung innerhalb des § 141 StPO. Eine entsprechende Anwendung kommt mangels einer Regelungslücke nicht in Betracht (Krawczyk in: BeckOK StPO, § 141 Rn. 23 mwN).

b) Obwohl zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorlagen, hat das Landgericht dem Beschwerdeführer nicht unverzüglich (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO) Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet, sondern bis zum 9. November 2022 zugewartet, um dann das Verfahren einzustellen und den Beiordnungsantrag abzulehnen. In Fällen, in denen wie vorliegend die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde, ist es nach Auffassung des Senats ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung hat eine rückwirkende Beiordnung bislang mit dem Argument ausgeschlossen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Sie erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interessen eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Auch aus der Regelung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) folge nichts anderes, denn die Richtlinie sehe nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von Kosten freizuhalten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestehe gemäß Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie nur, wenn die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ein solches Erfordernis bestehe aber in rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr (OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268 Rn. 9-11; OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 – 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625; KG, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 Ws 30/20, BeckRS 2020, 9383 Rn. 13; OLG Hamburg Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077 Rn. 14; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, NStZ 2021, 253 (offengelassen für den Fall rechtzeitiger Antragstellung)).

bb) Teilweise wird die Ansicht vertreten, die rückwirkende Beiordnung sei jedenfalls dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt werde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO gegeben seien und die Entscheidung aus allein in der Sphäre der Justiz liegenden Gründen nicht vor Verfahrensabschluss erfolge. Dies ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie, wonach Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügten, ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zustehe, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Prozesskostenhilfe bedeute in diesem Zusammenhang die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden könne (Art. 3 PKH-Richtlinie). Geregelt sei nunmehr also, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden solle. Ziel und Zweck der Regelung sei eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil über den Antrag nicht vor Abschluss des Verfahrens entschieden werde. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO das Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. In der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sehe. Auch ein Vergleich mit den Regelungen bzgl. der Bewilligung von Prozesskostenhilfe spreche für die Möglichkeit einer rückwirkenden Beiordnung. So komme nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz grundsätzlich nicht in Betracht, etwas anderes gelte aber für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt worden sei, der nicht bzw. nicht vorab verbeschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20, BeckRS 2021, 8406 Rn. 4). Gründe, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers anders zu behandeln als einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, seien nicht ersichtlich (OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711 Rn. 14-19; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193 Rn. 22-26).

cc) Der Senat schließt sich der letztgenannten Ansicht an. Soweit von der gegenteiligen Auffassung eingewandt wird, Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie mache den Anspruch auf Prozesskostenhilfe davon abhängig, dass die Bewilligung im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei und eine solche Erforderlichkeit bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr bestehe, überzeugt dies insbesondere im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und damit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt (Kämpfer/Travers in: MüKOStPO, 2. Auflage, § 142 Rn. 14). Auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK wird das Recht einer angeklagten Person, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, davon abhängig gemacht, dass dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die „Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege“ wird in diesem Zusammenhang aber im Anschluss an die englische Sprachfassung („interests of justice“) nicht auf die Gesichtspunkte der Rechtspflege im Sinne objektiv-organisatorischer Erfordernisse reduziert, sondern vielmehr im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Angeklagten verstanden (Gaede in: MüKoStPO, 1. Auflage, EMRK Art. 6 Rn. 209). Ein Anlass, den Begriff der „Erforderlichkeit der Rechtspflege“ in der PKH-Richtlinie anders zu interpretieren besteht nicht, zumal in den Vorbemerkungen der Richtlinie ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Bezug genommen wird. Zur Verfahrensgerechtigkeit in diesem Sinne gehört es aber, die Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers danach zu treffen, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und ein entsprechender Antrag rechtzeitig gestellt wurde.“

Damit sind es dann insgesamt drei OLG, die die Frage zutreffend entscheiden.

Aus der übrigen, also der LG und AG-Rechtsprechung habe ich dann noch den LG Magdeburg, Beschl. v. 11.01.2023 – 25 Qs 712 Js 39489/22 (91/22). Das LG Magdeburg hat es schon immer richtig gemacht.

Pflichti III: Rückwirkende Bestellung unzulässig?, oder: Wenn schon, dann aber bitte „sauber argumentieren“

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Und zum Tagesschluss dann – wie könnte es anders sein – noch zwei Entscheidungen zur Zulässigkeit der rückwirkenden Beiordnung. Das ist der Dauerbrenner und er wird es wahrscheinlich auch bleiben, wenn nicht der Gesetzgeber oder der BGH – aber da muss man erst mal hinkommen 🙂 – die Frage endlich klären.

Bei den beideb Beschlüssen, die ich hier vorstelle, handelt es sich um den LG Berlin, Beschl. v. 21.12.2022 – 534 Qs 97/22 – und um den AG Neuruppin, Beschl. v. 10.11.2022 – 89 Gs 1790/22. Beide halten die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für nicht zulässig.

Ich erspare mir, die Beschlüsse hier weiter einzustellen. Denn sie bringen nichts Neues. Allerdings eine Anmerkung muss sein.

Es ist immer „erfrischend“, wenn zu der neuen Rechtslage – die Neuregelung ist seit 2019 in Kraft – mit Rechtsprechung aus den 90-ziger Jahren argumentiert wird, so in beiden Beschlüssen. Das LG Berlin stellt die beiden Auffassungen da und führt aus, dass die Meinung, die die rückwirkende Bestellung für zulässig ist, eine „Mindermeinung“ gewesen sei, was m.E. nicht stimmt. Und dann kommt man zur Ablehnung dieser Mindermeinung auch nach neuem Recht zwar mit dazu ergangener Rechtspechung, unterschlägt aber, dass es reichlich Entscheidungen von LG/AG und auch OLG gibt, die das anders sehen. Nun ja, kann man ja mal vergessen. Aber eine saubere Argumentation/Diskussion ist das nicht.

Das AG Neuruppin macht es nicht viel besser. Es schreibt zu „Mindermeinung“ einfach gar nichts.

 

StPO III: HVT mit dem Verteidiger abgestimmt, oder: Verlegung scheidet aus

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Und als letzte Entscheidung des Jahres, die nichts mit Gebühren zu tun hat – die kommen morgen noch, hier dann noch der OLG Saarbrücken, Beschl. v.14.12.2022 – 4 Ws 379/22. Es geht noch einmal um die Frage der Anfechtung einer Terminierungsentscheidung.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen verschiedener Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz erhoben. Der Angeklagte selbst ist wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt. Zwei seiner Mitangeklagten befinden sich seit dem 01.07.2022 in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 31.10.2022 hat der Vorsitzende der Strafkammer sämtliche Verteidiger über das elektronische Anwaltspostfach über die in Betracht kommenden Hauptverhandlungstermine informiert und um Mitteilung etwaiger Terminsverhinderungen binnen zwei Tagen gebeten. Der Verteidiger des Angeklagten hat die ihm möglichen Hauptverhandlungstermine – darunter den 20.01.2023 – mit Schreiben vom 08.11.2022 mitgeteilt. Mit Verfügung vom selben Tag hat der Vorsitzende der 4. Großen Strafkammer Hauptverhandlungstermine für den 04.01. 2023, 05.01.2023, 20.01.2023, 01.02.2023 und 07.02.2023 festgelegt und die Verteidiger hierüber noch am selben Tag in Kenntnis gesetzt.

Nach der am 30.11.2022 erfolgten Eröffnung des Hauptverfahrens und Ladung der Verfahrensbeteiligten zu den Hauptverhandlungsterminen hat der Verteidiger des Angeklagten die Aufhebung des für den 20.01.2023 bestimmten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zur Begründung hat er mitgeteilt, zwischenzeitlich sei in anderer Sache mit dem zuständigen Richter des Amtsgerichts Saarbrücken ein Hauptverhandlungstermin für diesen Tag abgesprochen worden. Die Ladung zu diesem Termin habe er am 21.11.2022 erhalten.  Der Kammervorsitzende hat eine Aufhebung des Verhandlungstermins unter Hinweis darauf abgelehnt, dass in dem umfangreichen Verfahren mit insgesamt sechs Verteidigern die Hauptverhandlungstermine im Vorfeld abgesprochen worden seien.

Gegen die Ablehnung der Verlegung des Termins hat der Verteidiger des Angeklagten ein unbenanntes Rechtsmittel eingelegt. Das OLG sagt dazu: zar zulässig – insoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext – aber leider erfolglos:

„2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.

a) Nach § 213 Abs. 1 StPO wird der Termin zur Hauptverhandlung von dem Vorsitzenden des erkennenden Gerichts anberaumt. Für wann Termin bestimmt wird, entscheidet er nach pflichtgemäßem Ermessen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; § 213 Rdnr. 6; KK-StPO/Schneider/Gmel, StPO, 8. Aufl., § 213 Rdnr. 1; Löwe-Rosenberg/Jäger, StPO, § 213 Rdnr. 10). Im Falle der Verhinderung des Verteidigers kann die Terminbestimmung ermessensfehlerhaft sein, wenn das Recht des Angeklagten auf freie Wahl des Verteidigers dadurch eingeschränkt wird, dass der Verteidiger das Mandat wegen terminlicher Verhinderung nicht wahrnehmen kann, weil er keinen Einfluss auf die Terminwahl nehmen konnte (Löwe-Rosenberg/Jäger a.a.O.). Umgekehrt kann und darf die Terminlage von Verteidigern in Haftsachen nur insoweit Berücksichtigung finden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BGH StV 2006, 680; KG Berlin, Beschluss vom 25. November 2016 – (4) 161 HEs 31/16 (30 – 34/16) –, juris; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 18 m.w.N.). Die Terminbestimmung erfolgt im Regelfall alsbald nach Eröffnung des Hauptverfahrens; Terminabsprachen können jedoch auch bereits vorher vorbehaltlich der Anklagezulassung erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 6). Über Terminverlegungsanträge entscheidet der Vorsitzende unter Berücksichtigung der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung, welchem in Haftsachen besonderes Gewicht zukommt, und der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten, zu denen auch das Interesse eines Angeklagten gehört, als Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren und auf eine wirksame Verteidigung durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu werden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2018 – 1 StR 415/17 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 02. Februar 2015 – III-5 Ws 36/15 –, juris; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 7 m.w.N.; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 17 m.w.N.).

b) Die Terminierung überprüft das Beschwerdegericht nur darauf, ob die Verteidigung im Vorfeld ausreichend beteiligt wurde und ob der Vorsitzende sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (OLG Frankfurt a.a.O.; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 18). Die Zweckmäßigkeit der Terminsbestimmung einschließlich der Möglichkeit einer anderen Terminsplanung und Terminierung ist der Nachprüfung des Beschwerdegerichts entzogen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 8 m.w.N.; Löwe-Rosen-berg/StPO, a.a.O., § 213 Rdnr. 8 m.w.N.).

c) Unter Anwendung dieser Grundsätze erweist sich die Beschwerde als unbegründet.

(1) Der Kammervorsitzende hat den Hauptverhandlungstermin vom 20. Januar 2023 erst anberaumt, nachdem der Verteidiger des Angeklagten ausdrücklich erklärt hatte, an diesem Tag zur Verfügung zu stehen. Die verbindliche Festlegung der Hauptverhandlungstermine erfolgte in zulässiger Weise bereits vor der Eröffnung des Hauptverfahrens durch Schreiben des Vorsitzenden vom 08. November 2022, und nicht – wie der Verteidiger meint – erst mit der Zustellung der Terminladungen.

(2) Die Entscheidung über die Ablehnung des Antrags des Verteidigers, den Termin vom 20. Januar 2023 zu verlegen, weist keine Ermessensfehler auf. Gegenstand der Prüfung des Beschwerdegerichts ist diesbezüglich die Verfügung des Vorsitzenden vom 01. Dezember 2022 in Gestalt der Nichtabhilfeentscheidung der Kammer vom 02. Dezember 2022, da diese mit der Ausgangsentscheidung verfahrensrechtlich eine Einheit bildet und sie ergänzend begründen kann (vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2016, 383; OLG Hamm, Beschluss vom 21. Dezember 2017 – III-5 Ws 578/17 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 306 Rdnr. 8). Die Strafkammer hat im Rahmen ihrer Entscheidung insbesondere nicht verkannt, dass ihr hinsichtlich der Frage einer etwaigen Verlegung des Termins vom 20. Januar 2023 ein Ermessensspielraum zustand, sondern ausdrücklich noch im Nichtabhilfeverfahren ein mögliches Abrücken von der Entscheidung des Vorsitzenden erwogen. Das Interesse des Angeklagten, auch im Termin vom 20. Januar 2023 von einem Verteidiger seiner Wahl vertreten zu werden, hat der Vorsitzende bereits in der Abstimmung des Termins mit dem Verteidiger in der gebotenen Weise berücksichtigt, also erkennbar nicht aus dem Blick verloren, jedoch in der gebotenen Weise zugleich die – hier angesichts der sich bereits über einen Zeitraum von nahezu sechs Monaten erstreckenden Inhaftierung gewichtigen (vgl. BVerfG NJW 2006, 672, 676; BGH NStZ 2007, 163; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-5 Ws 333/12 –, juris) – Interessen zweier Mitangeklagter an einer beschleunigten Verfahrensgestaltung in seine Erwägungen eingestellt. Soweit der Verteidiger meint, im Rahmen der getroffenen Entscheidung sei nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt worden, dass eine Ladung zu dem kollidierenden amtsgerichtlichen Termin bereits vor der in vorliegendem Verfahren erfolgt sei, vermag der Senat dem bereits deshalb nicht zu folgen, weil die Bestimmung der Hauptverhandlungstermine durch den Vorsitzenden der 4. Strafkammer bereits durch Schreiben vom 08. November 2022 erfolgt war, also bevor den Verteidiger am 21. November 2022 die amtsgerichtliche Ladung erreicht hat. Soweit der Verteidiger geltend macht, ihm sei nicht zuzumuten, Termine vorsorglich zu blockieren, liegt ein solcher Fall angesichts der verbindlichen Terminabsprache nicht vor.“

Pflichti III: Nochmals zur rückwirkenden Bestellung, oder: Uneinigkeit im Haus

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Und dann im letzten Beitrag noch einige Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Dazu kann man inzwischen feststellen, dass die wohl herrschende Meinung in der Rechtsprechung der LG/AG die rückwirkende Bestellung als zulässig ansieht. Das lässt sich in etwa folgenden Leitsätzen zusammenfassen:

1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. „Unverzüglich“ im Sinnde des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhlab von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nahc § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Dazu hier dann LG Flensburg, Beschl. v. 05.10.2021 – II Qs 45/21, LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 31.05.2022 – 5/6 Qs 20/22 zur (rückwirkenden) Bestellung im Strafbefehlsverfahren, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung die Bestellungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, LG Kiel, Beschl. v. 30.08.2021 – 1 Qs 30/21LG Kiel, Beschl. v. 22.7.2022 – 5 Qs 7/22 und LG Konstanz, Beschl. v. 10.09.2022 – 3 Qs 68/22.

Teilweise wird die rückwirkende Bestellung aber auch als unzulässig angesehen, wie z.B. hier der LG Kiel, Beschl. v. 31.03.2022 – 10 Qs 19722 und der AG Flensburg, Beschl. v. 04.08.2022 – 480 Gs 829/22.

Was mich immer erstaunt ist die teilweise uralte Rechtsprechung, die zur Stützung der ablehnenden Ansicht herangezogen wird, und: Warum ist man sich nicht innerhalb eines Gerichts einig, wie man entscheiden will – siehe die Entscheidungen aus Kiel 🙂 .