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Pflichti I: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: War die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig?

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Heute dann mal wieder ein „Pflichti-Tag“. Allerdings: So viele Entscheidungen wie sonst kann ich nicht vorstellen. Und: Es gibt nichts zur Rückwirkung: Versprochen 🙂 .

Ich starte mit dem LG Halle, Beschl. v. 19.09.2022 – 3 Qs 104/22. Er nimmt zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren Stellung, und zwar im Verfahren über den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung. Dazu führt das LG aus:

„In einem Strafvollstreckungsverfahren liegt entsprechend § 140 Abs. 2 StPO ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten, besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, dies gebieten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 140 Rn. 33, Krafczyk in: Beck’scher Online-Kommentar zur StPO, 44. Edition 01.07.2022, § 140 Rn. 51; OLG Celle, Beschluss vom 03. 12 2019 — 2 Ws 352/192 Ws 355/19 —, Rn. 12; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. 03. 2019 — 2 Ws 156/19 —, Rn. 4, jeweils zitiert nach juris). Dabei sind die Voraussetzungen einschränkend auszulegen, da im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich in deutlich geringerem Maße als im Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis für die Mitwirkung eines Verteidigers besteht, da Tatschwere und Rechtsfolgen bereits feststehen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.., OLG Celle a.a.O.., OLG Koblenz a.a.O.., s. a. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 02. 05. 2002 —2 BvR 613/02 —, Rn. 11, zitiert nach juris).

Nach diesen Maßstäben liegt hier zwar nicht allein deswegen ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil sich das Verfahren über den Bewährungswiderruf auf eine Freiheitsstrafe von neun Monaten bezieht. Bei der Entscheidung, ob wegen der Schwere des Vollstreckungsfalles ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, hat die Dauer der nach einem Bewährungswiderruf zu vollstreckenden Strafe außer Betracht zu bleiben (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22.11.2021 — 1 Ws 278/21 —, Rn. 7, m. w. N., zitiert nach juris). Selbst im Erkenntnisverfahren gilt im Übrigen in der Regel erst eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe als ausreichend schwere Rechtsfolge, um für sich genommen die Beiordnung eines Verteidigers zu erfordern (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.. Rn. 23).

Maßgeblich ist hier vielmehr, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. Das ist dann der Fall, wenn das Widerrufs-. Und Beschwerdeverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Fragen aufwirft, die Aktenkenntnis erfordern oder über die regelmäßig auftretenden Probleme hinausgehen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.11. 2021 —1 Ws 123/21 (S) Rn. 4; KG Berlin, Beschluss vom 14.09.2005 — 1 AR 951/055 Ws 399/05 —, Rn. 8; jeweils zitiert nach juris). Davon geht die Kammer hier allerdings aus. Zu beachten ist, dass nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft der Widerruf der Strafaussetzung auf die Begehung eines nicht einschlägigen, fahrlässig und — vor Verlängerung der Bewährungszeit —nur wenige Tage vor Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit begangenen Bagatelldelikts gestützt werden soll. Dabei führte die erste Nachverurteilung wegen einer nur drei Tage nach der zweitinstanzlichen Bewährungsverurteilung begangenen einschlägigen Tat, nämlich einer vorsätzlichen Körperverletzung, sowie eines weiteren, nur wenige Wochen später begangenen Verbrechens nur zu einer Verlängerung der Bewährungszeit. Inwieweit das der jetzigen Nachverurteilung zu Grunde liegende Delikt denkbar geringen Gewichts — allein oder unter Berücksichtigung der der ersten rechtskräftigen Nachverurteilung zu Grunde liegenden Delikte — geeignet ist, die Ausgangsprognose in Frage zu stellen und auch, inwieweit bei der Prognose, wie von der Staatsanwaltschaft in den Raum gestellt, die bisher noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen weiteren gegen den Verurteilten geführten Strafverfahren Berücksichtigung finden dürfen, ist eine Frage, die über das hinausgeht, was in Verfahren wegen eines möglichen Bewährungswiderrufs nach § 56f StGB regelmäßig zu prüfen ist. Es handelt sich um eine in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht schwierige Frage, die Aktenkenntnis zum zeitlichen Ablauf der Ereignisse und juristisches Fachwissen voraussetzt, das der Verurteilte nicht hat.“

Pflichti II: 3 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Gesamtstrafe, Unfähigkeit, Strafvollstreckung

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Und im zweiten Posting dann drei Entscheidungen zur den Beiordnungsgründen, allerdings jeweils nur die Leitsätze, da die „selbsterklärend“ sind:

Von der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i.S.d. § 140 Absatz 2 StPO ist auszugehen, soweit eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in Betracht. Drohen einem Beschuldigten dabei in mehreren Parallelverfahren Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und von denen anzunehmen ist, dass deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreichen werde, die das Merkmal der „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ i.S.d. § 140 Absatz 2 StPO, mithin mindestens eine (Gesamt-)Freiheitsstrafe von einem Jahr erfüllt, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Darauf, ob die in Frage stehenden Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung verbunden werden oder nicht, kommt es bei der Beurteilung nicht an.

Es können erhebliche Zweifel an der Fähigkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, bestehen, wenn aufgrund desolater psychischer und persönlicher Verhältnisse ersichtlich ist, dass er mit behördlichem Schriftverkehr (hier: Strafbefehl) und einer adäquaten Reaktion hierauf schlicht überfordert ist.

Dem Verurteilten ist im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn sich die Strafvollstreckungskammer eingehend mit dem aktuellen Gesundheitszustand des Verurteilten und bereits vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen auseinandersetzen und diese in Beziehung zu den begangenen Straftaten setzen muss und zudem der Vollstreckungsfall in rechtlicher Hinsicht Fragen aufwirft, die sowohl die Strafvollstreckungskammer als auch die Generalstaatsanwaltschaft zunächst verkannt haben.

U-Haft II: Nicht über 4 Jahre Haft + soziale Bindungen, oder: Außervollzugsetzung

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Die zweite Entscheidung stammt vom LG Halle. Das nimmt im LG Halle, Beschl. v. 16.09.2021 – 3 Qs 503 Js 6064/21 (96/21), den mir der Kollege Siebers aus Braunschweig geschickt hat – einer meiner „eifrigen“ Einsender – zum weiteren Vollzug der U-Haft, wenn einerseits eine Freiheitsstrafe von nicht über vier Jahren droht, aber andererseits erhebliche soziale Bindungen des Beschuldigten gegenüberstehen.

„Die Kammer hält wie das Amtsgericht den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO für gegeben. Im Falle einer Verurteilung hat der Beschuldigte — bei einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe gemäß § 29a Abs. 1 BtMG —aufgrund der hohen Menge Cannabis eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten. Die Kammer teilt die Ansicht des Amtsgerichts, dass die bestehenden sozialen Bindungen des Beschuldigten nicht ausreichen, um den daraus resultierenden Fluchtanreiz zu hemmen.

Allerdings geht die Kammer davon aus, dass die zu erwartende Freiheitsstrafe auch ohne strafmildernd zu berücksichtigendes Geständnis voraussichtlich nicht in einem Bereich von über vier Jahren liegen wird. Dabei sind insbesondere die vom Verteidiger vorgetragenen strafmildernden Umstände zu berücksichtigen und dass der Beschuldigte zwar bereits wegen eines Betäubungsmitteldelikts auffällig geworden ist, sich diese Vorstrafe aus dem Jahr 2019 jedoch lediglich auf eine Tat des unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit ‚Verstoß gegen das Waffengesetz“ aus dem Jahr 2017 bezieht, die im Strafbefehlsverfahren mittels einer Geldstrafe geahndet wurde, sowie die zwar erhebliche, aber nicht äußerst hohe Menge des Betäubungsmittels. Angesichts dieser Straferwartung ist die Kammer der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der sozialen Bindungen des Beschuldigten zu seiner Freundin, mit der er vor seiner Inhaftierung in einer eigenen Wohnung zusammenlebte und seiner festen Arbeitsstelle mit dem nicht unerheblichen Netto-Einkommen von ca. 2.300 EUR im Monat die erteilte engmaschige Meldeauflage und die Hinterlegung einer Kaution in Höhe von 15.000,00 EUR die hinreichende Erwartung begründen, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren stellen wird und so der Zweck der Untersuchungshaft auch auf diese Weise erreicht werden kann, so dass der Haftbefehl gemäß § 116 StPO außer Vollzug gesetzt werden konnte.“

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Dauer der Haft, mittelbare Nachteile, Höhe der (Gesamt)Strafe

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Das zweite Posting mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist den Beiordnungsgründen und allem, was damit zu tun hat, gewidmet. Auch hier stelle ich wegen der doch recht zahlreichen Entscheidungen nur die Leitsätze vor. Und zwar:

Bei der Prüfung der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen kommt es entscheidend auf die Bedeutung des Verfahrens für den Beschuldigten an, wobei neben der Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe auch Maßregeln der Besserung und Sicherung, Nebenfolgen oder mittelbare Nachteile in die Entscheidung einzubeziehen sind. Von Bedeutung ist daher, welche Folgen eine Verurteilung wegen des dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikts hat (für den Ausschlussgrund im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 lit c) GmbHG).

Bei dem Wegfall der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO ist zu prüfen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, nämlich wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr sollte in der Regel Anlass für eine Beiordnung eines Verteidigers geben.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 StPO und zur Bewertung des Tatverdachts durch das Beschwerdegericht.

Die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist unabhängig von der Dauer der Haft.

§ 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist ausdrücklich nur auf die Fälle des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO anzuwenden. Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf andere Fälle scheidet aus.

Pflichti I: 6 x Beiordnungsgründe, oder: u.a. AufentG, Waffengleichheit, Steuerhinterziehung, BVV, KiPo

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Heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Die Flut von Entscheidungen, die mir  Kollegen schicken, reißt nicht ab.

Ich starte mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

1. Verändert ein Zeuge im Verlaufe des Verfahrens seine Aussage und ist damit zu rechnen, dass Vorhalte notwendig werden, die Kenntnis vom Akteninhalt erfordern, ist die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.

2. Die Mitwirkung eines Verteidigers kann über den Wortlaut des § 140 Abs 2 StPO hinaus unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens geboten sein, wenn der Nebenkläger anwaltlich beraten ist.

Wird der Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung beim Kindergeldbezug verfolgt und kommt es für den Kindergeldanspruch wegen des grenzüberschreitenden Sachverhalts auf eine Koordinierung der Ansprüche nach Art. 68 Verordnung (EG) 883/2004 an, liegt regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung vor.

Zur verneinten Annahme der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers, obwohl nur Polizeizeugen zur Verfügung stehen, die zur Last gelegte Tat unter BtM-Einfluss begangen wurde und ein Beweisverwertungsverbot zu erörtern ist.

Die Entscheidung ist m.E. falsch. In Osnabrück hat man offenbar noch nie etwas von einem „Beiordnungsgründebündel“ gehört.

Wenn die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten — strafbewehrten — Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten, kollidiert und die Angeklagte für die Teilnahme an der Hauptverhandlung eine besondere Betretenserlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG und zudem die Verteidigungsmöglichkeiten wegen fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache, aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts eingeschränkt sind, ist die Sach – und Rechtslage schwierig i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Die Frage, ob ein Verteidiger beizuordnen ist, kann auch in einem Gesamtstrafenfall nicht losgelöst von allen in Betracht zu ziehenden Umständen des Einzelfalls entschieden werden.

In einem Verfahren wegen Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Schriften ist die Sach- und Rechtslage schwierig im Sinn des § 140 Abs. 2 StPO, da neben der Problematik der Inaugenscheinnahme der pornografischen Bilder ggf. ein Großteil der Beweismittel lediglich in englischer Sprache abgefasst vorliegen.