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Pflichti II: Strafe, Analphabet, Waffengleichheit, oder: Unverzügliche Bestellung

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Im zweiten Posting gibt es dreo Beschlüsse, und zwar zweimal von einem LG und einmal von einem AG.

Im LG Köln, Beschl. v. 11.12.2024 – 111 Qs 118/24 -, den ich ja heute morgen schon einmal vorgestellt hatte, hat das LG auch zu den Bestellungsgründen Stellung genommen, und zwar:

1. Von einem Fall der notwendigen Verteidigung wird regelmäßig erst ab einem Jahr drohender Freiheitsstrafe auszugehen sein.

2. Es kann aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist, wenn Mitangeklagte anwaltlich verteidigt werden, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten oder die Gefahr gegenseitiger Belastung besteht.

Das LG Bonn hat im LG Bonn, Beschl. v. 23.12.2024 – 63 Qs 61/24 – ebenfalls zur Schwere der Tat im Hinblick auf eine drohende Gesamtstrafe und dann noch einmal zur unverzüglichen Bestellung in Zusammenhang mit der rückwirkenden Bestellung Stellung genommen:

1. Eine Beschwer des Beschuldigten durch die Verweigerung einer nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung ist dann gegeben, wenn der Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt hat, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben, das Gebot der unverzüglichen Pflichtverteidigerbestellung missachtet wurde und dies auf behördeninterne Vorgänge zurückzuführen ist.

2. Zwar muss die Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden. Eine Entscheidung erst nach Ausermittlung ist nicht mehr „unverzüglich“.

3. Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist dabei, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht.

Und dann noch der Beschluss des AG Osnabrück. Das hat im AG Osnabrück, Beschl. v. 09.12.2024 – 245 Gs 1185/24 – zum Beiordnungsgrund der Unfähigkeit der Selbstverteidigung bei einem Analphabet Stellung genommen. Das AG hatte beigeordnet, dagegen die Beschwerde der StA, der das AG nicht abgeholfen hat:

„Die Unfähigkeit zur Selbstverteidigung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Beschuldigte Analphabetin ist. Unfähigkeit der Selbstverteidigung ist anzunehmen für einen Beschuldigten, der nur eingeschränkt lesen o. schreiben kann (OLG Celle StV 1983, 187; 1994, 8; LG Schweinfurt StraFo 2009, 105; LG Bielefeld StV 2020, 580) o. an Legasthenie leidet (LG Hildesheim StV 2008, 132), u. somit erst recht, wenn der Beschuldigte Analphabet ist (LG Berlin Beschl. v. 18.4.2019 – 504 Qs 52/19; LG Dortmund BeckRS 2017, 141444; LG Chemnitz BeckRS 2017, 125200; AG Bremen StV 2020, 580). Dem Gericht ist dabei bewusst, dass die Beschuldigte nicht glaubhaft gemacht hat, dass diese Angaben zutreffen. Im Zweifel ist jedoch zu ihren Gunsten davon auszugehen, dass die Angaben zutreffen.“

StPO III: „Vorweihnachtliches Pflichti-Potpourri“, oder: Haftentlassung, Gesamtstrafe und Rückwirkung

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Und zum Tagesschluss dann noch die Pflichtverteidigungsentscheidungen, die sich seit dem letzten Pflichti-Tag angesammelt haben. Es sind (nur) vier Stück, das reicht also nicht für einen ganzen Tag. Daher habe ich sie in diesem Posting zusammengefasst, stelle aber jeweils nur die Leitsätze vor.

Zunächst kommen hier zwei Entscheidungen zur Aufhebung der Bestellung des Pflichtverteidigers für den inhaftierter Mandanten nach dessen Haftentlassung, also ein Fall des § 140 Satz 1 Nr. 5 StPO. Das AG Siegen hatte im AG Siegen, Beschl. v. 24.10.2024 – 401 Ds-69 Js 794/24-745/24 – aufgehoben. Das hat das LG Siegen dann im Beschwerdeverfahren „gehalten“. Der LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 – 10 Qs-69 Js 794/24-94/24 – hat folgenden Leitsatz:

1. Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Es ist aber zu prüfen, ob nicht aus anderen Gründen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.

2. Zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Und dann hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 – 21 Qs 80/24 -, der sich noch einmal zur „Schwere der Tat“ äußert und auch zum Bestellungsverfahren – ohne Antrag – und zum Bestellungszeitpunkt, nämlich:

1. Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.

2. Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers.

Und natürlich der Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ mit zwei Entscheidungen, nämlich dem LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.11.2024 – 5/06 Qs 51/24  – und dem LG Meiningen, Beschl. v. 09.10.2024 – 6 Qs 141/24. Das LG Frankfurt am Main hat es richtig gemacht und hat die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen, das LG Meinigen hat sich hingegen bei den „ewig Gestrigen“ eingereiht, die von Unzulässigkeit der rückwirkenden Bestellung ausgehen. Die Leitsätze schenke ich mir hier, die sind bekannt 🙂 .

Pflichti I: 5 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Höhe der Strafe, Berufung der StA, Betreuer, KiPo

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Und heute ist dann mal ein „Pflichti-Tag“ mit einigen Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Da hat sich in der letzten Zeit einiges angesammelt.

Ich starte hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar – wie gehabt – nur mit den Leitsätzen, da es sonst zu viel wird:

Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in der Regel erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu bejahen.

Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung, wenn dem Beschuldigten ein Betreuer bestellt ist.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, drohen.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in einem sog. KiPo-Verfahren.
2. Die Sachlage ist unter anderem dann im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt. Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist.

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Eine fürs Töpfchen, eine fürs Kröpfchen

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Und dann – wie fast immer an einem „Pflichti-Tag“ – noch etwas zur rückwirkenden Bestellung. Ohne diesen Dauerbrenner geht es offenabr nicht. Heute habe ich zu der Problematik zwei Entscheidungen, eine „gute“ und eine „schlechte“, also „eine fürs Töpfchen und eine fürs Kröpfchen“.

Hier zunächst die „Töpfchen-Entscheidung“, nämlich der LG Erfurt, Beschl. v. 31.01.2024 – 7 Qs 313/23 -, von dem es aber nur die Leitsätze gibt, da die Problematik hier ja nun schon sehr häufig Thema war:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu diesem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über die Beiordnung aufgrund gerichtsinterner bzw. behördeninterner Vorgänge unterblieben ist.
2. Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist u.a. dann gegeben, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten ist. Dabei sind auch Verurteilungen aus anderen Verfahren, wenn diese zur Bildung einer Gesamtstrafe führen, zu berücksichtigen.

Und dann die „fürs Köpfchen“, und zwar der LG Limburg, Beschl. v. 26.01.2024 – 2 Qs 4/24 – auch nur mit dem Leitsatz:

Auch nach der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO durch die Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016 (sog. „PKH-Richtlinie“) und deren Umsetzung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 verbleibt es dabei, dass eine sog. rückwirkende Beiordnung als Pflichtverteidiger ausgeschlossen ist.

Mich überzeugt diese Entscheidung nicht. Ich halte die Rechsprechung, auf die verwiesen wird, für falsch. Und erst recht ist m.E. die Beschwerde in den Fällen nicht „unzulässig“. Die Beschwer ist nicht entfallen, sondern besteht, da man ja um die Bestellung streitet, fort.

Pflichti I: Schwere der Tat bei mehreren Verfahren, oder: Bestellung eines Betreuers

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Heute dann mal wieder ein Pflichti-Tag. Ein paar Entscheidungen haben sich angesammelt.

Ich beginne den Reigen mit zwei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Ein geringfügiges Delikt rechtfertigt nicht schon dann die Bejahung des Merkmals der „Schwere der Tat“ im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO, weil später voraussichtlich eine Freiheitsstrafe/ (Einheits-) Jugendstrafe von mehr als einem Jahr unter Berücksichtigung des hiesigen geringfügigen Delikts zu erwarten ist. Vielmehr ist eine Prüfung im Einfall erforderlich, ob das andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafe/Einheitsjugendstrafe das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöht, dass die Mitwirkung des Verteidigers geboten ist.

Es macht nicht jede Bestellung eines Betreuers – auch nicht für den Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden – die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich, sondern es ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Ist aber die Betreuung mit einem weiten Aufgabenkreis eingerichtet worden und besteht sogar ein Einwilligungsvorbehalt für Vermögensangelegenheiten ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen.