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Haft II: Menschenunwürdige Haft in Albanien, oder: Wird deshalb die nationale Haft unverhältnismäßig?

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann vom OLG Nürnberg. Das hat im OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.11.2021 – Ws 1069-1070/21 – zur Verhältnismäßigkeit von U-Haft bzw. eines nationalen Haftbefehls Stellung genommen, wenn sich der Beschuldigte im Ausland in Auslieferungshaft befindet.

Gegen den Beschuldigten besteht ein Haftbefehl des AG, der Grundlage eines am 06.05.2021 erlassenen Europäischen Haftbefehls ist. Der Beschuldigte wurde am 04.06.2021 in Albanien festgenommen und befindet sich dort aufgrund des gestellten Auslieferungsersuchens in Auslieferungshaft, nach Angaben seines Verteidigers in der Haftanstalt K.

Gegen den Haftbefehl des AG hat der Beschuldigte Beschwerde eingelegt, die das LG zurückgewiesen hat. Dagegen die weitere Beschwerde des Beschuldigten, diedas OLG zurückgewiesen hat.

Vorab: Es handelt sich um einen „Encrochat“-Fall. Die Ausführungen des OLg zum Beweisverwertungsverbot schenke ich mir hier.Das OLG führt dazu auch nicht selbständig aus, sondern verweist nur auf die Rechtsprechung der anderen OLG, die alle die gewonnenen Erkenntnisse für verwertbar halten.

Zur Verhältnismäßigkeit der Haft stellt das OLG dann fest:

„Die vom Beschuldigten im Schreiben seines Verteidigers vom 11.10.2021 vorgebrachten Haftbedingungen in der albanischen Haftanstalt K. führen nicht zur Unverhältnismäßigkeit der angeordneten Untersuchungshaft.

(1.)   Derzeit wird die Untersuchungshaft nicht vollzogen. Grundlage des derzeitigen Freiheitsentzugs ist die Anordnung der Auslieferungshaft in Albanien Einwendungen gegen den Vollzug der Auslieferungshaft sind im ersuchten Staat geltend zu machen.

Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 25. März 1981 – 2 BvR 1258/79 –, BVerfGE 57, 9-28) führt dazu aus, dass das Auslieferungsersuchen weder unmittelbar noch mittelbar einen der Bundesrepublik Deutschland zurechenbaren Eingriff in die Freiheit des Beschwerdeführers darstellt. Es ist eine innerstaatliche Angelegenheit des ersuchten Staates, ob und unter welchen Voraussetzungen er die betroffene Person zum Zwecke der Auslieferung in Haft nimmt. Auch die Art. 16 Abs. 1 und Art. 22 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens enthalten keine Beschränkungen des Rechts des ersuchten Staates, die Voraussetzungen einer Auslieferungshaft und den Umfang der Prüfung dieser Voraussetzungen durch seine Behörden zu regeln. Nach diesen Vorschriften entscheiden die zuständigen Behörden des ersuchten Staates über ein Ersuchen um vorläufige Verhaftung nach dessen Recht. Soweit in diesem Übereinkommen nichts anderes vereinbart ist, findet auf das Verfahren der Auslieferung ausschließlich das Recht des ersuchten Staates Anwendung.

(2.)   Aus der Andeutung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.), dass diese Frage anders zu beurteilen sein könnte, wenn infolge des deutschen Auslieferungsersuchens eine Behandlung der betroffenen Person durch den ersuchten Staat zu gewärtigen wäre, die den völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard unterschreitet, ergibt sich nichts anderes. Die im dortigen Verfahren erhobene Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt, mit dem ein Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23ff GVG gegen das gestellte Auslieferungsersuchen als unzulässig verworfen worden war. Die Frage, ob Haftbedingungen im ersuchten Staat zu prüfen sind, wurde vom Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung aufgeworfen, ob der Beschwerdeführer durch das Auslieferungsersuchen unmittelbar in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt worden sein kann. Die Verhältnismäßigkeit des dem Ersuchen zu Grunde liegenden Haftbefehls war nicht Gegenstand der Entscheidung.

Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts betreffen somit nur das Auslieferungsersuchen, nicht aber den dem Ersuchen zu Grunde liegenden nationalen Haftbefehl. Damit kann der Einwand menschenunwürdiger Haftbedingungen in der Einlieferungshaft nicht im Beschwerdeverfahren gegen den Haftbefehl geprüft werden.

Müsste ein Haftbefehl aufgrund menschenunwürdiger Haftbedingungen im ersuchten Staat aufgehoben werden, entfiele damit auch die Fahndung im Inland und in den Ländern, für die keine Zweifel an der Einhaltung der Mindeststandards bei Inhaftierungen bestehen. Der Beschuldigte hätte es damit in der Hand, sich durch eine Flucht in einen entsprechenden Staat dem Strafverfahren dauerhaft zu entziehen und sich weiter frei bewegen zu können.“

StPO III: Wenn der Schöffe wegen KiPo verurteilt ist, oder: Amtsenthebung wegen Amtspflichtverletzung

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Mit der dritten StPO-Entscheidung des Tages werden auch Besetzungsfragen  – zumindest tangiert. Der OLG Nürnberg, Beschl. v. 02.11.2021 – Ws 952/21 – behandelt nämlich die Frage der Amtsenthebnung eines Schöffen nach § 51 GVG, was ja auch Auswirkungen auf die Gerichtsbesetzung hat.

Hier hatte die Vorsitzende des Schöffenwahlausschusses eines AG beantragt, einen  Hauptjugendschöffen wegen gröblicher Verletzung seiner Amtspflichten seines Amtes zu entheben und vorab anzuordnen, dass er bis zur Entscheidung über die Amtsenthebung nicht zu Sitzungen heranzuziehen ist, da die nächste Sitzung mit seiner Beteiligung am 11.11.2021 stattfindet. Als Grund für den Amtsenthebungsantrag wurde angegeben, dass gegen den Schöffen am 15.09.2021 durch das Amtsgericht Kelheim im Verfahren, Az.: 6 Cs 703 Js 4909/21, ein Strafbefehl wegen Verbreitung jugendpornographischer Schriften in vier tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Verbreitung kinderpornographischer Schriften in Tateinheit mit Verbreitung jugendpornographischer Schriften gemäß §§ 184c Abs. 1 Nr. 1, 184b Abs. 1 Nr. 1, 52, 53 StGB in der jeweils zu den Tatzeitpunkten (04.01. bis 19.01.2021) geltenden Fassung des Strafgesetzbuches ergangen sei. Dieser Strafbefehl – zum Vorwurf im Einzelnen verweise ich auf den Volltext – war rechtskräftig.

Das OLG Nürnberg ist dem Antrag nachgekommen. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

  1. Aufgrund gröblicher Amtspflichtverletzung, die zugleich einen Straftatbestand erfüllt, kann ein Schöffe nach § 51 Abs. 1 GVG seines Amts enthoben werden, auch wenn er deswegen nicht zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt worden ist. Die §§ 32 Nr. 1, 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GVG entfalten insoweit keine Sperrwirkung.

  2. Mit der Verbreitung kinderpornographischer und jugendpornographischer Inhalte verletzt ein Jugendschöffe seine Amtspflichten gröblich (§ 51 Abs. 1 GVG), so dass er seines Amtes zu entheben ist.

StPO III: Unwirksamkeit der öffentlichen Ladung, oder: Übersetzung für Ausländer muss man mit aushängen

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.08.2021 – Ws 684/21. Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftbeschwerdeverfahren. Erhoben war die Haftbeschwerde gegen einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Das OLG hat aufgehoben, da der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtige Angeklagte nicht ordnungsgemäß öffentlich geladen worden war.

„Die zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg. Der Haftbefehl ist aufzuheben.

Die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO waren vorliegend nicht gegeben.

1. Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO ist – neben der Feststellung, dass der Angeklagte nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht entschuldigt ist – eine ordnungsgemäße Ladung gemäß § 216 Abs. 1 StPO mit der Warnung, dass im Falle seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde. Zwar gehören Ladungen nach § 187 Abs. 2 GVG in der Regel nicht zu den zu übersetzenden Schriftstücken (OLG Köln, NStZ-RR 2015, 317, beck-online). Bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten ist es aber für den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO erforderlich, bei der Ladung zur Hauptverhandlung jedenfalls die Warnung über die drohenden Maßnahmen im Falle des unentschuldigten Ausbleibens in eine ihm verständliche Sprache zu übersetzen (OLG Saarbrücken NStZ-RR 2010, 49; OLG Bremen, Beschluss vom 28. 4. 2005, Ws 15/05, beck-online; OLG Dresden Beschluss vom 14.11.2007, 1 Ws 288/07, beck-online; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. § 230, Rn 21a, § 216 Rdn. 4; Gmel in KK-StPO, 8. Auflage, § 216 Rn 5, 230 Rn 10).

2. Wird die Ladung öffentlich zugestellt, ist die nach §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 ZPO vorzunehmende Benachrichtigung bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten auch in einer ihm verständlichen Sprache an der Gerichtstafel auszuhängen.

a) Gemäß §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 ZPO ist bei einer öffentlichen Zustellung eine Benachrichtigung an der Gerichtstafel auszuhängen, aus der sich der Name der Person, für die zugestellt werden soll, deren letzte bekannte Anschrift, das Datum, das Aktenzeichen und die Bezeichnung des Prozessgegenstands, vorliegend also eine Ladung zu einem Termin, und die Stelle, an der das Schriftstück eingesehen werden kann, ersichtlich sind. Zudem muss die Benachrichtigung den Hinweis enthalten, dass insoweit Fristen in Gang gesetzt werden können und bei deren Ablauf Rechtsverluste drohen können, sowie bei Ladungen zu einem Termin, dass dessen Versäumung Rechtsnachteile zur Folge haben kann (§ 186 Abs. 2 Satz 5 ZPO). Fehlt dieser Hinweis, ist die Zustellung unwirksam (OLG Stuttgart, Beschluss vom 05. Februar 2007, 4 Ws 391/06, juris).

b) Sinn und Zweck des Aushangs der Benachrichtigung an der Gerichtstafel ist, dass der Zustellungsempfänger erfahren kann, dass ein Schriftstück an ihn zugestellt werden soll, Dritte von dem Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks aber keine Kenntnis erlangen. Zugleich soll er auf Rechtsnachteile bei der Versäumung des Termins hingewiesen werden (vgl. OLG Köln aaO). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll mit dem Verweis auf § 186 ZPO auch in Strafverfahren eine „Prangerwirkung“ durch den Aushang des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen entfallen (Bundestagsdrucksache 15/3482, S. 20).

Damit ein der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtiger Angeklagter bei einer öffentlichen Zustellung Kenntnis davon erlangen kann, dass ihm eine Ladung zu einem Termin zugestellt werden soll, er das zuzustellende Schriftstück einsehen kann und ihm bei unentschuldigtem Fernbleiben zum Termin Rechtsnachteile drohen, also auch ein Haftbefehl ergehen kann, muss die Benachrichtigung gemäß §§ 40 Abs. 1, 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 2 Satz 5 ZPO sowohl in deutscher wie in der dem Angeklagten verständlichen Sprache an der Gerichtstafel ausgehängt werden. Nur so wird gewährleistet, dass der Angeklagte von der bei der Ladung zu übersetzenden Warnung über die drohenden Maßnahmen im Falle des unentschuldigten Ausbleibens erfahren kann.

Nicht ausreichend ist, dass die übersetzte Ladung mit der Warnung in der Geschäftsstelle aufliegt und der Angeklagte diese dort einsehen kann, da er aufgrund des fehlenden Hinweises in einer ihm verständlichen Sprache in der ausgehängten Benachrichtigung keinen Anlass hat, dort vorzusprechen.

3. Der Angeklagte verfügt nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, so dass die Benachrichtigung an der Gerichtstafel ausschließlich in deutscher Sprache nicht ausreichend war.

Der Angeklagte pp. ist litauischer Staatsangehöriger. Aus den Akten ergibt sich nicht, dass er der deutschen Sprache soweit mächtig wäre, dass er die Benachrichtigung in deutscher Sprache mit dem Hinweis auf die drohenden Rechtsverluste und Rechtsnachteile bei Versäumung des Termins hätte verstehen können. Bei den Gesprächen des Angeklagten mit seiner vormaligen Verteidigerin und bei seiner Exploration durch den Sachverständigen Lippert wurden Dolmetscher zugezogen. Ebenso bei der Eröffnung des Haftbefehls und der mündlichen Haftprüfung durch das Amtsgericht Nürnberg, sowie bei sämtlichen Hauptverhandlungsterminen vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth.

Die Feststellung im Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 22.02.2018, dass der Angeklagte zumindest über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügt, ändert daran ebenso wenig, wie der Hinweis auf ein am 22.03.2017 eingegangenes handschriftliches Schreiben des Angeklagten (Bl. 1299 d.A.), welches in deutscher Sprache verfasst ist. Es ist gerichtsbekannt, dass für sprachunkundige Gefangene nicht selten Mitgefangene Schreiben erstellen, die vom Absender nur noch unterschrieben werden.“

U-Haft II: (Wieder)Invollzugsetzung des Haftbefehls, oder: Immer Vorführung erforderlich

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Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Nürnberg. Das hat im OLG Nürnberg, Beschl. v. 11.08.2021 – Ws 735/21 – zum Verfahren Stellung genommen, wenn  ein zunächst ausgesetzter Haftbefehl durch das Beschwerdegericht wieder in Vollzug gesetzt wird. Das OLG meint:

„Auf die weitere Haftbeschwerde sind der Haftbefehl des Amtsgerichts Amberg vom 30.06.20 1 und der Beschluss des Landgerichts Amberg vom 15.07.2021 aufzuheben, da der aufgrund des mit dem Beschluss des Landgerichts Amberg in Vollzug gesetzten Haftbefehls erneut fest genommene Beschuldigte nicht dem zuständigen Gericht vorgeführt wurde.

1. Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufgehoben und der Haftbefehl damit wieder in Vollzug gesetzt, ist der Beschuldigte unverzüglich nach seiner erneuten Festnahme gemäß § 115 Abs l 1 StPO dem zuständigen Gericht vorzuführen. Dies ist anerkannt für den Fall, dass ein ausgesetzter Haftbefehl gemäß § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt wird (KK-StPO/Graf, 8. Auflage, § 115 Rn 3, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 115 Rn 2). Nichts anderes kann vor dem Hintergrund der in Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG getroffenen Regelung für den vorliegenden Fall gelten, dass der zunächst ausgesetzte Haftbefehl durch das Beschwerdegericht wieder in Vollzug gesetzt wird. Daran ändert nichts, dass – wie auch im Fall des § 116 Abs. 4 StPO – der Ergreifung derselbe Haftbefehl mit demselben Sachverhalt zu Grunde liegt, wozu der Beschuldigte nach seiner ersten Ergreifung bereits angehört und ihm auch im Beschwerdeverfahren rechtlichess Gehör gewährt worden war. Auch bei der erneuten Festnahme nach der Aufhebung der Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht handelt es sich damit um eine Ergreifung im Sinn des § 115 Abs. 1 StPO.

2. Der Beschuldigte wurde aufgrund des mit dem Beschluss des Landgerichts Amberg in Vollzug gesetzten Haftbefehls erneut festgenommen und nicht dem zuständigen Gericht vor geführt.

3. Aufgrund der fehlenden Vorführung des Beschuldigten vor den zuständigen Richter ist Haftbefehl aufzuheben.

a) In die materielle Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf nur auf Grund ein s förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingegriffen werden (Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Art. 104 Abs. 1 GG verstärkt den in Art 2 Abs. 2 Satz 3 G enthaltenen Gesetzesvorbehalt, indem er neben der Forderung nach einem „förmlichen“ freiheiheitsbeschränkenden Gesetz die Pflicht, dessen Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt. Verstöße gegen die durch Art 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Form freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar. Das in § 115 StPO enthaltene Gebot, den Beschuldigten nach Ergreifung auf Grund eines Haftbefehls von dem zuständigen Richter vor der Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vernehmen zu lassen, gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, der Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. September 2001 — 2 BvR 1144/01 —, Rn. 16 – 17, juris).

b) Offen bleiben kann vorliegend, ob die fehlende Vorführung nachgeholt werden könnte (vgl. KK-Graf, StPO, 3. Auflage, § 115 Rn 6). Da der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Amberg mit Beschluss vom 09.08.2021 die Vorführung und Anhörung des Beschuldigten abgelehnt hat, ist eine Heilung des Rechtsverstoßes jedenfalls nicht absehbar.“

Pflichti IV: Nachträgliche Bestellung, oder: In Bayern – OLG Nürnberg – ordnet man bei – Überraschung

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Und dann heute noch eine Sondermeldung, Nämlich zum OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020, – Ws 962 – 963/20. Der ist gerade erst rein gekommen, für das letzte Posting hat es nicht mehr gereicht. Also schicke ich den Beitrag hinterher 🙂 .

Es geht um die nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers (im Strafvollstreckungsverfahren). Das OLG Nürnberg hat – Überraschung!! – die Beiordnung bejaht:

2. Die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers für den Zeitraum ab Antragstellung (06.03.2020) ist vorliegend möglich, da die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung für das Vollstreckungsverfahren zu diesem Zeitpunkt vorlagen und die Entscheidung über die Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. So hat das Landgericht erst am 12.05.2020 (nach Aufhebung der Widerrufsentscheidung vom 14.02.2020 durch den Senat am 09.04.2020) entschieden, den Senat erreichte die Beschwerdevorlage sogar erst am 19.10.2020.

Die Bestellung erfolgt für den Verfahrensabschnitt des Strafvollstreckungsverfahrens, welcher die Entscheidung über den Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft Passau vom 15.01.2020 betrifft.

a) Der Senat hat im Blick, dass die überwiegende Rechtsmeinung (zum Streitstand: Willnow in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl., § 141 Rn. 12 und Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 142 Rn. 19) die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers selbst dann für unzulässig erachtet, wenn die Entscheidung über den Antrag versäumt wurde. Dies mit der Begründung, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in der Zukunft diene. Eine Rückwirkung wäre auf etwas Unmögliches gerichtet und würde eine notwendige Verteidigung des Angeklagten in der Vergangenheit nicht gewährleisten. Eine Beiordnung erfolge insbesondere nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (so zuletzt OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.03.2020, 1 Ws 19/20 u. 20/20, und OLG Bremen, Beschl. v. 23.09.2020, 1 Ws 120/20).

b) Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU ist die Annahme eines Rückwirkungsverbotes indes nicht mehr tragfähig.

Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/1919/EU (“PKH-Richtlinie“) haben die Mitgliedstaaten sicher zu stellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Mit „Prozesskostenhilfe“ wird hierbei die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann (Art. 3 der Richtlinie 2016/1919/EU). Über den rechtzeitigen und praktisch wirksamen Zugang zur Wahrnehmung der Verteidigerrechte hinaus (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU) regelt Art. 4 der Richtlinie 2016/1919/EU nunmehr also auch die finanziellen Grundlagen und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll. Zweck und Ziel dieser Regelung kann – im Blick auf Fallkonstellationen wie die vorliegende – nur eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten sein. Diese würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20).

Der Senat zieht hierbei die Wertungen der das Strafverfahren betreffenden Richtlinie 2016/1919/EU auch im Strafvollstreckungsverfahren heran, da sich ansonsten ein unüberbrückbarer Wertungswiderspruch innerhalb des Rechts der Pflichtverteidigung zwischen den Straf- und dem Strafvollstreckungsrecht ergäbe.

Gestützt wird die Rechtsauffassung des Senats auch durch das Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Mit dieser neuen Fassung der Vorschrift kommt der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sieht. Ebenso wurde im Zuge der gesetzlichen Neuregelung die bisher statthafte einfache Beschwerde durch die sofortige Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO ersetzt. Die Bestellungsentscheidung – samt der mit dieser verbundenen Alimentierung des Verteidigers – muss also schnell fallen. Gerade die vorliegende, äußerst lange Verzögerung bis zur abschließenden Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung erst mit diesem Beschluss – acht Monate nach Antragstellung und lange nach Rücknahme des Widerrufsantrags – zeigt, dass die Annahme der bislang vorherrschenden Rechtsauffassung einer Erledigung des Bedarfs für die Pflichtverteidigerbestellung durch Zeitablauf nicht mit der Intention des Gesetzgebers vereinbar ist.

Somit ist vorliegend eine rückwirkende Bestellung des Rechtsanwalts pp. für das Strafvollstreckungsverfahren und hierbei das Verfahren über die Entscheidung des Widerrufsantrags der Staatsanwaltschaft Passau mit Wirkung der am 06.03.2020 erfolgten Antragstellung möglich.“