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OWi II: Wenn der „KHK“ während einer Dienstfahrt zu schnell fährt, oder: Gleiches Recht für alle

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt vom AG Landstuhl. Das hat sich im AG Landstuhl, Urt. v. 11.05.2021 – 2 OWi 4211 Js 4647/21 – mit der Geschwindigkeitsüberschreitung eines KHK, also eine Polizeibeamten befasst. Dre war auf einer BAB statt der durch Verkehrszeichen angeordneten zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h mit einer Geschwindigkeit von 119 km/h gefahren. Eingelassen hatte sich der KHK wie folgt:

„Er habe sich mit einem zivilen Dienst-Kfz auf dem Weg zu einem Dienstgeschäft befunden und sei wegen eines Rückstaus in Zeitverzug gewesen. „Um das Dienstgeschäft, welches terminiert war, zeitgerecht erledigen zu können, fuhr ich 119 km/h auf der BAB6“ (Bl. 27 d.A.) Die Sicht auf die Verkehrszeichen sei durch neben ihm fahrende Kraftfahrzeuge (LKW) verwehrt gewesen und er habe die Beschilderung übersehen. Das Dienstgeschäft hat er als jährlichen Pflichtleistungsnachweis (Prüfung) mit der Dienstpistole konkretisiert und die Befürchtung mitgeteilt, zum Termin zu spät zu kommen (Bl. 40 d.A.). Ihm sei die Beschilderung nicht bekannt gewesen, er fahre die Strecke nach Enkenbach nicht regelmäßig. Die Beschilderung sei nicht wiederholt worden, sondern es handle sich um einen Verkehrstrichter. Zudem sei er durch ein „wichtiges dienstliches Telefonat“ (mit dem LKA Hamburg) ab 12:44 Uhr abgelenkt gewesen (Bl. 83 d.A.).“

Die Einlassung hat ihm nichts genutzt. Das AG hat ihn wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt, ein Fahrverbot verhängt und die Geldbuße erhöht:

„…..

Ein Augenblicksversagen kann hier nicht angenommen werden. Der Betroffene hat telefoniert während des Verstoßes. Schon dieses Verhalten lässt sich mit den Anforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung an die Annahme eines Augenblicksversagens nicht in Übereinstimmung bringen.

V.

Der Betroffene hat sich deshalb wegen der vorsätzlichen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu verantworten, §§ 24 StVG, 41, 49 StVO.

Gegen den Betroffenen spricht die Vermutung der hohen Überschreitung der Geschwindigkeit, hier in Form einer Überschreitung von 39 km/h bzw. mehr als 40%, die einen Rückschluss auf das Wollenselement des wenigstens bedingten Vorsatzes erlaubt, sowie die beidseitig sichtbar aufgestellten Verkehrszeichen, die von einem Verkehrsteilnehmer gesehen werden müssen und so einen Rückschluss auf das Wissenselement des wenigstens bedingten Vorsatzes ermöglichen (Vgl. BeckOK/Krenberger, § 3 StVO, Rn. 221 m.w.N.).

Eine dies widerlegende Einlassung erfolgte nicht. Im Gegenteil hat der Betroffene anhand seiner eigenen Einlassungen gerade dargelegt, dass er hier mit wenigstens bedingtem Vorsatz die Geschwindigkeit überschritten hat. Er hat mitgeteilt, dass er unter Zeitdruck mit konkreter Geschwindigkeit gefahren sei und trotz des Zeitdrucks und der für ihn wenig bekannten Gegend während der Fahrt ein Telefonat angenommen und geführt habe. Dass er also in einer Situation, die von ihm gerade höhere Aufmerksamkeit erfordern würde (Eile, fremde Gegend) auch noch sein Aufmerksamkeitsniveau vorsätzlich absenkt – denn ein Telefonat kann man nicht fahrlässig führen -, zeigt, dass es ihm nicht nur gleichgültig war, ob er dadurch Verkehrsregeln verletzen würde, sondern dass er billigend in Kauf genommen hat die Verkehrszeichen zu übersehen, ohne seine Geschwindigkeit vorher aktiv anzupassen. Dies gilt erst recht, da er sich auf einer Dienstfahrt befindet und seine grundgesetzlich verankerten Pflichten insbesondere die penible Achtung der Verkehrsregeln erfordern.

Die Beschilderung vor Ort (Geschwindigkeitstrichter, sonstige Hinweise) ist auch gerade darauf angelegt, die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich zu ziehen. Ein Übersehen der Schilder wegen LKW-Verkehr auf der rechten Spur ist schon denklogisch bei beidseitig aufgestellten Schildern nicht möglich.

Dass der Betroffene sein Fehlverhalten im Nachhinein auch noch mit dem mehrfachen Verweis auf die Dienstlichkeit seines Handelns zu relativieren versucht, zeigt eine bedenkliche Einstellung des Betroffenen zu Verkehrsregeln und Rechtsanwendung auf.

VI.

Durch den genannten Verstoß hat der Betroffene zunächst eine Geldbuße zu tragen. Diese ergibt sich zunächst als Regelsatz in Höhe von 120 EUR gemäß Ziffer 11.3.6 des Anhangs zur BKatV, die für das Gericht in Regelfällen einen Orientierungsrahmen bildet (BeckOK StVR/Krenberger, § 1 BKatV, Rn. 1). Von diesem kann das Gericht bei Vorliegen von Besonderheiten nach oben oder unten abweichen. Vorliegend bestehen keine Umstände, die ein Abweichen vom Regelsatz nach unten bedingen würden. Insbesondere sind die dienstliche Veranlassung der Fahrt außerhalb des Anwendungsbereichs von § 35 StVO oder auch die Nutzung eines zivilen Dienstfahrzeugs keine Aspekte, die geeignet wären, eine Abweichung vom Regelfall zu begründen.

Angesichts der vorsätzlichen Begehensweise ist die Regelgeldbuße zu verdoppeln, § 3 Abs. 4a BKatV…..“

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das AG über die Einlassung und das Agieren des KHK „not amused“ war. Es ist zutreffend nach dem Grundsatz: „Gleiches Recht für alle“ verfahren. Dann auch bei einem „zivilen Betroffenen“ hätte man mit der Einlassung kein Augeblicksversagen begründen können.

OWI II: Abstandsverstoß, oder: Länge der Messtrecke und Vorsatz

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Die zweite Entscheidung, das AG Landstuhl, Urt. v. 20.04.2021 – 2 OWi 1233/21 – hat einen Abstandsverstoß zum Gegenstand. Das AG geht von einenm Abstand von weniger als 3/10 des halben Tachowerts aus. Es nimmt zu zwei Fragen Stellung:

„Soweit der Betroffene die Kürze der gemessenen Strecke bemängelt hat, ist dies rechtlich irrelevant. Ein in der obergerichtlichen Rechtsprechung tatsächlich über einen gewissen Zeitraum diskutierter Streitpunkt war die Frage, über welchen Beobachtungszeitraum und welche gefahrene Strecke die Abstandsunterschreitung festzustellen war. Mal wurde bei einer Dauer von drei Sekunden eine Messstrecke von 150m für ausreichend erachtet (OLG Hamm NZV 2013, 203), mal von nur 140m (OLG Hamm NStZ-RR 2013, 318). Allerdings erfolgte dies stets unter der Einschränkung, dass es auf das Vorliegen einer „nicht nur ganz vorübergehenden“ Abstandsunterschreitung nur dann ankomme, wenn Verkehrssituationen in Frage stünden, wie etwa das plötzliche Abbremsen des Vorausfahrenden oder der abstandsverkürzende Spurwechsel eines dritten Fahrzeugs, die kurzzeitig zu einem sehr geringen Abstand führen, ohne dass dem Nachfahrenden allein deshalb eine schuldhafte Pflichtverletzung angelastet werden könne. Die Einschränkung der „nicht nur ganz vorübergehenden Abstandsunterschreitung“ ist dem Gesetz jedoch nicht zu entnehmen und auch die Rechtsprechung des BGH stellt bzgl. dieser Formulierung auf die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ab (BGHSt 22, 341; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, § 4 StVO, Rn. 22). Deshalb wurde schon vor einigen Jahren entschieden bzw. bekräftigt, dass tatbestandsmäßig im Sinne einer vorwerfbaren Abstandsunterschreitung gem. §§ 4 Abs. 1 S. 1, 49 Abs. 1 Nr. 4 StVO; § 24 StVG bereits handelt, wer zu irgendeinem  Zeitpunkt seiner Fahrt objektiv pflichtwidrig und subjektiv vorwerfbar den im einschlägigen Bußgeld-Tatbestand gewährten Abstand unterschreitet (OLG Hamm BeckRS 2015, 02211; OLG Koblenz ZfS 2016, 652; OLG Karlsruhe ZfS 2016, 531; OLG Oldenburg NZV 2018, 45). Der Tatrichter muss zwar den Betroffenen entlastende Umstände auch konkret ausschließen (OLG Hamm NZV 2013, 203; OLG Rostock NZV 2015, 405; OLG Karlsruhe ZfS 2016, 531). Denn ein plötzliches Abbremsen oder ein plötzlicher Spurwechsel würde die Pflichtwidrigkeit des Verstoßes entfallen lassen (OLG Stuttgart NZV 2008, 40). Ein solcher Ausschluss entlastender Umstände ist hier jedoch eindeutig gegeben. Die Feststellungen zu Verstoß und Ausnahmesituation können anhand der Videoprints für den Nahbereich sowie mittels des Messvideos für den Fernbereich erfolgen (OLG Hamm NZV 1994, 120). Die hier erfolgte Inaugenscheinnahme insbesondere des Messvideos hat keinerlei Sondersituation im Verkehrsgeschehen offenbart, sondern nur den beharrlich hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug fahrenden Betroffenen.“

Und dann zum Vorsatz:

„Eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Nichteinhaltung des Mindestabstandes kann zwar in der Regel nicht allein mit dem Ausmaß der Abstandsunterschreitung begründet werden (OLG Bamberg BeckRS 2017, 127422). Ohne Vorliegen konkreter dagegen sprechender Anhaltspunkte muss jedoch – wie hier – davon ausgegangen werden, dass einem Fahrzeugführer das Unterschreiten des Sicherheitsabstandes jedenfalls dann bewusst gewesen ist und er dies zumindest billigend in Kauf genommen hat, wenn er über einen Zeitraum, in dem er den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug bei gehöriger Aufmerksamkeit wahrnehmen, mittels der in der Fahrschülerausbildung üblicherweise gelehrten Methoden (2-Sekunden-Test für Außerortsverkehr, Anzahl der Fahrzeuglängen oder Anzahl der zwischen den Fahrzeugen befindlichen Leitpfosten) überprüfen und korrigieren konnte, bei nicht abnehmender Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs lediglich einen Abstand von weniger als 3/10 des Tachowertes einhält, so dass ein Schätzfehler fernliegt und die Begründung von Fahrlässigkeit gleichsam rechtsfehlerfrei nicht mehr möglich wäre (OLG Karlsruhe BeckRS 2019, 24494; AG Helmstedt Urt. v. 17.12.2019 – 15 OWi 912 Js 57459/19). So liegt der Fall hier. Der Betroffene hat über einen Zeitraum von mehr als zwei Sekunden, denn auch insoweit ist der Fernbereich des Messvideos in die Würdigung mit einzubeziehen, mit nicht bemerkenswert variierendem Abstand zum Vorderfahrzeug ein Fahrverhalten an den Tag gelegt, das nur als bedingt vorsätzlich eingestuft werden kann. Er hätte hier problemlos und sei es nur durch moderate Verringerung der eigenen Geschwindigkeit, den gebotenen Abstand herbeiführen können, hat dies jedoch vorwerfbar unterlassen und dies auch billigend in Kauf genommen. Auch die vorhandene und zeitnah begangene Voreintragung zeigt, dass der Betroffene entgegen des Vortrags des Verteidigers sehr wohl zum Zwecke des schnelleren Fortkommens Verkehrsregeln missachtet, was wiederum eine indizielle Bestätigung für die Einschätzung des Fahrverhaltens als vorsätzlich erlaubt.“

Zustellung I: Verjährungsunterbrechung?, oder: Wo man gemeldet ist, muss man nicht „wohnen“

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Nach dem gestrigen „Corona-Tag“ heute dann wieder das „normale Programm“. Ich stelle heute hier drei Entscheidungen zu Zustellungsfragen vor.

Ich beginne mit dem AG Landstuhl, Beschl. v. 05.05.2021 – 2 OWi 4211 Js 90/21. Ergangen ist der Beschluss im Bußgeldverfahren, in dem um die Unterbrechung der Verjährung durch Zustellung des Bußgeldbescheides gestritten worden ist.  Das AG hat eine wirksame Unterbrechnung abgelehnt und das Verfahren gegen den Betroffenen nach § 206a StPO eingestellt. Dabei geht es (noch einma) um den Begriff der Wohnung:

„Es besteht ein Verfahrenshindernis hinsichtlich des Betroffenen, § 206a StPO. Es ist Verfolgungsverjährung eingetreten. Denn der Erlass des Bußgeldbescheides vom 27.10.2020, der bis heute nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist, hat die durch die Anhörungsverfügung (20.8.2020) ausgelöste Unterbrechung der Verjährungsfrist von drei Monaten nicht erneut unterbrechen können. Zwar bedarf es für den Bußgeldbescheid an sich der Zustellung nicht. Nur diese kann jedoch die Einspruchsfrist auslösen bzw. die Verjährung unterbrechen (BeckOK OWiG/Sackreuther OWiG § 65 Rn. 11). Die Zustellung des Bußgeldbescheids erfolgte hier an die Meldeadresse des Betroffenen. Diese Meldeadresse kann jedoch nicht als Wohnung im Sinne der §§ 46 OWiG, 37 StPO fungieren.

Ob eine Wohnung am Übergabeort existiert, richtet sich nicht danach, ob jemand unter einer bestimmten Adresse polizeilich gemeldet ist (VG Mainz BeckRS 2011, 47522; dies ist ggf. nur ein Indiz), sondern entscheidend ist, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt und dort schläft, d.h. eine Wohnung des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, i.S.d. Zustellvorschriften der §§ 178 ff. ZPO tatsächlich existiert und von dem Adressaten als Lebensmittelpunkt genutzt wird (BeckOK StPO/Larcher, § 37 Rn. 10 m.w.N.). D.h., dass er für eine gewisse Dauer dort lebt (LAG Köln LAGReport 2005, 160 Ls. 1). Eine „zustellfähige“ Wohnung kann aber nicht deshalb bejaht werden, weil die Räume z.B. als Kontaktadresse unterhalten werden, aber nicht Lebensmittelpunkt sind (OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2005, 648). Ob der Zustellungsempfänger tatsächlich am Zustellungsort im Zeitpunkt der Zustellung wohnhaft war, ist von Amts wegen zu berücksichtigen (OLG Karlsruhe BeckRS 2008, 19581 mwN).

Hier hat der Verteidiger von Beginn an und sogar noch innerhalb der Verjährungsunterbrechungsfrist mitgeteilt (Bl. 46 d.A.), dass der Betroffene nicht an der Meldeadresse wohnt und Zustellungen unter Vorlage einer dafür tauglichen Vollmacht an sich erbeten. Dem ist die Behörde aus nicht erklärlichen Gründen nicht nachgekommen. Der Betroffene ist Schausteller und dementsprechend im Bundesgebiet unterwegs. Dass er dies zum fraglichen Zeitpunkt wegen der Corona-Pandemie gerade nicht sein hätte können, kann das Gericht im Freibeweisverfahren nicht feststellen. Der fragliche Zeitraum Sommer/Herbst 2020 war gerade davon geprägt, dass kaum Einschränkungen gegeben waren.

Die eingeholte Stellungnahme der für den Betroffenen örtlich zuständigen Polizeiinspektion Ludwigslust / Parchim ergab exakt den Sachvortrag des Betroffenen (Bl. 124 d.A.). Die im Schreiben der Polizeibehörde genannte Rechtsansicht, der gewillkürte Wohnsitz stelle auch den räumlichen Lebensmittelpunkt des Betroffenen dar, ist lediglich eine Vermutung, die nicht auf tatsachenbasierten Erkenntnissen beruht. Auch der ergänzende Vortrag des Verteidigers zu zahlreichen Wiedereinsetzungsentscheidungen in anderen Verfahren, die gerade auf der Melde-/Wohnungsproblematik beruhen (Bl. 127 ff.), lässt den einfachen Rückschluss „Meldeadresse = Wohnung“ gerade nicht zu, sondern steht dem entgegen.

Dem Betroffenen ist auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. Denn schon in Reaktion auf den Anhörungsbogen wurde der Behörde eine Zustellungsmöglichkeit angeboten. Dass sie diese nicht nutzt, kann dem Betroffenen nicht vorgehalten werden.

Eine Heilung durch Übersendung der Abschrift an den potentiellen Zustellungsbevollmächtigten, den Verteidiger, § 189 ZPO, ist vorliegend nicht eingetreten. Hier fehlt es schon am Zustellungswillen der Behörde. Dass sich dieser von der Zustellung an den Betroffenen auf andere potentielle Zustellungsberechtigte ohne gesonderte Willensbekundung oder -manifestation übertragen ließe, ist rechtlich weder geboten noch zulässig.

Dass der Betroffene selbst Kenntnis vom Inhalt des Bußgeldbescheids erhalten hat und damit eine Heilung eingetreten wäre, konnte das Gericht anhand der Akte nicht feststellen. Zudem ist der Betroffene unwidersprochen Analphabet, sodass auch diesbezüglich eine Kenntnisnahme des Inhalts des Bußgeldbescheids zumindest fraglich gewesen wäre.“

Und dann << Werbemodus an>>: Die Zustellungsfragen spielen – wie der Beschluss zeigt – eine (große) Rolle im Bußgeldverfahren. Daher: Sie sind (auch) in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OW-Verfahren, 6. Auflage, 2021, eingehend behandelt. Das Werk kann man hier bestellen <<Werbemodus aus>>.

OWi I: Anspruch auf Einsicht in Messdaten/Messreihe, oder: Bei der PTB muss man fragen

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Heute dann – seit längerem – mal wieder drei OWi-Entscheidungen. Die „Lücke“ liegt aber auch daran, dass es derzeit nur wenige Entscheidungen gibt, über die man berichten kann.

Ich starte dann mit dem AG Landstuhl, Urt. v. 08.04.2021 – 2 OWi 4211 Js 2936/21 –, das noch einmal zum Anspruch des Betroffenen auf Einsicht in Messdaten Stellung nimmt. Der Verteidiger des Betroffenen hatte das Messverfahren angegriffen und vorgetragen, dass ein Privatsachverständiger die Messung nicht vollständig prüfen könne, weil nicht alle Daten gespeichert werden würden und weil er keine Einsicht in die Rohmessdaten erhalten habe. Dazu das AG:

„Eine weitere Beweiserhebung war nicht erforderlich. Es handelt sich bei dem eingesetzten Messgerät um ein so genanntes standardisiertes Messverfahren im Sinne der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 39, 291; BGHSt 43, 277), das durch die obergerichtliche Rechtsprechung in ständiger Rechtsprechung als solches Verfahren bestätigt wird (vgl. OLG Zweibrücken Beschl. v. 23.7.2019 – 1 OWi 2 Ss Rs 68/19, BeckRS 2019, 20220).

Die Beanstandung der fehlenden Speicherung greift nicht durch. Weder der Umstand, dass die durch ein Messgerät erfolgte Messwertbildung einer nachträglichen Richtigkeitskontrolle nicht zugänglich ist, schließt die Annahme eines standardisierten Messverfahrens nicht aus, noch begründet die mangelnde gerichtliche Kenntnis der genauen Funktionsweise des Messgerätes von vornherein Zweifel an seiner Zuverlässigkeit noch eine rechtliche Unverwertbarkeit des Messergebnisses (OLG Koblenz BeckRS 2016, 13085). Gleiches gilt für den Umstand, dass ein Sachverständiger mangels Zugangs zu patent- und urheberrechtlich geschützten Herstellerinformationen die genaue Funktionsweise des Gerätes anhand hierfür relevanter Taten der Messwertermittlung nicht im Einzelnen nachvollziehen kann (OLG Dresden NZV 2016, 438). Es gibt keinen Grundsatz, dass die Erhebungsdaten eines standardisierten Verfahrens der Geschwindigkeitsmessung stets gespeichert werden müssen (KG BeckRS 2020, 31908).

Soweit – ohne weiteren Einsichtsantrag oder Aussetzungsantrag – gerügt wurde, dass Rohmessdaten nicht erhalten worden seien, ist dies falsch bzw. rechtlich irrelevant. Ausweislich der Akte (CD mit Inhaltsangabe Bl. 63 d.A.) hat der Betroffene Einsicht in die Rohmessdaten der ihn betreffenden Messung erhalten. Mit seinem Gesuch, darüberhinausgehende Messdaten zu erhalten, ist der Betroffene bereits mit seinem gerichtlichen Antrag gescheitert (2 OWi 16/21). Sie stehen ihm auch aus rechtlichen Gründen nicht zu. Inhaltlich ist dem Betroffenen vor der Hauptverhandlung zwar voller Einblick in die Messung betreffende Unterlagen oder Daten zu gewähren, um sie ggf. sachverständig überprüfen zu lassen (BVerfG BeckRS 2020, 34958). Das gilt aber mit Einschränkungen: (1) Die Daten und Unterlagen müssen tatsächlich vorhanden sein; (2) Aus den Daten und Unterlagen müssen relevante Erkenntnisse für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Messung gezogen werden können; (3) Der Betroffene muss sich rechtzeitig und ggf. wiederholt um die entsprechenden Daten und Unterlagen bemühen. Den Anspruch auf die gesamte Messreihe hat bereits das OLG Zweibrücken (OLG Zweibrücken BeckRS 2020, 32678) verneint. Das BVerfG hat diese Entscheidung zitiert und nicht beanstandet. Soweit sich das OLG Jena (OLG Jena, Beschl. v. 17.3.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20) dem entgegenstellt und ohne tatsächliche Anhaltspunkte die Einsicht in die gesamte Messreihe aufgrund eines vagen Verdachts auf mögliche Erkenntnisse zugesprochen hat, geht dies fehl. Das OLG Jena hat – anders als das OLG Zweibrücken – nicht die PTB ergänzend zur gutachterlichen Stellungnahme aufgefordert, obwohl veröffentlichte Stellungnahmen der PTB als offenkundige Tatsachen zu behandeln sind (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 337 Rn. 25). Diese Nichtbeteiligung der PTB ist zudem ein eklatanter Widerspruch zur bisherigen OLG-Rechtsprechung, die den Tatgerichten genau diese Erkundigungspflicht auferlegt (vgl. nur OLG Köln zfs 2018, 407). Hinzu kommt, dass das OLG Jena zur Untermauerung seiner These, dass sich aus den gesamten Messdaten eine breitere Basis für die Fehlersuche ergeben würde, zwei Entscheidungen zitiert hat, die dem gerade diametral entgegenstehen: In OLG Düsseldorf NZV 2016, 140 wird ein Bezug gerade verneint und das KG NStZ 2019, 289 befasste sich mit einer Riegl-Messung, wo bekanntermaßen gar keine Daten gespeichert werden.“

Ob ich nun gerade die PTB beteilige 🙂 .

Gebühren im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren, oder: Versagung/Reduzierung der Gebühren wegen „rechtsmissbräuchlichen Verteidigerhaltens“?

Smiley

Die zweite Entscheidung des Tages kommt vom AG Landstuhl. Das hat im AG Landstuhl, Beschl. v. 08.04.2020 – 2 OWi 186/20 – zu zwei Fragen Stellung genommen, nämlich zunächst zur Frage der Bemessung der Gebühren im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren und dann zur Frage der Reduzierung/Versagung der Gebühren wegen „missbräuchlichen Verteidigerverhaltens“.

Folgender Sachverhalt: Die Betroffene wird in einem straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren von einem Rechtsanalt verteidigt. Zugrunde liegt dem Verfahren ein Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts, der mit 120 EUR zu ahnden gewesen wäre und bei Verurteilung einen Punkt im FAER als mittelbare Folge mit sich gebracht hätte. Die Betroffene war im FAER vorbelastet, sodass die Gelduße 140 EUR betrug. Der Verteidiger hat sich zunächst bestellt und Akteneinsicht begehrt, später eine CD mit Daten übersandt bekommen und dann Einspruch eingelegt. Der Einspruch war in einem zusammenhängenden Text mit Einwendungen gegen das Messverfahren enthalten, ohne dass der Einspruch graphisch hervorgehoben war. Die Behörde „übersieht“ den Einspruch, was zur Verjährung führt- Sie hat dann das Verfahren eingestellt und den Bußgeldbescheid zurückgenommen.

Der Verteidiger hat Mittelgebühren geltend gemacht. Die sind auch festgesetzt worden:

„Der Verteidiger hat einen Anspruch auf Erstattung der von ihm begehrten Gebühren nach RVG. Anzusetzen ist in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren grundsätzlich die Mittelgebühr (AG München, Urt. v. 2.12.2019 – 213 C 16136/19; Gerold/Schmidt/Mayer, 24. Aufl. 2019, RVG § 14 Rn. 54-57; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 4.2.2015 – 5 Qs 9/15, BeckRS 2015, 05688). Dies ist im vorliegenden Fall auch durch die konkrete Tätigkeit des Verteidigers zu vertreten. Dieser hat sich nicht nur bestellt und in die formale Akte Einsicht genommen, sondern sich darüber hinaus auch mit dem dem Verstoß zugrunde liegenden Messsystem befasst. Darüber hinaus ist nach dem reformierten Punktesystem seit dem 1.5.2014 schon die Vermeidung des ersten Punkts im FAER für jeden Betroffenen zu erstreben, sodass eine unterdurchschnittliche Bemessung der Tätigkeit allenfalls dann standardmäßig in Betracht kommt, wenn es in Massenverfahren „nur“ um eine Geldbuße, mithin ein Verwarnungsgeld geht. Dies ist hier nicht der Fall.“

So weit, so gut. Aber dann:

„Die Erledigungsgebühr ist durch die Tätigkeit des Verteidigers erfolgte Einstellung angefallen und stets als Mittelgebühr zu bemessen (Krumm in: Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 7. Auflage 2018, RVG Nr. 5115 VV, Rn. 21).

Hier wäre allenfalls zu überlegen gewesen, die Gebühren insgesamt wegen des missbräuchlichen Verteidigungsverhaltens auf ein Minimum zu reduzieren oder zu versagen. Dies kann jedoch hier nicht erfolgen. Denn zum einen hat das Verteidigerverhalten zum gewünschten Erfolg der Betroffenen geführt. Dass die Bußgeldbehörde Fälle wie diesen rechtlich nicht richtig prüft und nicht auf der Bestandskraft des Bußgeldbescheids wegen des missbräuchlichen Verteidigerverhaltens beharrt, kann nicht zulasten der Betroffenen gehen. Zum anderen obliegt es dem Gericht in Verfahren nach § 62 OWiG nicht, über die Kostengrundentscheidung neu zu befinden, sondern nur über die Höhe.“

Dazu ist „anzumerken“:

1. Die Ausführungen des AG zur (allgemeinen) Gebührenbemessung im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren sind zutreffend  (vgl. zur Mittelgebühr im Bußgeldverfahren auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 5 VV Rn 54 ff. m.w.N.). Sehr schön auch der Hinweis auf die im Hinblick auf die durch die sog. Punktereform zum 1.5.2014 eingetretenen Änderungen betreffend das FAER und die damit gestiegene Bedeutung der straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren.

2. Zu widersprechen ist aber den Ausführungen des AG betreffend „Reduzierung“ oder „Versagung“ der Gebühren – und ich zitiere hier jetzt aus eine für VRR/StRR/RVGreport vorgesehenen Anmerkung -,

„wobei nicht ganz klar wird, ob das AG die auf alle Gebühren beziehen will – dafür spricht die Formulierung „Gebühren“ – oder nur auf die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 5115 VV RVG – dafür spricht die Stellung der Ausführungen bei der „Erledigungsgebühr“.

M.E. kommt eine „Reduzierung“ oder gar „Versagung“ nicht in Betracht. Worauf will man die stützen? Vorab: Darüber wäre, wenn es denn zulässig sein sollte, auch nicht, was das AG richtig erkannt ha,t im Kostenfestsetzungsverfahren zu entscheiden, sondern im Rahmen des Erlasses der Kostengrundentscheidung; hinsichtlich der einmal erlassenen Kostengrundentscheidung besteht Bindungswirkung (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4 VV Rn 15 m.w.N.).

In Betracht käme daher als Ansatz allenfalls eine Nichtberücksichtigung der (vom AG als) rechtmissbräuchlich angesehenen Verteidigertätigkeiten, hier in Anlehnung an die Rechtsprechung der OLG zum versteckten Entbindungsantrag der „versteckte Einspruch, bei der Beurteilung des Umfangs der Tätigkeiten des Verteidiger. Ich warne allerdings vor einer solchen Diskussion. Denn mit ihr begibt man sich auf das schwierige Terrain der nachträglichen Beurteilung der Verteidigungsstrategie unter gebührenrechtlichen Gesichtspunkten. Damit tun sich Rechtsprechung und Literatur schon bei der Pauschgebühr des Pflichtverteidigers nach § 51 RVG schwer (vgl. dazu Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, § 51 Rn 23 ff. m.w.N.). Um so schwieriger ist es bei den allgemeinen Rahmengebühren. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte nachträglich über die Verteidigungsstrategie zu befinden und die ggf. durch eine Gebührenminderung/-versagung abzustrafen. Das verstößt m.E. gegen die Unschuldsvermutung. Es geht ja auch nicht um einen Anspruch des Verteidigers, sondern um einen Erstattungsanspruch des Betroffenen bzw. im Strafverfahren des Angeklagten. Und der darf sich grundsätzlich in jeder Art und Weise verteidigen, so lange der Bereich angemessener und sinnvoller Verteidigung nicht überschritten wird (so auch OLG München RVGreport 2018, 450 = JurBüro 2018, 409). Und das ist bei dem hier vom AG monierten Verhalten – „versteckter Einspruch“ nicht der Fall. Sicherlich auch nicht deshalb, weil einige OLG das beim ähnlichen Fall des versteckten Entbindungsantrages nach § 73 OWiG so sehen (vgl. die Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 1402). Denn damit werden ggf. nur die Amtsrichter – oder wie hier die Bußgeldbehörden – unterstützt, die Anträge nicht oder nicht sorgfältig lesen. Und dass ein solches Verteidigerverhalten sinnvoll sein kann, zeigt der vorliegende Konstellation, die wegen des „übersehenen“ Einspruchs zur Einstellung des Verfahrens und zur Kostenerstattung geführt hat. Wenn die Bußgeldbehörde das hätte verhindern wollen, wäre es ihr unbenommen gewesen, das Verfahren nicht einzustellen sondern „fortzuführen“. Zudem scheidet bei der Nr. 5115 VV RVG eine Reduzierung von vornherein aus, weil es sich bei dieser Gebühr um eine Festgebühr handelt, wovon ja auch das AG zutreffend ausgeht.

3. Und: Erst recht zu widersprechen ist schließlich der Mitteilung des AG am Ende seiner Entscheidung:

Ungeachtet dessen wird die Akte aber der Staatsanwaltschaft zur ggf. berufsrechtlichen Prüfung des anwaltlichen Vorgehens übersandt werden.“

Ich frage mich, gegen welche berufsrechtliche Pflicht der Verteidiger verstoßen haben soll?

Insgesamt: Wehret den Anfängen.