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StPO III: Wirksames Einverständnis mit formloser Einziehung, oder: Einziehung beim sog. „Hawala-Banking“

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Und als dritte Entscheidung der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.10.2024 – 12 Qs 33/24 – , der zu den Grenzen der Wirksamkeit des Einverständnisses mit der formlosen Einziehung im laufenden Ermittlungsverfahren Stellung nimmt.

In dem Fall hatte die Polizei nach einer Überprüfung des Beschuldigten aufgrund telefonisch eingeholter staatsanwaltschaftlicher Anordnung beim Beschuldigten vorgefundenes Bargeld in Höhe von insgesamt 142.295 EUR und dessen Mobiltelefone sicher gestellt. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth leitete dann gegen den Beschuldigten alsbald ein Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche ein.

Das AG hat die Beschlagnahme des Bargeldes gem. §§ 111b, 111j Abs. 1 Satz 1 StPO angeordnet. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Beschuldigten, die Erfolg hatte:

„Die Beschwerde ist begründet.

1. Die Beschwerde ist zulässig erhoben. Allerdings verweist die Staatsanwaltschaft in ihrer Zuleitungsverfügung darauf, dass sich der Beschuldigte unwiderruflich mit der formlosen Einziehung des Bargeldes einverstanden erklärt habe. Wäre diese Erklärung wirksam, könnte sich der Beschuldigte mangels Rechtsschutzbedürfnisses nicht mit Erfolg gegen die Beschlagnahme beschweren. Das ist jedoch nicht der Fall.

Richtig ist, dass ein Beschuldigter bereits im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung wirksam erklären kann, mit der formlosen Einziehung eines bei ihm sichergestellten Gegenstandes einverstanden zu sein. Diese Erklärung beinhaltet jedoch nicht den unwiderruflichen Verzicht auf Herausgabeansprüche (so noch BayObLG, Beschluss vom 08.07.1996 – 4 St RR 76/96, juris Rn. 8 ff.), sondern stellt lediglich eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung des Angeklagten – einen Antrag – an den Justizfiskus dar, diesem das Eigentum an dem sichergestellten Gegenstand zu übertragen, der vom Staat erst angenommen werden muss (BGH, Beschluss vom 11.12.2018 – 5 StR 198/18, juris Rn. 15 ff.).

a) Hier ist schon kein wirksamer Antrag abgegeben worden. Es liegt ein vom Beschuldigten unterschriebenes Sicherstellungsprotokoll vor, das mehrere, von der Polizeibeamtin … am Computer vorgenommene Einträge und Ankreuzungen enthält. Der mit „Einverständnis des Betroffenen mit“ überschriebene Block besteht aus fünf Zeilen, in denen einzelne Maßnahmen aufgeführt sind und die jeweils mit anzukreuzenden Kästchen mit „ja“ und „nein“ abschließen. Bei der Maßnahme „Sicherstellung“ ist ein „nein“, bei der Maßnahme „unwiderrufliches Einverständnis des Betroffenen mit der formlosen Einziehung“ ist ein „ja“ angekreuzt. Diese beiden Ankreuzungen sind in sich widersprüchlich, weil danach der Beschuldigte einerseits zum Ausdruck gebracht haben soll, dagegen zu sein, dass die Polizei das Geld vorläufig an sich nimmt (Sicherstellung nein), andererseits aber dafür zu sein, das Eigentum an dem Geld aufzugeben (Einziehung ja). In sich widersprüchliche, perplexe Erklärungen sind nichtig (vgl. nur HK-BGB/Schulze, 12. Aufl., § 133 Rn. 14; Jauernig/Mansel, BGB, 19. Aufl., § 133 Rn. 2).

Hielte man diesen Widerspruch im Wege der Auslegung gleichwohl für auflösbar, bliebe das Ergebnis gleich. Denn dann spräche alles dafür, die Bejahung der Einziehung als ein Versehen und damit nicht maßgeblich zu werten. In den weiteren polizeilichen Vermerken findet sich nämlich kein Widerhall eines Einziehungseinverständnisses und ein solcher wäre auch völlig lebensfremd. Nach Lage der Dinge und nach den zur Herkunft des Geldes vorgebrachten Erklärungen gäbe es für den Beschuldigten keinen nachvollziehbaren Grund, unmittelbar nach seiner Kontrolle einfach so auf 142.295 € zu verzichten. Beurteilte man, dies nur am Rande bemerkt, das polizeiliche Formular rein nach zivilrechtlichen Maßstäben, hielte die dortige Einziehungsregelung § 305c Abs. 1 BGB kaum stand.

Auf die vom Verteidiger namens des Beschuldigten erklärte Anfechtung seiner Willenserklärung (§§ 119, 123, 142 Abs. 1, § 143 BGB) kommt es aus Sicht der Kammer nach allem nicht mehr an.

b) Es fehlt auch eine Annahme vonseiten der Staatsanwaltschaft. In der Hauptverhandlung, in der sich der Angeklagte mit der formlosen Einziehung einverstanden erklärt, kann der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eine korrespondierende Willenserklärung mit Wirkung für den Fiskus auch konkludent abgeben (BGH, Beschluss vom 11.12.2018 – 5 StR 198/18, juris Rn. 23 ff.). Die dort geltenden Maßstäbe sind auf den hiesigen Fall aber nicht übertragbar. Eine Hauptverhandlung findet statt, nachdem das Ermittlungsverfahren durchgeführt, auf dessen Grundlage eine Anklage erhoben und vom Gericht zugelassen wurde. Dann ist nach übereinstimmender Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Gerichts eine tatsachenbasierte, überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit gegeben, die es rechtfertigt, mit dem Einverständnis des Angeklagten einen in dessen Eigentum stehenden (Vermögens)Gegenstand endgültig in die staatliche Sphäre zu überführen. Anders hier: Das Ermittlungsverfahren befindet sich an seinem Anfang, die Verdachtslage ist derzeit eher dünn und der Angeklagte ist mit der Weggabe der erheblichen Geldsumme nicht einverstanden. Hinzu kommt, dass es nicht zu den gesetzlichen Aufgaben der Staatsanwaltschaft gehört, losgelöst von den Ergebnissen ihrer Ermittlungen, Einnahmen zu generieren. Es wäre rechtsstaatlich mehr als befremdlich, würde man der Staatsanwaltschaft unterstellen – und ihr Verhalten entsprechend auslegen –, sie wolle, gleichgültig wie der Fall liegt, den Fiskus einfach nur auf Kosten derer bereichern, derer sie habhaft wird.

Dies vorweg geschickt ist festzustellen, dass eine ausdrückliche Annahmeerklärung der Staatsanwaltschaft der Akte nicht zu entnehmen ist. Der Hinweis in der Beschwerdevorlage ist im Lichte der vorstehenden Ausführungen nicht als Annahme auszulegen, auch deshalb nicht, weil er nicht gegenüber dem Beschuldigten oder dessen Verteidiger abgegeben wurde (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Insgesamt dürfte im Stadium des noch laufenden Ermittlungsverfahrens für die Bejahung einer konkludenten Annahmeerklärung der Staatsanwaltschaft, wenn überhaupt, nur in besonderen Konstellationen ein Anwendungsfall zu finden sein – bei Bargeld in erheblicher Höhe jedenfalls nicht.

2. In der Sache hat die Beschwerde Erfolg, die Beschlagnahme war aufzuheben.

Die Beschlagnahme gem. § 111b StPO darf angeordnet werden, um Gegenstände für eine etwaige spätere Einziehung zu sichern. Es handelt sich dabei um eine vorläufige Maßnahme im Ermittlungsverfahren, weshalb deren Anordnungsvoraussetzungen deutlich geringer sind als diejenigen im späteren gerichtlichen Einziehungsverfahren. Es reicht der Anfangsverdacht einer Straftat sowie eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass eine Einziehung des zu beschlagnahmenden Gegenstandes erfolgen wird (BGH, Beschluss vom 12.07.2007 – StB 5/07, juris Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 67. Aufl., § 111b Rn. 5, 6). An letzterem fehlt es.

a) Es besteht zwar der auf Tatsachen gestützte Anfangsverdacht einer Straftat (§ 152 Abs. 2 StPO).

aa) Nach gegebenem Ermittlungsstand liegt ein von den Ermittlungsbehörden noch vertretbar bejahter (vgl. LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 27.05.2022 – 12 Qs 24/22, juris Rn. 20) Anfangsverdacht dahingehend vor, dass der Beschuldigte Geldgeschäfte in Form des sog. Hawala-Bankings betreibt und hierzu Bargeld von Kunden entgegennimmt und an sie auszahlt, was gem. § 63 Abs. 1 Nr. 4 ZAG strafbar wäre, weil der Beschuldigte offensichtlich über keine Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 ZAG und keine Registrierung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 ZAG verfügt.

bb) Der Anfangsverdacht für die im angegriffenen Beschluss genannte Geldwäsche gem. § 261 StGB ist demgegenüber nicht begründet. Dafür, dass die möglicherweise vom Beschuldigten im Rahmen des Hawala-Banking eingesammelten Gelder ihrerseits aus rechtswidrigen Taten stammen, fehlen Anhaltspunkte. Die schlichte Behauptung leichtfertiger Geldwäsche (§ 261 Abs. 6 StGB) ohne eine tatsächliche Stütze hierfür wäre nicht tragfähig, weil das Hawala-Banking auch, und wohl überwiegend, legalen Zwecken dienen kann (vgl. Eggers/van Cleve, NZWiSt 2020, 426, 427). Rechtlich stünde, nimmt man den ZAG-Verstoß als hier mögliche Straftat an, zudem § 261 Abs. 7 StGB einer Strafbarkeit wegen Geldwäsche nach Lage des Falls entgegen.

b) Auf dieser Grundlage besteht allerdings keine ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass eine Einziehung des beschlagnahmten Geldes erfolgen kann.

aa) Sofern eine Strafbarkeit nach § 63 Abs. 1 Nr. 4 ZAG inmitten steht, sind die beim Beschuldigten sichergestellten mutmaßlichen Kundengelder des Hawala-Bankings als Tatobjekte i.S.d. § 74 Abs. 2 StGB zu werten (BGH, Beschluss vom 28.06.2022 – 3 StR 403/20, juris Rn. 38). Bei diesen kommt die Einziehung nur dann in Betracht, wenn eine in § 74 Abs. 2 StGB genannte sondergesetzliche Ermächtigung besteht, was im Fall des ZAG-Verstoßes gerade nicht der Fall ist (vgl. BGH, aaO, Rn. 40).

Für eine tatsächliche Differenzierung dahingehend, dass es sich bei einem Teil des beschlagnahmten Geldes um Provisionen für den Beschuldigten handeln könnte, die nach §§ 73, 73c StGB als Taterträge eingezogen werden könnten (vgl. BGH, aaO, Rn. 34), fehlt es an Indizien.

bb) Eine Einziehung des Geldes als Beziehungsgegenstand (§ 261 Abs. 10 StGB) oder nach den §§ 73 ff., §§ 74 ff. StGB scheidet aus, sofern man die Geldwäsche als hier mögliche Straftat ansähe. Denn für die fehlt es derzeit an einem greifbaren Anfangsverdacht.

cc) Aus diesem Grund ist auch nicht damit zu rechnen, dass eine erweiterte selbständige Einziehung (§ 76a Abs. 4 StGB) in Betracht kommen könnte. Nach dieser Norm kann Vermögen von letztlich unklarer Herkunft unabhängig vom Nachweis einer konkreten rechtswidrigen Tat und von einem subjektiven Verfahren eingezogen werden (vgl. Fischer, 71. Aufl., StGB, § 76a Rn. 9). Allerdings setzt die Vorschrift zumindest den Verdacht einer Katalogtat nach § 76a Abs. 4 Satz 3 StGB voraus. Zu diesen zählt zwar die Geldwäsche (§ 76a Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 Buchstabe f StGB), nicht jedoch die Straftat nach dem ZAG.“

StPO I: Unterjährige Änderung der Gerichtsbesetzung, oder: Wirksamkeitsvoraussetzungen

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Und ab heute läuft es hier wieder normal. Urlaub ist vorbei.

Ich mache dann noch einmal einen StPO-Tag. den starte ich mit derm BayObLG, Beschl. v. 14.10.2024 – 206 StRR 320/24 – zur Wirksamkeit der unterjährigen Änderung eines Geschäftsverteilungsplanes. In der Revision hatte der Angeklagte die Unwirksamkeit der Änderung geltend gemacht. Mit Erfolg. Das BayObLG sieht mit „einigen Bauschschmerzen“ die Verfahrensrüge als zulässig erhoben an – bitte selbst lesen und die richtigen Schlüsse daraus ziegen – und führt dann zu Begründetheit aus:

„4. Die Verfahrensrüge ist auch begründet. Die Übertragung des den Angeklagten betreffenden Verfahrens auf die 7. Strafkammer ist nicht gesetzmäßig erfolgt. Das erkennende Gericht war nicht zur Verhandlung und Entscheidung im vorliegenden Verfahren berufen. Es liegt der absolute Revisionsgrund der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung vor, § 338 Nr. 1 StPO.

a) Der Senat geht von folgendem Prozessgeschehen aus:

Bei Vorlage der Berufungen gegen das Urteil des Amtsgerichts Freising vom 4. April 2023 an das Landgericht Landshut als Berufungsgericht mit Eingang am 8. August 2023 (Rev.Begr. S. 42, Bl. 1121 d.A.) war die 6. Strafkammer des Landgerichts Landshut gemäß dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Geschäftsverteilungsplan für die Sache zuständig. Mit Datum vom 17. Oktober 2023 wurde seitens des Präsidiums der 15. Nachtrag zur richterlichen Geschäftsverteilung bei dem Landgericht Landshut für das Geschäftsjahr 2023 beschlossen, der unter Ziff. „I. Feststellung“ folgende Formulierung enthält:

„1. Die dritte Strafkammer (Wirtschaftsstrafkammer) ist wegen mehrerer Anklagen der Europäischen Staatsanwaltschaft überlastet (vgl. Belastungsanzeige vom 10.03.2023). Es wird eine weitere Wirtschaftsstrafkammer (7. Strafkammer) eingerichtet.
2. Staatsanwältin als Gruppenleiterin Z. ist mit Wirkung vom 01.11.2023 zur Vorsitzenden Richterin am Landgericht ernannt worden. […]
(Beschluss S. 1; Rev.Begr. S. 78).

Unter II. Nr. 1 heißt es:
„Vorsitzende Richterin am Landgericht Z. wird Vorsitzende der 7. Strafkammer.“ (Beschluss S. 2, Rev.Begr. S.79).

II. Nr. 17 enthält folgende Regelung:

„Alle anhängigen Berufungsverfahren der 6. Strafkammer, die am 01.11.2023 noch anhängig sind und bei denen in der 6. Strafkammer noch kein Hauptverhandlungstermin für die Zukunft bestimmt ist, werden der 7. Strafkammer übertragen.“ (Beschluss S. 10, Rev.Begr. S. 87)

Das gegenständliche Berufungsverfahren wurde entsprechend dieser Regelung auf die 7. Strafkammer übergeleitet und von dieser weitergeführt. Das angefochtene Berufungsurteil wurde von der 7. Strafkammer erlassen.

b) Die Revision rügt zu Recht, dass der Präsidiumsbeschluss vom 17. Oktober 2023 jedenfalls in Ansehung der Übertragung der gegenständlichen Berufungssache auf die 7. Strafkammer den Anforderungen des § 21e Abs. 1, Abs. 3 GVG an eine unterjährige Änderung von Geschäftsaufgaben nicht standhält.

aa) Gemäß § 21e Abs. 1 GVG ist die Verteilung der richterlichen Geschäfte vor dem Beginn eines Geschäftsjahres für dessen Dauer zu bestimmen. Änderungen während des laufenden Geschäftsjahres haben dem Maßstab des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG zu entsprechen. Dies ist der Fall, wenn sie aus den im Gesetz genannten Gründen, beispielsweise wegen der Überlastung eines Spruchkörpers, nötig werden.

(1) § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG muss im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2GG eng ausgelegt und entsprechend angewendet werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 1976, 5 StR 314/76, NJW 1976, 2029; s. auch Beschluss vom 21. April 2022, StB 13/22, BeckRS 2022,12653 Rn. 14 m.w.N.), denn eine Änderung im laufenden Geschäftsjahr birgt stets Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich.

Dies gilt in besonderem Maße für die Überleitung bereits anhängiger Verfahren, bei denen schon eine anderweitige Zuständigkeit begründet war. Deshalb ist es in solchen Fällen geboten, die Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern, umfassend und nachvollziehbar zu dokumentieren und den Verfahrensbeteiligten – jedenfalls auf Verlangen – zur Kenntnis zu bringen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen (BGH BeckRS 2022, 12653 Rn. 14; Urteil vom 9. April 2009, 3 StR 376/08, NJW 2010, 625 Rn. 11; Beschluss vom 22. März 2016, 3 StR 516/15, NStZ 2016, 562; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 2005, 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690). Der Änderungsgrund muss im Beschluss des Präsidiums oder einem Protokoll der entsprechenden Präsidiumssitzung festgehalten werden, damit überprüfbar ist, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die nur ausnahmsweise zulässige Änderung der Geschäftsverteilung vorlagen (BGH NStZ 2016, 562).

(2) Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des Präsidiums vom 17. Oktober 2023 bereits deshalb nicht, weil die erforderliche Dokumentation derjenigen Gründe fehlt, die das Präsidium zur Änderung der Geschäftsverteilung im hier maßgeblichen Punkt veranlasst haben. Es kann deshalb nicht beurteilt werden, ob die Überleitung des den Angeklagten betreffenden anhängigen Berufungsverfahrens von der 6. auf die 7. Strafkammer rechtmäßig war.

(i) Das Präsidium hat im Änderungsbeschluss (lediglich) festgestellt, Anlass für die Änderung der Geschäftsverteilung sei die Überlastung der 3. Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer; es werde eine weitere Wirtschaftsstrafkammer (7. Strafkammer) eingerichtet (Beschluss unter „I.“ Rev.Begr. S. 78). Dem lag eine Überlastungsanzeige der 3. Strafkammer (bereits vom 10. März 2023) zugrunde (Bezugnahme im Beschluss a.a.O.; Anzeige der Vorsitzenden der 3. Strafkammer vom 10. März 2023, Rev.Begr. S. 98 f.). Von einer Überlastung der 6. Strafkammer ist das Präsidium ersichtlich nicht ausgegangen. Weder im Beschluss noch in einer sonst dokumentierten Stellungnahme – die auch nachträglich zum Zweck der Heilung noch möglich gewesen wäre (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, § 21e GVG Rn. 15; BGH Beschluss vom 25. März 2021, 3 StR 10/20, BeckRS 2021, 13180 Rn. 39) – findet sich ein diesbezüglicher Hinweis. Aus der Verfügung des Vorsitzenden der 6. Strafkammer vom 16. August 2023 zu den gegenständlichen Verfahrensakten, die dahin lautet, eine „derzeitige“ Terminierung sei wegen der Belastung der Kammer nicht möglich, sie werde „nach Bewältigung der aktuellen Auslastung“ erfolgen (Rev.Begr. S. 45; Bl. 1124 d.A.), ergibt sich nichts anderes. Ausweislich der Verfügung ist diese lediglich den Verfahrensbeteiligten, nicht aber dem Präsidium des Landgerichts zugeleitet worden, die demzufolge eine Überlastung der 6. Strafkammer auch nicht dokumentiert hat. Im Übrigen ergibt sich aus der Verfügung auch inhaltlich keine dauerhafte Überlastung der 6. Strafkammer im Sinne des § 21e Abs. 3 GVG, allenfalls eine „derzeitige“ Auslastung mit anderen Verfahren; eine Terminierung nach deren Bewältigung wurde in Aussicht gestellt.

(ii) Der Generalstaatsanwaltschaft ist einzuräumen, dass als weiterer Änderungsgrund gemäß § 21e Abs. 3 GVG in Betracht kommt, dass die Neubildung eines Spruchkörpers (7. Strafkammer) eine Neuverteilung von Geschäftsaufgaben erforderlich gemacht haben kann (vgl. dazu KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, § 338 Rn. 30). Gleichwohl ist auch insoweit lediglich dokumentiert, dass infolge des außergewöhnlichen Geschäftsanfalls in der 3. Strafkammer (Wirtschaftsstrafkammer) der neu geschaffenen Kammer neben neu eingehenden Verfahren auch ein Teil der dort bereits anhängigen Wirtschaftsstrafsachen übertragen wird. Die Zuweisung auch anderer Verfahren, hier von bereits anhängigen Berufungsverfahren in allgemeinen Strafsachen, entbehrt einer Begründung. Dieser Mangel betrifft auch die Frage, aus welchen Gründen insoweit eine Umverteilung zum 1. November 2023 noch im laufenden Geschäftsjahr nötig war.

(3) Das Revisionsgericht hat die aufgezeigten Mängel bei seiner rechtlichen Prüfung zu berücksichtigen. Nach bisheriger ständiger Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung des Präsidiums nach § 21 e Abs. 3 GVG nicht lediglich einer Vertretbarkeits – oder Willkürkontrolle, sondern ist einer vollständigen revisionsgerichtlichen Überprüfung unterworfen (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2013, 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226 Rn. 17; Urteil vom 7. April 2021, 1 StR 10/20, NStZ 2023, 122 Rn. 17, je m.w.N; für den verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab ebenso BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 2005, 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690).

Ob, wie es die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Vorlageschreiben vertritt (S. 6), abweichend hiervon eine Prüfung lediglich auf objektive Willkür vorzunehmen ist, wenn das Präsidium die Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 GVG fehlerhaft beurteilt hat (angedeutet, aber letztlich offengelassen von BGH, Beschluss vom 21. April 2022, StB 13/22, BeckRS 2022, 12653 Rn. 25 und BGH, Beschluss vom 25. März 2021, 3 StR 10/20, BeckRS 2021, 13180 Rn. 44 ff.), bedarf keiner Entscheidung.

Die Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Entlastung der 3. Strafkammer tatsächlich vorlagen, und nach welchem Maßstab dies zu überprüfen wäre, spielt für die hier maßgebliche Frage keine Rolle. Entscheidend ist, dass sich für die Regelung betreffend die 6. Strafkammer gar keine Begründung findet. Dem Senat ist es daher, unabhängig vom anwendbaren Prüfungsmaßstab, überhaupt nicht möglich nachzuvollziehen, aus welchen Gründen die Übertragung der bereits anhängigen Berufungssache erfolgt ist und nicht erst, ob das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 GVG zutreffend bewertet wurde.

c) Zudem bestehen durchgreifende Rechtsbedenken gegen die Bestimmtheit der Geschäftsverteilung, soweit sie den Übergang von in der 6. Strafkammer bereits anhängiger Berufungsverfahren davon abhängig gemacht hat, dass diese „am 01.11.2023 noch anhängig sind und bei denen in der 6. Strafkammer noch kein Hauptverhandlungstermin für die Zukunft bestimmt ist“ (II. Nr. 17 des Beschlusses, Rev.Begr. S. 87).

aa) Sämtliche Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes, der die gesetzlichen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der jeweiligen Spruchkörper ergänzt, müssen die wesentlichen Merkmale gesetzlicher Vorschriften aufweisen. Sie müssen also im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegte Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird (BVerfG, Beschluss vom 23. Dezember 2016, 2 BvR 2023/16, BeckRS 2016,111809 Rn. 25; BGH BeckRS 2022, 12653 Rn. 11). Es muss im Vorhinein so genau wie möglich feststehen, welcher Richter für welches Verfahren im Einzelfall berufen ist (Münchener Kommentar zur StPO/Schuster, § 21e GVG Rn. 29 m.w.N.). Soweit bereits anhängige Verfahren von einer Neuverteilung bestehender Zuständigkeiten erfasst werden, sind diese Voraussetzungen nur dann erfüllt, wenn die Neuverteilung durch den Geschäftsverteilungsplans selbst erfolgt, nicht aber, wenn sie im Einzelfall sowohl die Neuverteilung als auch die Beibehaltung bestehender Zuständigkeiten ermöglichen und dabei die konkreten Zuständigkeiten von Beschlüssen einzelner Spruchkörper abhängig machen (BVerfG a.a.O. Rn. 26).

bb) Diesem Maßstab wird die gegenständliche Regelung nicht gerecht.

(1) Nach dem Inhalt der am 17. Oktober 2023 vom Präsidium beschlossenen Klausel sollte der Übergang bereits anhängiger Berufungsverfahren von zwei Voraussetzungen abhängig sein, die, so jedenfalls der Wortlaut, am 1. November 2023 noch vorliegen sollten: die Sache sollte noch anhängig und noch nicht (für die Zukunft) terminiert sein. Jedenfalls hinsichtlich der zweiten Voraussetzung lag es demnach in der Hand des Vorsitzenden der 6. Strafkammer, im verbleibenden Zeitraum zwischen dem 17. und dem 31. Oktober 2023 die Voraussetzungen für den Übergang des Verfahrens eintreten zu lassen oder zu verhindern, je nachdem, ob er die Sache noch terminieren oder dieses unterlassen würde. Damit handelt es sich um eine Bestimmung, die die Begründung einer konkreten, auf den Einzelfall bezogenen Zuständigkeit in unzulässiger Weise in die Entscheidungsgewalt eines Spruchkörpers gelegt hat, der gerade Adressat der generell-abstrakten Zuständigkeit sein sollte (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 31 für eine Regelung, die den Übergang von Verfahren an die Frage knüpft, ob bis zum Stichtag das Hauptverfahren noch eröffnet wird).

(2) Die Generalstaatsanwaltschaft weist zwar in ihrer Stellungnahme zutreffend darauf hin, dass Regelungen in einem Geschäftsverteilungsplan ebenso wie abstrakt-generelle Gesetze der Auslegung, auch im Lichte des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, zugänglich sind (Vorlageschreiben S. 7). Der Senat sieht jedoch keinen Spielraum für eine Interpretation dahingehend, dass es für die Frage, ob das Verfahren schon terminiert sei, auf den Tag des Präsidiumsbeschlusses ankommen solle, und deshalb kein Spielraum für eine Manipulation bis zum Stichtag 1. November 2023 gegeben sei. Die Bestimmung im Präsidiumsbeschluss stellt das Datum „01.11.2023“ den erst danach genannten beiden Voraussetzungen für einen Übergang der Sache voran, was dafür spricht, dass auch beide auf diesen Termin in der Zukunft bezogen sind. Auch aus der verwendeten Zeitform lassen sich keine abweichenden Schlüsse ziehen. Beide Voraussetzungen sind, nach Nennung des künftigen Stichtags, im Präsens formuliert („noch anhängig sind“; „noch kein Hauptverhandlungstermin für die Zukunft bestimmt ist“); für eine differenzierende Auslegung dahin, dass sich diese Klauseln auf unterschiedliche Daten beziehen könnten, sieht der Senat keinen ausreichenden Anhalt. Lediglich ergänzend sei bemerkt, dass auch der Vorsitzende der 6. Strafkammer selbst die Regelung dahin ausgelegt hat, dass er den Übergang der Sache durch eigene Terminierung noch verhindern könne, denn unter dem 26. Oktober 2023 hat er verfügt, dass ihm eine „Terminierung dieses Verfahrens […] vor dem 01.11.2023 nicht mehr möglich“ sei (Rev.Begr. S. 46; Bl. 1125 d.A.).

d) Wegen der aufgezeigten Verstöße gegen § 21e Abs. 3 GVG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG stellt sich die Überleitung des gegenständlichen Verfahrens von der ursprünglich zuständigen 6. Strafkammer des Landgerichts Landshut auf die 7. Strafkammer als unzulässig dar. Das erkennende Gericht war nicht vorschriftsmäßig besetzt. Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO vor.“

StPO II: Mal wieder Klageerzwingungsantrag unzulässig, oder: Die Zulässigkeitshürden liegen hoch

Und dann als zweite Entscheidung der OLG Brandenburg. Beschl. v. 08.08.2024 – 2 Ws 88/24 – zu den Anforderungen eines sog. Klageerzwingungsantrages (§ 172 StPO). Auch immer wieder eine „beliebte“ Thematik.

Das OLG hat den Antrag als unzulässig angesehen:

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist unzulässig, weil er nicht der gesetzlichen Formvorschrift des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO genügt.

Danach ist ein Antrag gemäß § 172 Abs. 2 StPO ist nur dann zulässig gestellt, wenn in ihm die Tatsachen, welche die Erhebung der öffentlichen Klage bzw. die Anordnung der Aufnahme von Ermittlungen begründen sollen, und die Beweismittel angegeben werden (§ 172 Abs. 3 Satz 1 StPO). Nach der ständigen Rechtsprechung auch des Senats bedeutet dieses Formerfordernis, dass ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht nur eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des zugrunde liegenden Sachverhaltes enthalten muss, sondern die Sachdarstellung auch in groben Zügen den Gang der Ermittlungen, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe deren behaupteter Unrichtigkeit wiederzugeben hat. Dadurch soll der jeweils erkennende Senat in die Lage versetzt werden, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten eine Schlüssigkeitsprüfung vornehmen zu können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Aufl. § 172 Rn. 27a/27b m.w.N.). Eine Bezugnahme auf beigefügte Schriftstücke bedeutet eine Umgehung der Formvorschrift des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO, wenn erst durch die Kenntnisnahme vom Inhalt der Anlagen die erforderliche geschlossene Sachdarstellung erreicht wird (OLG Düsseldorf StV 1983, 498; KG NStE StPO § 172 Nr. 28).

Ferner muss dem Antrag nach Maßgabe des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO zu entnehmen sein, dass die Fristen gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO und § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO eingehalten worden sind (BVerfG, NJW 1988, 1773). Das Oberlandesgericht ist zu einer Sachentscheidung nur berechtigt, wenn auch die zweiwöchige Frist der Beschwerde gegen den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft eingehalten wurde (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 15. Januar 2019, 4 Ws 223/18, BeckRS 2019, 782, Rn. 3 m. w. N.; Senat, Beschluss vom 28. Juli 2022 – 2 Ws 97/22 [S]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 67. Aufl. § 173 Rn. 27b m. w. N.). Da das Antragsvorbringen das Gericht in die Lage versetzen soll, ohne Rückgriff auf die Akten oder Anlagen eine Schlüssigkeitsprüfung der Erfolgsaussicht des Begehrens in formeller und materieller Hinsicht vorzunehmen, ist auch die Zulässigkeit der Vorschaltbeschwerde vollständig darzulegen.

Den danach geltenden Anforderungen wird die Antragsbegründung nicht gerecht.

Ob eine Frist gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO in Lauf gesetzt worden und eine solche gewahrt worden ist, lässt sich der Antragsschrift nicht hinreichend konkret entnehmen, denn darin werden lediglich die Daten eines Bescheids der Staatsanwaltschaft (22. Januar 2024) sowie der Einlegung einer Beschwerde (10. Februar 2024) mitgeteilt (S. 4). Ob die Beschwerde innerhalb einer laufenden Frist rechtzeitig angebracht wurde, ergibt sich daraus nicht.

Darüber hinaus ist der Antrag jedenfalls deshalb unzulässig, wie er den Inhalt der (Vor)Ermittlungen und die Gründe für die Ablehnung eines Tatverdachtes nur oberflächlich schildert und der Senat auf Grundlage dieses nur lückenhaften Vorbringens ohne Rückgriff auf den Akteninhalt oder Anlagen zum Schriftsatz nicht hinreichend zu überprüfen vermag, ob ein Tatverdacht zu Unrecht verneint worden ist. Insbesondere werden die Aussage der als Zeugen vernommenen Polizisten („Name 01“) und („Name 02“), die Auswertung des Funkverkehrs, der Bericht über waffen- und munitionstechnische Untersuchungen vom 12. April 2023, sowie der Inhalt des Bescheids der Staatsanwaltschaft vom 22. Januar 2024 zum Vorliegen einer Notwehrlage nur unzureichend – und nicht wie geboten dem wesentlichen Inhalt nach – dargetan. Zur gebotenen Darstellung des Verfahrensganges und der angefochtenen Entscheidungen genügt es nicht, nur auf einzelne Erkenntnisse aus Zeugenbefragungen und Würdigungen der Ermittlungsbehörden einzugehen, etwa diejenigen, die das Antragsbegehren stützen. Vielmehr ist das gesamte für die objektive und subjektive Tatseite bedeutsame Ermittlungsergebnis einschließlich der Tatsachen, die dem Antragsbegehren den Boden entziehen könnten, mitzuteilen (OLG Koblenz NStZ-RR 2007, 317). Daran fehlt es.“

Nichts Neues. Und auch nicht neu ist <<Werbemodus an>, dass die mit dem Klageerzwingungsverfahren zusammenhängenden Fragen eingehend von mir sowohl in Burhoff (Hrsg. Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Aufl., 2024, als auch in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl., 2025, behandelt sind. Die Bücher sind natürlich neu 🙂 und man kann sie hier bestellen. Und das erklärt auch das Bild zu dem Posting 🙂 . Wenn man die (abgebildete) Trilogie bestellt, spart man übrigens recht ordentlich .<<Werbemodus aus>>.

Strafbefehl II: Angeklagter hat keinen Pflichti, oder: Wiedereinsetzung gegen versäumte Einspruchsfrist

Die zweite Entscheidung kommt aus Bayern, es handelt sich um den LG Kempten, Beschl. v. 13.06.2024 – 2 Qs 80/24. Es geht um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das AG hatte den Einspruch des Abgeklagten als unzulässig, weil verspätet angesehen. Anders das LG:

„Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung vom 16.05.2024 ist zulässig und begründet.

Der Verteidiger hatte zwar ausweislich BI. 30 d. A. bereits am 08.05.2024 Einsicht in das Vollstreckungsheft, aus diesem ergibt sich jedoch nicht der Verstoß gegen die Pflichtverteidigerbestellung nach § 408b StPO. Somit hatte der Verteidiger erst im Rahmen der Einsicht in die Ermittlungsakte am 14.05.2024 Kenntnis von diesem Umstand, sodass die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 S. 1 StPO am 16.05.2024 noch nicht abgelaufen war.

Der Antrag ist auch begründet. Die Begründung des Antrags erfordert zwar grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung sämtlicher Tatsachen, aus denen sich die nicht schuldhafte Fristversäumnis des Antragstellers ergibt. Es müssen deshalb alle zwischen dem Beginn und Ende der versäumten Frist liegenden Umstände mitgeteilt werden, die für die Frage bedeutsam sind, wie und ggf. durch wessen Verschulden es zur Versäumnis gekommen ist. Zu benennen sind deshalb die Frist, der Grund der Säumnis sowie der Zeitpunkt, zu dem das Hindernis weggefallen ist. Nicht der Darlegungspflicht unterliegen jedoch Umstände, die den Akten zu entnehmen sind oder gerichtskundig sind (BVerfG NJW 1995, 2544; OLG Düsseldorf StraFo 1997, 77; Graalmann-Scheerer in Löwe/Rosenberg Rn. 14; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt Rn. 5).

Vorliegend enthält der Antrag des Verteidigers vom 16.05.2024 nicht den geforderten Sachvortrag. Jedoch ergibt sich hier der gesamte Sachverhalt aus der Akte und ist deswegen von Amts wegen zu berücksichtigen. Eine andere Ansicht widerspräche dem Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 3 c EMRK.

2. Der Einspruch des Verteidigers vom 16.05.2024 gegen den Strafbefehl vom 06.08.2021 ist zulässig. Der Strafbefehl wurde dem Angeklagten am 10.08.2021 zugestellt und damit war die zweiwöchige Einspruchsfrist bereits abgelaufen. Jedoch wurde es bei Erlass des Strafbefehls unterlassen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger nach § 408b StPO zu bestellen.

Weil § 408b StPO als Gegengewicht zu rechtsstaatlichen Bedenken fungiert, die gegen die Verhängung einer Freiheitsstrafe in einem summarischen Verfahren sprechen, überzeugt es, die Versäumung der Einspruchsfrist entsprechend § 44 S. 2 StPO als unverschuldet anzusehen, wenn § 408b StPO verletzt wurde. (MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 408b Rn. 22).“

OWi II: Einsicht des Verteidigers in die Messreihe, oder: Fortbildung für die Verwaltungsbehörde durch das AG

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Als zweite Entscheidung hier der AG Köln, Beschl. v. 02.10.2024 – 815 OWi 103/24 (b). Er behandelt noch einmal das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers im Bußgeldverfahren. Der ein oder andere wird sich dazu fragen: Was gibt es denn da Neues? Richtig, nichts. Auch hier „Alter Wein…“. Ich stelle den Beschluss aber trotzdem vor, und zwar weil er mal wieder zeigt, dass viele Ordnungsbehörden offenbar nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass der Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht hat. Und das muss dann immer – was ja nun wirklich unnötig ist – vom AG bestätigt werden. So eben auch hier:

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist begründet, soweit die Herausgabe der gesamten Messreihe begehrt wird.

Dem Verteidiger ist auf Antrag die vollständige Messreihe zur Verfügung zu stellen. Ein entsprechender Anspruch ergibt sich aus § 46 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO. Ohne die Herausgabe der entsprechenden Daten würde der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Wird ein standardisiertes Messverfahren eingesetzt, muss der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorbringen. Das standardisierte Messverfahren bewirkt in diesem Sinne eine Beweislastumkehr, da der Betroffene konkret die Richtigkeit der Messung entkräften muss. Dies ist ihm nicht möglich, wenn er keine vollständige Überprüfung der Messung durchführen kann, was wiederum voraussetzt, dass ihm alle vorhandenen Daten, insbesondere die gesamte Messreihe, zugänglich gemacht werden. Auch ist eine Begrenzung der herauszugebenden Datensätze, bspw. auf fünf oder acht weitere Messungen aus der Messreihe, nicht statthaft. Der Betroffene muss selbst die Messreihe sichten können, um entscheiden zu können, welche anderen Messungen er anführen möchte um die Fehler in seiner Messung belegen zu können. Eine Vorauswahl durch das Gericht, indem dem Betroffenen nur eine bestimmte Anzahl anderer Messungen oder nur Messungen an bestimmten Positionen der Messreihe zugänglich gemacht werden, würden eine weitere Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten darstellen, da andere Messungen, ohne dass diese hätten geprüft werden können, von vorne herein aus der möglichen Beweisführung ausgenommen werden.

Die Stellungnahme der PTB vom 30.03.2020 ändert hieran nach Auffassung des Gerichts nichts. Soweit die PTB anführt, dass die gesamte Messreihe sehr lang sein könnte und daher praktisch nicht auswertbar sei, stellt dies keinen Grund gegen die Herausgabe dar. Die Auswertung, auch wenn sie ggf. lange dauert oder umfangreich ist, ist die Entscheidung des Betroffenen. Hinsichtlich der weiteren dort aufgeführten Punkte haben gerichtliche Sachverständige in der Vergangenheit die gesamte Messreihe untersucht und vorgetragen, diese zur Auswertung zu benötigen. Diese sachverständige Auskunft kann das Gericht mangels technischer Kenntnisse nicht überprüfen. Sie erscheint aber auch nicht von vorneherein unplausibel.

Gründe des Datenschutzes sprechen nicht gegen die Herausgabe, da die Interessen des Betroffenen ohne die Messreihe nicht gewahrt werden können und zudem die Möglichkeit besteht, die Messreihe zu anonymisieren. Die Daten werden zudem nur einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Personenkreis (Rechtsanwalt und Sachverständiger) zur Verfügung gestellt. Letztlich handelt es sich um Daten, die durch die freiwillige Teilnahme am Straßenverkehr entstanden sind.

Diese Rechtsauffassung wird auch vom OLG Köln geteilt, Beschluss vom 30.05.2023, Az.: 111-1 RBs 288/22.“