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Haft II: Beschleunigungsgrundsatz bei Überhaft, oder: Schleppendes Ermittlungs- und Zwischenverfahren

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Die zweite Haftentscheidung befasst sich mit dem Beschleunigungsgrundsatz.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Totschlagsverfahren. Mit Schreiben vom 31.03.2023, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft am 05.04.2023, hatte der Geschädigte J. angezeigt, dass er am 25.03.2023 von zwei Personen in seinem Haftraum in der JVA angegriffen worden sei, weil er sich geweigert habe, Drogen in die JVA zu schmuggeln. Diese hätten zunächst versucht, ihn zu töten, indem einer der Angreifer ihn mit zwei Stiften in den Hals gestochen habe. Nachdem dies dadurch gescheitert sei, dass die Stifte jeweils zerbrochen seien, sei er mit Schlägen gegen den Kopf attackiert worden, so dass er einen Nasenbeinbruch erlitten habe. Sodann hätten die Angreifer ihm seinen Tabak weggenommen und versucht, ihn zu vergewaltigen.

Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin Ermittlungen wegen versuchten Totschlags ein. Diese ergaben, dass es sich bei den Angreifern um den Angeschuldigten O. und den Mitangeschuldigten L. und bei dem Auftraggeber des Angriffs um den Mitangeschuldigten Y. handeln soll. Als wesentliche Ermittlungshandlungen wurde der Geschädigte am 04.07.2023 und seine Ehefrau am 14.09.2023 vernommen. Ferner wurde am 29.01.2024 (auf Anregung der Staatsanwaltschaft vom 19.01.2024) die Einholung eines DNA-Gutachtens betreffend die sichergestellten Stifte beauftragt, erstellt durch das Landeskriminalamt am 08.04.2024, und am 15.04.2024 die Krankenunterlagen des Geschädigten angefordert.

Am 19.04.2024 erließ das AG auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom gleichen Tag gegen den Angeschuldigten O. Haftbefehl wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung (§§ 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 2, Abs. 8, 212 Abs. 1, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 5, 22, 23, 52 StGB). Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt (§ 112 Abs. 3 i.V.m. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und dem Angeschuldigten am 03.05.2024 verkündet worden. Da der Angeschuldigte O. sich bis zum 26.02.2025 in Strafhaft befindet, ist insoweit Überhaft notiert.

Unter dem 16.07.2024 erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten sowie die Mitangeschuldigten L., Y. und wegen einer weiteren Tat gegen den Angeschuldigten K. Anklage vor dem Schwurgericht des Landgerichts . Dem Angeschuldigten O. legte sie nunmehr versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen in Tateinheit mit gefährlicher Köperverletzung, versuchter Vergewaltigung und besonders schwerem Raub zur Last.

Mit Verfügung vom 30.07.2024 setzte der Vorsitzende des Schwurgerichts eine Stellungnahmefrist zur Anklage von vier Wochen und fragte unter dem 24.09.2024 die terminliche Verfügbarkeit der Verteidiger im Zeitraum Februar bis Mai 2025 sowie die Bereitschaft zur psychiatrischen Exploration der Angeschuldigten ab. Nach entsprechenden Rückmeldungen der Verteidiger reservierte der Vorsitzende für den Fall der Eröffnung Termine ab dem 05.02.2025.

Am 14.01.2025 beantragte der Angeschuldigte O. mündliche Haftprüfung. Das LG erließ daraufhin am 21.01.2025 einen neuen Haftbefehl, welcher den ursprünglichen Haftbefehl ersetzte und der Anklageschrift angepasst auf die Vorwürfe des versuchten Mordes und des besonders schweren Raubes erweitert worden war. Dieser wurde dem Angeschuldigten im Haftprüfungstermin verkündet. Hiergegen richtet sich die (Haft-)Beschwerde des Angeschuldigten O. vom 21.01.2025. Gerügt wird insbesondere, dass von einem Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt auszugehen sei. Die Strafkammer hat der Beschwerde am 27.01.2025 nicht abgeholfen und mit Verfügung vom gleichen Tag mitgeteilt, dass die ursprünglich avisierten Termine nicht eingehalten werden können, da die Strafkammer in den Monaten Februar bis April 2025 insbesondere mindestens sechs Schwurgerichtssachen zu verhandeln habe, bei denen überwiegend der Ablauf der Sechs-Monats-Frist bevorstehe. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Das OLG Hamm hat mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 20.02.2025 – 5 Ws 77/25 – die Haftbeschwerde als begründet angesehen. Das OLG verneint einen dringenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten O. im Hinblick auf ein versuchtes Tötungsdelikt, da nicht mit der erforderlichen Sicherheit ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 Abs. 1 StGB ausgeschlossen werden könne. In dem Zusammenhang rügt es, dass die Ermittlungen trotz des gravierenden Tatvorwurfs äußerst oberflächlich und nachlässig geführt worden seien.

Im Übrigen führt es aus:

„2. Im Hinblick auf die verbleibenden weiteren, immer noch sehr gravierenden Tatvorwürfe – gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung und besonders schwerem Raub – kann die Anordnung der Untersuchungshaft jedenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrechterhalten bleiben, da das Verfahren gegen den Angeschuldigten O. nicht in ausreichendem Maße gefördert wurde.

a) Der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz gilt zwar in besonderem Maße für Haftsachen, findet als Ausdruck der allgemeinen Fürsorgepflicht der Strafjustiz aber auch allgemein, wenn auch in abgeschwächter Form Anwendung im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren (Fischer, in: Karlsruher Kommentar, 9. Aufl. 2023, Einleitung Rn. 29). Anerkannt ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich Gerichte bei Haftvollzug in anderer Sache dem besonderen Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen können, dass sie die Entscheidung über den Haftbefehlsantrag hinausschieben (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04.04.2006 – 2 BvR 523/06 -, BVerfGK 8, 1-9, Rn. 27; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 1 Ws 341/18 -, Rn. 35 – 36, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – 1 Ws 569/10 -, juris). Gleiches muss nach Auffassung des Senats auch für die Staatsanwaltschaften in Bezug auf die Stellung des Haftbefehlsantrags gelten. Soweit sich der Staatanwaltschaft aufdrängen muss, dass gegen den Beschuldigten Antrag auf Erlass eines (Über-)Haftbefehls zu stellen ist, kann sie sich dem in Haftsachen in besonderem Maße geltenden Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen, dass sie die Beantragung eines „Überhaft“-Haftbefehls ohne sachlichen Grund hinauszögert.

b) Dies ist indes vorliegend geschehen. Das Ermittlungsverfahren ist in besonderem Maße schleppend betrieben worden. Obgleich das Ermittlungsverfahren bereits mit Verfügung vom 13.04.2023 der staatsanwaltschaftlichen Abteilung für Kapitalsachen vorgelegt und sodann wegen Totschlagsversuchs geführt wurde (vgl. Schreiben der Staatsanwaltschaft Essen vom 11.05.2023; Bl. 32 d.A.), ist der Geschädigte, der aufgrund seiner Inhaftierung jederzeit zur Vernehmung zur Verfügung stand, erst am 04.07.2024 und damit nach 2 ½ Monaten als Zeuge vernommen worden. Auch im Folgenden sind die Ermittlungen äußerst zögerlich geführt worden. Die Ehefrau des Geschädigten wurde am 14.09.2023 (5 Monate nach Eingang der Strafanzeige) vernommen, war aber nicht bereit auszusagen. Die DNA-Auswertung der Asservate wurde – ohne dass hierfür ein sachlicher Grund ersichtlich wäre – erst im Januar 2024 (9 Monate nach Eingang der Strafanzeige) beauftragt, nahm 2 ½ Monate in Anspruch und die Krankenunterlagen wurden im April 2024 (12 Monate nach Eingang der Strafanzeige) angefordert. Wesentliche weitere Ermittlungshandlungen – etwa die Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens oder von Gutachten zur Schuldfähigkeit – sind nicht in die Wege geleitet worden. Zudem führten die Vernehmung der Ehefrau sowie die DNA-Auswertung zu keiner Verdichtung des Tatverdachts. Vielmehr musste sich der Staatanwaltschaft – selbst wenn man das versuchte Tötungsdelikt unberücksichtigt lässt – spätestens im Juli 2023 aufdrängen, dass aufgrund der gravierenden Tatvorwürfe gegen den Angeschuldigten Haftbefehl zu beantragen ist. Gleichwohl stellte sie den Haftbefehlsantrag erst unter dem 19.04.2024 und verfasste die Anklageschrift – obgleich in den weiteren drei Monaten keine wesentlichen Ermittlungshandlungen mehr vorgenommen wurden – erst unter dem 16.07.2024. Selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen während der Überhaft eine Abschwächung erfährt (vgl. hierzu: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 11.02.2020 – 1 Ws 20/20 -, juris), ist dieser ungenutzte Zeitraum von ca. einem Jahr als außerordentliche Verfahrensverzögerung zu werten. Denn auch Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, sind zu nutzen, um das Verfahren nachhaltig zu fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012 – III-3 Ws 37/12 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 5 Ws 569/06 -, Rn. 2, juris).

c) Die im Ermittlungsverfahren zu verzeichnenden, wesentlichen Verfahrensverzögerungen sind im Zwischenverfahren jedenfalls nicht kompensiert worden. Obgleich die zur Anklageschrift gesetzten Stellungnahmefristen Ende August 2024 abgelaufen sind, ist nicht zeitnah über die Eröffnung entschieden worden, sondern es sind lediglich Termine für den Beginn der Hauptverhandlung ab dem Februar 2025 und damit fünf Monate später reserviert worden.

Der Senat kann in diesem Zusammenhang offenlassen, ob die jetzige Terminsfreigabe der Februartermine im Hinblick auf die außerordentlich hohe Belastung der Strafkammer mit Schwurgerichtsverfahren in den Monaten Februar bis April sachgerecht war. Hinzuweisen ist darauf, dass nur kurzfristige und vorübergehende Überlastungen des Spruchkörpers solche Terminsverschiebungen rechtfertigen können (vgl. Böhm, in: MünchKomm, 2. Aufl. 2023, § 121 StPO Rn. 87, beck-online). Denn in der vorzunehmenden Gesamtschau stellen sich die bereits eingetretenen erheblichen Verfahrensverzögerungen in Ermittlungs- und Zwischenverfahren von über einem Jahr auch unter Berücksichtigung des erheblichen Strafverfolgungsinteresses als so wesentlich dar, dass die Anordnung der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig ist.“

Haft I: BVerfG rüffelt das OLG Dresden deutlich, oder: 0,66 Hauptverhandlungstage/Woche reichen nicht

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Heute dann ein weiterer „Hafttag“, und zwar vor allem deshalb, um den BVerfG, Beschl. v. 05.02.2025 – 2 BvR 24/25 u. 2 BvR 69/25, über den ja auch schon anderweitig berichtet worden ist, vorzustellen. Thema: Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen – Stichwort mal wieder: Terminsdichte.

Die Angeklagten befinden sich wegen des dringenden Tatverdachts insbesondere des versuchten Mordes in zehn tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung seit dem 01. bzw. 14.07.2023 in Untersuchungshaft. Das LG hat mit Beschluss vom 03.04.2024 das Hauptverfahren eröffent und Haftfortdauer angeordnet. Die Vorsitzende bestimmte den ersten Hauptverhandlungstermin auf den 03.05.2024. Dabei setzte sie zunächst sechs Hauptverhandlungstermine im Zeitraum vom 03.05. bis zum 24.06.2024 an und bestimmte im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung sukzessive weitere 15 Termine bis zum 17.12. 2024, mithin insgesamt 21 Termine.

Die Verteidiger der Beschwerdeführer haben dann am 16.10.2024 im Wege der Haftprüfung die Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Das LG hielt den Haftbefehl aufrecht und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Dagegen die Beschwerde. Die StK-Vorsitzende hat dem OLG im Zuge des Beschwerdeverfahrens mitgeteilt, dass sechs weitere Fortsetzungstermine bis zum 14.02.2025 bestimmt worden seien. Das OLG hat die Beschwerden als unbegründet verworfen. Gegen diesen Beschluss wenden sich die Angeklagten mit ihren Verfassungsbeschwerden, die Erfolg hatten.

Ich erspare mir das Einstellen der allgemeinen Ausführungen des BVerfG zur Beschleunigung und zur Begründungstiefe. Das haben wir alles schon oft gelesen, leider zu oft. Auch den Inhalt der einzelnen Stellungnahmen übergebe ich dem Selbstleseverfahren. Hier kommt nur das, was das BVerfG konkret zum Verfahren ausführt:

„2. Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft im Streitfall verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten, und wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.

a) Das Oberlandesgericht selbst weist zunächst zutreffend darauf hin, dass Verhandlungsdichte und -intensität der Strafkammer den – auch aus verfassungsrechtlichen Gründen – grundsätzlich an die Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes zu stellenden Anforderungen nicht entsprechen. Das Landgericht hat in jedem der vom Oberlandesgericht in den Blick genommenen Betrachtungszeiträume weit weniger als an durchschnittlich einem Tag pro Woche verhandelt, bis zum avisierten Ende der Hauptverhandlung am Februar 2025 an nur 27 Tagen innerhalb von 41 Wochen und damit an 0,66 Tagen pro Woche. Die Verhandlungsdichte sinkt noch weiter, wenn man – wie die Beschwerdeführer in ihren Aufstellungen darlegen – die fünf Sitzungstage vom 31. Juli, 9. August, 4. Oktober, 23. Oktober 2024 und 7. Januar 2025 nicht einbezieht, an denen zwar Urkunden verlesen beziehungsweise Zeugen vernommen wurden, jedoch weniger als eine Stunde verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wurde (vgl. BVerfGK 7, 21 <46 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 -, Rn. 52). Angesichts der gegebenen Terminsfrequenz hätte für das Oberlandesgericht Anlass dazu bestanden zu prüfen, ob die Strafkammer ihrer Aufgabe einer vorausschauenden straffen Hauptverhandlungsplanung bei einem – wie hier – umfangreichen Verfahren hinreichend nachgekommen ist (vgl. BVerfGK 7, 21 <46>; 7, 140 <158>).

b) Eine tragfähige Begründung, die die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft trotz der geringen Verhandlungsdichte und -intensität – ausnahmsweise – rechtfertigen könnte, enthält der angegriffene Beschluss indes nicht. Dabei kann dahinstehen, ob sich die mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben bezüglich Verhandlungsdichte und -intensität in Haftsachen grundsätzlich nicht zu vereinbarende Verfahrensgestaltung vom 24. Juni 2024 bis zum 5. September 2024 im Streitfall noch damit rechtfertigen ließe, dass aufgrund nachträglicher Informationen in erheblichem Umfang Nachermittlungen erforderlich wurden, deren Ergebnisse erst abgewartet werden mussten. Denn jedenfalls verletzen die seit dem 5. September 2024 durchgehend unterbliebenen Bemühungen um eine Kompensation der eingetretenen Verfahrensverzögerung das Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. BVerfGK 12, 166 <168>; dazu Gericke, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 121 Rn. 22a; Böhm, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2023, § 121 Rn. 52).

aa) Dem angegriffenen Beschluss lässt sich nicht nachvollziehbar entnehmen, warum im Zeitraum vom 5. September bis zum 1. November 2024 ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht vorliegen soll, obwohl doch – wie das Oberlandesgericht selbst ausführt – mit Ausnahme der vom Handy der Zeugin R. stammenden Chatnachrichten, die in der Folge noch verzögerungsfrei zum Gegenstand eines Selbstleseverfahrens gemacht worden seien, alle anderen aus Sicht der Strafkammer vorzunehmenden Beweiserhebungen bereits durchgeführt gewesen waren. Der vage Hinweis auf die von der Verteidigung benötigte – für sich allein als Rechtfertigung offenbar auch aus Sicht des Oberlandesgerichts nicht ausreichende – Vorbereitungszeit insbesondere bezüglich der nach dem Ergebnis der Nachermittlungen erforderlichen Vernehmungen der Zeugin R. und (erneut) des Geschädigten S. genügt hier nicht. Die vom Oberlandesgericht insoweit weiter in den Blick genommenen terminlichen Verhinderungen „bei allen Verfahrensbeteiligten einschließlich der Schöffen“ führen zu keinem anderen Ergebnis. Ersichtlich stellt das Oberlandesgericht insoweit auf die Mitteilung der Vorsitzenden der Strafkammer vom 29. November 2024 ab, nach der aufgrund mehrerer Ortsabwesenheiten von Schöffen oder Kammermitgliedern im Oktober 2024 entweder überhaupt nicht oder nur in deutlich eingeschränktem Umfang habe verhandelt werden können. Dabei hat sich das Oberlandesgericht nicht mit der Frage befasst, ob diese Ortsabwesenheiten und die damit verbundenen, bei nur zwei Terminen mit einer Länge von jeweils weniger als einer Stunde und nur einer Zeugenvernehmung sowie Urkundenverlesung beträchtlichen Unterbrechungszeiten über einen Zeitraum von mehr als einem Monat durch zwingende und nicht der Justiz anzulastende Gründe (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07 -, Rn. 53) veranlasst waren, was sich der Mitteilung der Vorsitzenden der Strafkammer im Übrigen auch nicht entnehmen lässt.

bb) Soweit einer Terminierung im November und Dezember 2024 nach der Mitteilung der Vorsitzenden der Strafkammer vom 29. November 2024 Verhinderungen eines oder mehrerer Verteidiger entgegenstanden, vermag im Übrigen auch dies eine unzureichende Terminsdichte im Grundsatz nicht zu rechtfertigen. Kollidiert wegen Terminschwierigkeiten des Verteidigers das Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von dem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, mit seinem Recht auf zeitliche Begrenzung der Untersuchungshaft, so kann die Terminslage der Verteidigung nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminschwierigkeiten der Verteidiger ist – auch wenn das Recht, sich vom Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, Verfassungsrang hat (vgl. BVerfGE 39, 156 <163>) – kein Umstand, der eine erhebliche Verzögerung rechtfertigen könnte (vgl. BVerfGK 10, 294 <306>; BVerfG, Beschluss der Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20 -, Rn. 74). Zwar zog die Strafkammer jedenfalls in Bezug auf zwei Termine in der 45. und 46. Kalenderwoche die Vertretung der betroffenen Angeklagten durch sogenannte „Terminsverteidiger“ oder „einen (bisher nicht am Verfahren näher beteiligten) dritten Verteidiger“ im Ausgangspunkt zutreffend in Erwägung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20 -, Rn. 74). Zu den weiteren Terminen in der 47. bis 50. Kalenderwoche, in denen überwiegend keine Beweisaufnahme stattfand, verhalten sich aber weder die Vorsitzende der Strafkammer noch das Oberlandesgericht. Soweit in den Monaten November und Dezember 2024 jeweils an drei Tagen mit nennenswerter Dauer und Inhalt verhandelt wurde, mag darin zwar eine Erhöhung der Verhandlungsdichte und -intensität erblickt werden können. Diese ist allerdings nicht im Ansatz geeignet, die erhebliche, bereits eingetretene Verfahrensverzögerung auszugleichen.

cc) Das Oberlandesgericht hat es schließlich versäumt, die ihm bekannte und damit absehbare weitere Planung der Hauptverhandlung in den Monaten Januar und Februar 2025 einer am Maßstab des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots orientierten Betrachtung zu unterziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2007 – 2 BvR 1850/07 -, Rn. 5 m.w.N.; Böhm, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2023, § 121 Rn. 52a). Hierzu bestand besonderer Anlass, denn auch die laut Mitteilung der Vorsitzenden der Strafkammer vorgesehenen weiteren Hauptverhandlungstage erreichen mit sechs Terminen in sieben Wochen und einer weiteren Verhandlungspause von knapp drei Wochen nicht das verfassungsrechtlich geforderte Mindestmaß von mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche (vgl. BVerfGK 7, 21 <46 f.>; 7, 140 <157>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07 -, Rn. 52). Zudem lagen – auch nach Maßgabe der eingesehenen Akte – keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Verhandlungstermine im Januar und Februar 2025 – jedenfalls teilweise – wegen des bevorstehenden Erlasses eines Urteils möglicherweise entbehrlich werden könnten. Im Ergebnis ist damit dem Oberlandesgericht aus dem Blick geraten, dass auch in den Monaten Januar und Februar 2025 mit jeweils drei Verhandlungstagen weder die von Verfassungs wegen erforderliche Terminsdichte erreicht, geschweige denn die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung ansatzweise ausgeglichen wird.“

Zwang I: Invollzugsetzung eines BtM-Haftbefehls, oder: Verletzung des Beschleunigungsgebots

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Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun.

Den Opener mache ich mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 Ws 11/25 – zur Invollzugsetzung eines Haftbefehls.

Gegen die Angeklagten ist ein Verfahrens wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 anhängig. In dem waren Haftbefehle jeweils wegen Fluchtgefahr ergangen. Die Angeklagten befanden sich seit dem 25.01.2022 in Untersuchungshaft. Das OLG hat denn Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das LG zunächst die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann am 17.10.2022. Am 25.01.2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das LG das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, ebenfalls wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das LG hat mit Beschluss vom 21.11.2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des AG  abgelehnt. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte. Das OLG bejaht die allgemeinen Voraussetzungen der U-Haft und führt dann aus:

„b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg – wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.“

Haft I: Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, oder: Kranker Vorsitzender, SV-Gutachten, Terminierung

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Bei mir im Blogordner hängen drei Haftentscheidungen, also reicht es heute für einen „Hafttag“.

Den beginne ich mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 03.12.2024 – 1 Ws 17/24 H. Ergangen ist der Beschluss im besonderen Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO, also „Sechs-Monats-Haftprüfung“. Der liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Angeklagte befindet sich nach vorläufiger Festnahme am 23.052024 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm wird unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain) in 219 Fällen und eine Beleidigung vorgeworfen. 216 der insgesamt 220 Tatvorwürfe haben ein identisches Tatgeschehen zum Gegenstand.

Der seinerzeit noch Beschuldigte hatte gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, die keinen Erfolg hatte. Im Anschluss hieran verfügte die Dezernentin bei der Staatsanwaltschaft am 20.06.2024 die „Fortsetzung der Ermittlungen“ durch die zuständige Kriminalpolizeistelle, ohne deren Art und Umfang zu konkretisieren. Auf ihre Sachstandsanfrage vom 08.072024 teilte ihr der sachbearbeitende Beamte mit, „dass die Ermittlungen abgeschlossen sind“. Lediglich ein Wirkstoffgutachten stehe noch aus. Hierbei handelt es sich vermutlich um ein Gutachten vom 22.07.2024. Am 17.07.2024 erstellte die Kriminalpolizeistelle ihren letzten Schlussvermerk. Die angekündigte Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft erfolgte sodann am 07.082024 auf dem Postweg und ohne Haftvermerk. Am 19.082024 erhob die Staatsanwaltschaft  schließlich Anklage zur Strafkammer, welche am 22.08.2024 die Zustellung und Übersetzung der Anklageschrift veranlasste. Am 16.09.2024 ging das seitens der Staatsanwaltschaft mit Anklageerhebung bei einer  Sachverständigen telefonisch unter Übersendung eines elektronischen Aktendoppels in Auftrag gegebene Gutachten zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB ein.

Zwischenzeitlich war der Kammervorsitzende seit dem 12.09.2024 bis zum 17.11.2024 dienstunfähig erkrankt. Die stellvertretende Kammervorsitzende hat mit Verfügung vom 25.10.2024 die Terminverfügbarkeiten des Verteidigers und der Sachverständigen abgefragt und von diesen am 04. bzw. 01.11.2024 Rückmeldungen erhalten, aus denen sich aus Sicht der Kammer ergab, dass eine beschleunigte Durchführung der Hauptverhandlungen aufgrund unzureichender Verfügbarkeiten nicht möglich sein würde. Darüber kam es zu einer fortgesetzten Korrespondenz zwischen der stellvertretenden Kammervorsitzenden und dem Verteidiger.

Am 08.11.2024 erging sodann die Eröffnungsentscheidung der Kammer. Zugleich verfügte die stellvertretende Kammervorsitzende die Ladung zur Hauptverhandlung mit Beginn am 21.11.2024 um 16 Uhr, also vier Tage vor Ablauf der nach § 43 Abs. 2 StPO zu berechnenden Sechs-Monats-Frist. Die Ladungsverfügung wurde am 11.11.2024 ausgeführt; die Zustellung an den Verteidiger erfolgte am 13.11.2024.

Aufgrund der Nichteinhaltung der Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO beantragte der Verteidiger für den Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 21.11.2024 die Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß § 217 Abs. 2 StPO und teilte auf Frage des Vorsitzenden mit, dass auch für den Beginn der Hauptverhandlung am 28.11.2024 (dem eigentlich nächsten Fortsetzungstermin) seitens des Angeklagten nicht auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichtet werde. Die Hauptverhandlung wurde sodann mit Beschluss der Kammer in der begonnenen Hauptverhandlung ausgesetzt. Von einer Terminierung auf den 28.11.2024 sah der Vorsitzende ab, da umstritten sei, ob die Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO auch nach Aussetzung der Hauptverhandlung gelte. Dies sei nach seiner Auffassung jedenfalls dann anzunehmen, wenn – wie vorliegend – die Ladungsfrist bezüglich der ausgesetzten Hauptverhandlung nicht gewahrt gewesen sei.

Die Strafkammer hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und verhältnismäßig gehalten und hat die Akten dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

Der Verteidiger hatte gegenüber der Kammer in der Korrespondenz im Hinblick auf die problematische Terminierung zunächst ausgeführt, die mögliche Terminierung trage „dem besonderen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen hinreichend Rechnung“. In seiner an den Senat gerichteten Stellungnahme vom 28.11.2024 hate er nunmehr eine umfassende Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes gerügt.

Das OLG hat den Haftbefehl des AG aufgehoben und die Entlassung des Angeklagten aus der U-Haft angeordnet. Das OLG hat den m.E. schleppenden Verfahrensgang mit deutlichen Worten gerügt. Wegen der Einzelheiten bitte selbst lesen. Ich veröffentliche hier nur die Leitsätze (des OLG), und zwar:

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen gilt während des gesamten Ermittlungsverfahrens. Es ist daher uneingeschränkt mit Beginn des Vollzuges der Untersuchungshaft zu beachten und nicht etwa – solange die Sechs-Monats-Frist (gerade noch) eingehalten werden kann – bis zur besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO mit geringeren Anforderungen.

2. Eine mit Haftsachen befassten Großen Strafkammer muss – anders als bei einer unvorhergesehenen und kurzen Erkrankung – dafür Sorge tragen, dass bei einem längerfristigen Ausfall eines Kammermitgliedes gleich aus welchem Grund eine angemessene Verfahrensförderung und ggf. auch die Durchführung einer Hauptverhandlung mit einer Vertretung gewährleistet ist. Ein unabsehbares Zuwarten stellt schon für sich eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar.

3. Es ist seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass der Eingang von Gutachten abgewartet wird, um bei Anklageerhebung sämtliche Beweismittel anführen zu können. Verzögert sich dies aber, ist dieser Verzögerung zum einen dadurch zu begegnen, dass die Gutachtenerstellung maximal priorisiert wird und zum anderen der Abschluss der Ermittlungen soweit vorangebracht wird, dass bei Eingang der restlichen Ermittlungsergebnisse diese zeitnah eingearbeitet werden können.

4. Dass es gerade im Hinblick auf die Auslastung von Verteidigern und Sachverständigen zu Konstellationen kommt, die dem Beschleunigungsgebot bei der Terminierung zuwiderlaufen, ist ein Problem, welches in Haftsachen geradezu typischerweise besteht. Es ist daher von einem mit Haftsachen befassten Spruchkörper zu erwarten, dass dem durch frühzeitige Planung und Terminabstimmung wirksam begegnet wird.

5. Bei der Annahme der Verhinderung eines Verteidigers ist ein Maßstab zugrunde zu legen, der sich an der Vorrangigkeit von Haftsachen orientiert. In einer Haftsache kommt deshalb grundsätzlich lediglich eine Verhinderung durch andere bereits bestimmte Hauptverhandlungstermine in Haftsachen in Betracht, die von dem Verteidiger grundsätzlich auch zu belegen ist. Eine Beiordnung hat zu unterbleiben oder ist zu beenden, wenn ein Verteidiger nicht gewährleisten kann, das ihm übertragene Mandat auch tatsächlich wahrzunehmen.

Haft I: Beschleunigungsgebot während laufender HV, oder: Wenn das Gericht die HV nicht gut vorbereitet

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Heute dann ein „Haft-Tag“, also Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.04.2023 -1 Ws 34/23 (S) –  zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen während laufender Hauptverhandlung.

Hier der Sachverhalt in Kurzform:

  • Der Angeklagte befindet sich seit nunmehr zehn Monaten und zwei Wochen ununterbrochen in Untersuchungshaft wegen Btm-Delikten, und zwar bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG).
  • Anklageerhebung unter dem 23.09.2022
  • Mit Beschluss vom 07.11. Eröffnung des Hauptverfahrens.
  • Beginn der Hauptverhandlung nach schwierigen Terminsabsprachen am 13.02.2023.
  • Verzögerungen in der Hauptverhandlung wegen nicht ausreichender Vorbereitung der Hauptverhandlung durch die Strafkammer
  • Voraussichtliches Ende der Hauptverhandlung im Mai 2023.

Wegen weiterer Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Das OLG Brandenburg hat jetzt den Haftbefehl während laufender Hauptverhandlung aufgehoben. Es sieht den Beschleunigungsgrundsatz verletzt. Dazu führt es – nach Darstellung der obergerichtlichen Rechtsprechung  – aus:

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen nach dem Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 23. November 2022, die in einer Gesamtschau des Verfahrens mit dem Recht des Angeklagten auf Beachtung des im rechtsstaatlichen Verfahren verankerten Beschleunigungsgebots nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig.

…..

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verkennt der Senat nicht, dass das Ermittlungsverfahren zügig geführt wurde. Die Anklageerhebung gut vier Monate nach der Inhaftierung des Angeklagten pp. ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Auch hat die – gerichtsbekannt hochbelastete – 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam das Verfahren zunächst angemessen gefördert.

c) Im Anschluss an den Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 23. November 2022 kam es jedoch zu erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Justiz zuzurechnen und mit dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht mehr vereinbar sind. Die Strafkammer hätte angesichts des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen für eine effiziente Verfahrensplanung und Durchführung der Hauptverhandlung Sorge tragen müssen.

aa) Eine in Anbetracht der bereits lang andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten pp. erhebliche Verfahrensverzögerung ist bereits darin zu erkennen, dass das Landgericht Potsdam nicht schon am 29. November 2022 die mit den Verteidigern abgestimmten Termine für die Hauptverhandlung anberaumt und den Auslandszeugen geladen hat. Es war bereits zu diesem Zeitpunkt damit zu rechnen, dass dieser Zeuge möglicherweise nicht bereit ist, vor Gericht in Deutschland zu erscheinen und insoweit eine über ein Rechtshilfeersuchen zu realisierende Videovernehmung notwendig werden kann. Die durch das erst am 13. Februar 2023 gestellte Rechtshilfeersuchen eingetretene Verzögerung, die dazu geführt hat, dass der Zeuge pp. erst am 24. März 2023 vernommen werden konnte, wäre bei vorausschauender Planung der Hauptverhandlung zu vermeiden gewesen.

bb) Auch nach der richterlichen Verfügung zur Ladung der Verfahrensbeteiligten am 20. Dezember 2022 ist die Sache nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben worden. Spätestens mit Eingang des Auswerteberichts der Digitalen Forensik des Zollfahndungsamts Berlin-Brandenburg bezüglich des iPhones 12 des Angeklagten pp. (Anfang Januar 2023 wäre es erforderlich gewesen, den Sachstand bezüglich der noch ausstehenden, ersichtlich für die Aufklärung relevanten Auswerteberichte zu erfragen. Gegebenenfalls wäre dafür Sorge zu tragen gewesen, dass die entsprechenden Berichte zumindest zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestanden hätten, der den Verteidigern noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine entsprechende Akteneinsicht ermöglicht hätte.

Es ist vor diesem Hintergrund mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot nicht vereinbar, dass die Hauptverhandlung nach gegenwärtigem Sachstand erst frühestens am 16. Mai 2023 beendet sein wird, mithin zu einem Zeitpunkt, an dem die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten pp. bereits ein Jahr angedauert hätte.

Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung verlangt, dass in umfangreicheren Haftsachen im Ergebnis einer effizienten Verfahrensplanung in ausreichendem Umfang Hauptverhandlungstage stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot regelmäßig vorliegt, wenn nicht mindestens an einem Tag in der Woche beziehungsweise an weniger als vier Tagen im Monat verhandelt wird (BVerfG, StV 2008, 198).

Bislang wurde vorliegend in einem Zeitraum von sieben Wochen lediglich an vier Hauptverhandlungstagen verhandelt. Hinzu kommt, dass die geringe Anzahl an Hauptverhandlungsterminen nicht dadurch ausgeglichen wird, dass an diesen Tagen besonders aufwändige Verhandlungen durchgeführt worden sind. Insgesamt ist 15 Stunden und 25 Minuten verhandelt worden, was eine Verhandlungsdauer von im Schnitt lediglich weniger als vier Stunden bedeutet. Die Ursachen für die kurze Dauer der Hauptverhandlungstermine liegen dabei vorwiegend in der Sphäre der Justiz, etwa die beschränkte Möglichkeit der Saalnutzung am 28. Februar 2023 oder die weitere durchzuführende Hauptverhandlung am 24. März 2023. Durch die tatsächliche Unterschreitung der ursprünglich geplanten Hauptverhandlungsdauer wird die vorstehend bereits für die Hauptverhandlungsplanung festgestellte Verfahrensverzögerung weiter vertieft.

Der Wegfall der Hauptverhandlungstermine vom 22. Februar 2023, 6. und 7. März 2023 beruht auf einem der Justiz anzulastenden Fehler. Entgegen der Auffassung der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam in der Nichtabhilfeentscheidung vom 10. März 2023 ist die Aufhebung der drei genannten Hauptverhandlungstermine nicht dem Verhalten der Verteidiger geschuldet, die lediglich ihr Recht auf vollständige Akteneinsicht geltend gemacht haben, sondern der oben geschilderten unzureichenden Vorbereitung der Hauptverhandlung seitens der Kammer.

Ferner stehen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch eine zu geringe Terminierungsdichte bevorstehende, aber schon deutlich absehbare Verfahrensverzögerungen bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen gleich (BVerfG, Beschluss vom 18.02.2020 — 2 BvR 2090/19BeckRS 2020, 2100).

Damit ist hier auch zu berücksichtigen, dass in den bevorstehenden sechs Wochen bis zum 16. Mai 2023 nur drei Hauptverhandlungstermine angesetzt sind (12. April 2023, 2. und 16. Mai 2023). Soweit die sicher zu erwartende — und somit auch weiterhin – sehr geringe Hauptverhandlungsdichte auf die Verhinderung der Verteidiger wegen anderweitiger pp. Verpflichtungen zurückzuführen ist, wird die Verantwortlichkeit der eintretenden Verfahrensverzögerung nicht maßgeblich in die Sphäre des Angeklagten pp. verlagert.

Zwar ist grundsätzlich auch die Verteidigung gehalten, in ihrer Terminplanung ausreichenden Raum für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung der Mandanten zu belassen. Von den Verteidigern konnte vorliegend jedoch nicht erwartet werden, dass sie sich mehrere Fortsetzungstermine freihalten, da die Fortsetzungstermine durch eine mangelnde Vorbereitung der Hauptverhandlung notwendig geworden waren. Die geringe Terminierungsdichte ist hier nicht vorwiegend auf Verhinderungen der Verteidiger zurückzuführen, die nicht bei effizienter Planung der Hauptverhandlung weitgehend hätten vermieden werden können.

Die Strafkammer wäre im Übrigen bei der gegebenen Sachlage nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehalten gewesen, bei der Terminierung Flexibilität zu zeigen, etwa durch Verschiebung von Terminen in anderen Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 18.02.2020 — 2 BvR 2090/19BeckRS 2020, 2100). Die in der Stellungnahme der Kammervorsitzenden vom 27. März 2023 erwähnte einwöchige Fortbildungsveranstaltung eines Richters konnte insofern nicht als Verhinderungsgrund seitens der Kammer berücksichtigt werden.

Dahinstehen kann in diesem Zusammenhang, welchen Einfluss der Auslandsurlaub der Schöffin auf die Terminierung der Fortsetzungstermine gehabt hat. Denn es ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, dass die Strafkammer in der Zeit vom 13. Februar 2023 bis zum 16. Mai 2023 — mithin in einem Zeitraum von mehr als drei Monaten —nur an insgesamt sieben Tagen einen Hauptverhandlungstermin durchführt, wobei an den ersten vier Terminen die Dauer der Hauptverhandlung durchschnittlich nur weniger als vier Stunden betrug, und im Monat April 2023 lediglich an einem Tag Hauptverhandlung anberaumt ist.

Die eingetretenen und bevorstehenden Verzögerungen können nicht mit der dem Senat bekannten sehr hohen Belastung der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam gerechtfertigt werden. Die Überlastung der Strafkammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen. Der hohe Geschäftsanfall ist nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen.

In der Gesamtschau liegt ein erheblicher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, bei dem — wie oben dargelegt — allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014, 2 BvR 1457/14.“

Man merkt dem OLG deutlich an, dass es „not amused“ ist.