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Zwang I: Invollzugsetzung eines BtM-Haftbefehls, oder: Verletzung des Beschleunigungsgebots

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Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun.

Den Opener mache ich mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 Ws 11/25 – zur Invollzugsetzung eines Haftbefehls.

Gegen die Angeklagten ist ein Verfahrens wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 anhängig. In dem waren Haftbefehle jeweils wegen Fluchtgefahr ergangen. Die Angeklagten befanden sich seit dem 25.01.2022 in Untersuchungshaft. Das OLG hat denn Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das LG zunächst die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann am 17.10.2022. Am 25.01.2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das LG das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, ebenfalls wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das LG hat mit Beschluss vom 21.11.2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des AG  abgelehnt. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte. Das OLG bejaht die allgemeinen Voraussetzungen der U-Haft und führt dann aus:

„b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg – wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.“

Haft I: Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, oder: Kranker Vorsitzender, SV-Gutachten, Terminierung

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Bei mir im Blogordner hängen drei Haftentscheidungen, also reicht es heute für einen „Hafttag“.

Den beginne ich mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 03.12.2024 – 1 Ws 17/24 H. Ergangen ist der Beschluss im besonderen Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO, also „Sechs-Monats-Haftprüfung“. Der liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Angeklagte befindet sich nach vorläufiger Festnahme am 23.052024 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm wird unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain) in 219 Fällen und eine Beleidigung vorgeworfen. 216 der insgesamt 220 Tatvorwürfe haben ein identisches Tatgeschehen zum Gegenstand.

Der seinerzeit noch Beschuldigte hatte gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, die keinen Erfolg hatte. Im Anschluss hieran verfügte die Dezernentin bei der Staatsanwaltschaft am 20.06.2024 die „Fortsetzung der Ermittlungen“ durch die zuständige Kriminalpolizeistelle, ohne deren Art und Umfang zu konkretisieren. Auf ihre Sachstandsanfrage vom 08.072024 teilte ihr der sachbearbeitende Beamte mit, „dass die Ermittlungen abgeschlossen sind“. Lediglich ein Wirkstoffgutachten stehe noch aus. Hierbei handelt es sich vermutlich um ein Gutachten vom 22.07.2024. Am 17.07.2024 erstellte die Kriminalpolizeistelle ihren letzten Schlussvermerk. Die angekündigte Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft erfolgte sodann am 07.082024 auf dem Postweg und ohne Haftvermerk. Am 19.082024 erhob die Staatsanwaltschaft  schließlich Anklage zur Strafkammer, welche am 22.08.2024 die Zustellung und Übersetzung der Anklageschrift veranlasste. Am 16.09.2024 ging das seitens der Staatsanwaltschaft mit Anklageerhebung bei einer  Sachverständigen telefonisch unter Übersendung eines elektronischen Aktendoppels in Auftrag gegebene Gutachten zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB ein.

Zwischenzeitlich war der Kammervorsitzende seit dem 12.09.2024 bis zum 17.11.2024 dienstunfähig erkrankt. Die stellvertretende Kammervorsitzende hat mit Verfügung vom 25.10.2024 die Terminverfügbarkeiten des Verteidigers und der Sachverständigen abgefragt und von diesen am 04. bzw. 01.11.2024 Rückmeldungen erhalten, aus denen sich aus Sicht der Kammer ergab, dass eine beschleunigte Durchführung der Hauptverhandlungen aufgrund unzureichender Verfügbarkeiten nicht möglich sein würde. Darüber kam es zu einer fortgesetzten Korrespondenz zwischen der stellvertretenden Kammervorsitzenden und dem Verteidiger.

Am 08.11.2024 erging sodann die Eröffnungsentscheidung der Kammer. Zugleich verfügte die stellvertretende Kammervorsitzende die Ladung zur Hauptverhandlung mit Beginn am 21.11.2024 um 16 Uhr, also vier Tage vor Ablauf der nach § 43 Abs. 2 StPO zu berechnenden Sechs-Monats-Frist. Die Ladungsverfügung wurde am 11.11.2024 ausgeführt; die Zustellung an den Verteidiger erfolgte am 13.11.2024.

Aufgrund der Nichteinhaltung der Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO beantragte der Verteidiger für den Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 21.11.2024 die Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß § 217 Abs. 2 StPO und teilte auf Frage des Vorsitzenden mit, dass auch für den Beginn der Hauptverhandlung am 28.11.2024 (dem eigentlich nächsten Fortsetzungstermin) seitens des Angeklagten nicht auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichtet werde. Die Hauptverhandlung wurde sodann mit Beschluss der Kammer in der begonnenen Hauptverhandlung ausgesetzt. Von einer Terminierung auf den 28.11.2024 sah der Vorsitzende ab, da umstritten sei, ob die Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO auch nach Aussetzung der Hauptverhandlung gelte. Dies sei nach seiner Auffassung jedenfalls dann anzunehmen, wenn – wie vorliegend – die Ladungsfrist bezüglich der ausgesetzten Hauptverhandlung nicht gewahrt gewesen sei.

Die Strafkammer hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und verhältnismäßig gehalten und hat die Akten dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

Der Verteidiger hatte gegenüber der Kammer in der Korrespondenz im Hinblick auf die problematische Terminierung zunächst ausgeführt, die mögliche Terminierung trage „dem besonderen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen hinreichend Rechnung“. In seiner an den Senat gerichteten Stellungnahme vom 28.11.2024 hate er nunmehr eine umfassende Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes gerügt.

Das OLG hat den Haftbefehl des AG aufgehoben und die Entlassung des Angeklagten aus der U-Haft angeordnet. Das OLG hat den m.E. schleppenden Verfahrensgang mit deutlichen Worten gerügt. Wegen der Einzelheiten bitte selbst lesen. Ich veröffentliche hier nur die Leitsätze (des OLG), und zwar:

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen gilt während des gesamten Ermittlungsverfahrens. Es ist daher uneingeschränkt mit Beginn des Vollzuges der Untersuchungshaft zu beachten und nicht etwa – solange die Sechs-Monats-Frist (gerade noch) eingehalten werden kann – bis zur besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO mit geringeren Anforderungen.

2. Eine mit Haftsachen befassten Großen Strafkammer muss – anders als bei einer unvorhergesehenen und kurzen Erkrankung – dafür Sorge tragen, dass bei einem längerfristigen Ausfall eines Kammermitgliedes gleich aus welchem Grund eine angemessene Verfahrensförderung und ggf. auch die Durchführung einer Hauptverhandlung mit einer Vertretung gewährleistet ist. Ein unabsehbares Zuwarten stellt schon für sich eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar.

3. Es ist seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass der Eingang von Gutachten abgewartet wird, um bei Anklageerhebung sämtliche Beweismittel anführen zu können. Verzögert sich dies aber, ist dieser Verzögerung zum einen dadurch zu begegnen, dass die Gutachtenerstellung maximal priorisiert wird und zum anderen der Abschluss der Ermittlungen soweit vorangebracht wird, dass bei Eingang der restlichen Ermittlungsergebnisse diese zeitnah eingearbeitet werden können.

4. Dass es gerade im Hinblick auf die Auslastung von Verteidigern und Sachverständigen zu Konstellationen kommt, die dem Beschleunigungsgebot bei der Terminierung zuwiderlaufen, ist ein Problem, welches in Haftsachen geradezu typischerweise besteht. Es ist daher von einem mit Haftsachen befassten Spruchkörper zu erwarten, dass dem durch frühzeitige Planung und Terminabstimmung wirksam begegnet wird.

5. Bei der Annahme der Verhinderung eines Verteidigers ist ein Maßstab zugrunde zu legen, der sich an der Vorrangigkeit von Haftsachen orientiert. In einer Haftsache kommt deshalb grundsätzlich lediglich eine Verhinderung durch andere bereits bestimmte Hauptverhandlungstermine in Haftsachen in Betracht, die von dem Verteidiger grundsätzlich auch zu belegen ist. Eine Beiordnung hat zu unterbleiben oder ist zu beenden, wenn ein Verteidiger nicht gewährleisten kann, das ihm übertragene Mandat auch tatsächlich wahrzunehmen.

Haft I: Beschleunigungsgebot während laufender HV, oder: Wenn das Gericht die HV nicht gut vorbereitet

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Heute dann ein „Haft-Tag“, also Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.04.2023 -1 Ws 34/23 (S) –  zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen während laufender Hauptverhandlung.

Hier der Sachverhalt in Kurzform:

  • Der Angeklagte befindet sich seit nunmehr zehn Monaten und zwei Wochen ununterbrochen in Untersuchungshaft wegen Btm-Delikten, und zwar bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG).
  • Anklageerhebung unter dem 23.09.2022
  • Mit Beschluss vom 07.11. Eröffnung des Hauptverfahrens.
  • Beginn der Hauptverhandlung nach schwierigen Terminsabsprachen am 13.02.2023.
  • Verzögerungen in der Hauptverhandlung wegen nicht ausreichender Vorbereitung der Hauptverhandlung durch die Strafkammer
  • Voraussichtliches Ende der Hauptverhandlung im Mai 2023.

Wegen weiterer Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Das OLG Brandenburg hat jetzt den Haftbefehl während laufender Hauptverhandlung aufgehoben. Es sieht den Beschleunigungsgrundsatz verletzt. Dazu führt es – nach Darstellung der obergerichtlichen Rechtsprechung  – aus:

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen nach dem Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 23. November 2022, die in einer Gesamtschau des Verfahrens mit dem Recht des Angeklagten auf Beachtung des im rechtsstaatlichen Verfahren verankerten Beschleunigungsgebots nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig.

…..

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verkennt der Senat nicht, dass das Ermittlungsverfahren zügig geführt wurde. Die Anklageerhebung gut vier Monate nach der Inhaftierung des Angeklagten pp. ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Auch hat die – gerichtsbekannt hochbelastete – 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam das Verfahren zunächst angemessen gefördert.

c) Im Anschluss an den Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 23. November 2022 kam es jedoch zu erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Justiz zuzurechnen und mit dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht mehr vereinbar sind. Die Strafkammer hätte angesichts des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen für eine effiziente Verfahrensplanung und Durchführung der Hauptverhandlung Sorge tragen müssen.

aa) Eine in Anbetracht der bereits lang andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten pp. erhebliche Verfahrensverzögerung ist bereits darin zu erkennen, dass das Landgericht Potsdam nicht schon am 29. November 2022 die mit den Verteidigern abgestimmten Termine für die Hauptverhandlung anberaumt und den Auslandszeugen geladen hat. Es war bereits zu diesem Zeitpunkt damit zu rechnen, dass dieser Zeuge möglicherweise nicht bereit ist, vor Gericht in Deutschland zu erscheinen und insoweit eine über ein Rechtshilfeersuchen zu realisierende Videovernehmung notwendig werden kann. Die durch das erst am 13. Februar 2023 gestellte Rechtshilfeersuchen eingetretene Verzögerung, die dazu geführt hat, dass der Zeuge pp. erst am 24. März 2023 vernommen werden konnte, wäre bei vorausschauender Planung der Hauptverhandlung zu vermeiden gewesen.

bb) Auch nach der richterlichen Verfügung zur Ladung der Verfahrensbeteiligten am 20. Dezember 2022 ist die Sache nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben worden. Spätestens mit Eingang des Auswerteberichts der Digitalen Forensik des Zollfahndungsamts Berlin-Brandenburg bezüglich des iPhones 12 des Angeklagten pp. (Anfang Januar 2023 wäre es erforderlich gewesen, den Sachstand bezüglich der noch ausstehenden, ersichtlich für die Aufklärung relevanten Auswerteberichte zu erfragen. Gegebenenfalls wäre dafür Sorge zu tragen gewesen, dass die entsprechenden Berichte zumindest zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestanden hätten, der den Verteidigern noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine entsprechende Akteneinsicht ermöglicht hätte.

Es ist vor diesem Hintergrund mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot nicht vereinbar, dass die Hauptverhandlung nach gegenwärtigem Sachstand erst frühestens am 16. Mai 2023 beendet sein wird, mithin zu einem Zeitpunkt, an dem die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten pp. bereits ein Jahr angedauert hätte.

Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung verlangt, dass in umfangreicheren Haftsachen im Ergebnis einer effizienten Verfahrensplanung in ausreichendem Umfang Hauptverhandlungstage stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot regelmäßig vorliegt, wenn nicht mindestens an einem Tag in der Woche beziehungsweise an weniger als vier Tagen im Monat verhandelt wird (BVerfG, StV 2008, 198).

Bislang wurde vorliegend in einem Zeitraum von sieben Wochen lediglich an vier Hauptverhandlungstagen verhandelt. Hinzu kommt, dass die geringe Anzahl an Hauptverhandlungsterminen nicht dadurch ausgeglichen wird, dass an diesen Tagen besonders aufwändige Verhandlungen durchgeführt worden sind. Insgesamt ist 15 Stunden und 25 Minuten verhandelt worden, was eine Verhandlungsdauer von im Schnitt lediglich weniger als vier Stunden bedeutet. Die Ursachen für die kurze Dauer der Hauptverhandlungstermine liegen dabei vorwiegend in der Sphäre der Justiz, etwa die beschränkte Möglichkeit der Saalnutzung am 28. Februar 2023 oder die weitere durchzuführende Hauptverhandlung am 24. März 2023. Durch die tatsächliche Unterschreitung der ursprünglich geplanten Hauptverhandlungsdauer wird die vorstehend bereits für die Hauptverhandlungsplanung festgestellte Verfahrensverzögerung weiter vertieft.

Der Wegfall der Hauptverhandlungstermine vom 22. Februar 2023, 6. und 7. März 2023 beruht auf einem der Justiz anzulastenden Fehler. Entgegen der Auffassung der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam in der Nichtabhilfeentscheidung vom 10. März 2023 ist die Aufhebung der drei genannten Hauptverhandlungstermine nicht dem Verhalten der Verteidiger geschuldet, die lediglich ihr Recht auf vollständige Akteneinsicht geltend gemacht haben, sondern der oben geschilderten unzureichenden Vorbereitung der Hauptverhandlung seitens der Kammer.

Ferner stehen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch eine zu geringe Terminierungsdichte bevorstehende, aber schon deutlich absehbare Verfahrensverzögerungen bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen gleich (BVerfG, Beschluss vom 18.02.2020 — 2 BvR 2090/19BeckRS 2020, 2100).

Damit ist hier auch zu berücksichtigen, dass in den bevorstehenden sechs Wochen bis zum 16. Mai 2023 nur drei Hauptverhandlungstermine angesetzt sind (12. April 2023, 2. und 16. Mai 2023). Soweit die sicher zu erwartende — und somit auch weiterhin – sehr geringe Hauptverhandlungsdichte auf die Verhinderung der Verteidiger wegen anderweitiger pp. Verpflichtungen zurückzuführen ist, wird die Verantwortlichkeit der eintretenden Verfahrensverzögerung nicht maßgeblich in die Sphäre des Angeklagten pp. verlagert.

Zwar ist grundsätzlich auch die Verteidigung gehalten, in ihrer Terminplanung ausreichenden Raum für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung der Mandanten zu belassen. Von den Verteidigern konnte vorliegend jedoch nicht erwartet werden, dass sie sich mehrere Fortsetzungstermine freihalten, da die Fortsetzungstermine durch eine mangelnde Vorbereitung der Hauptverhandlung notwendig geworden waren. Die geringe Terminierungsdichte ist hier nicht vorwiegend auf Verhinderungen der Verteidiger zurückzuführen, die nicht bei effizienter Planung der Hauptverhandlung weitgehend hätten vermieden werden können.

Die Strafkammer wäre im Übrigen bei der gegebenen Sachlage nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehalten gewesen, bei der Terminierung Flexibilität zu zeigen, etwa durch Verschiebung von Terminen in anderen Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 18.02.2020 — 2 BvR 2090/19BeckRS 2020, 2100). Die in der Stellungnahme der Kammervorsitzenden vom 27. März 2023 erwähnte einwöchige Fortbildungsveranstaltung eines Richters konnte insofern nicht als Verhinderungsgrund seitens der Kammer berücksichtigt werden.

Dahinstehen kann in diesem Zusammenhang, welchen Einfluss der Auslandsurlaub der Schöffin auf die Terminierung der Fortsetzungstermine gehabt hat. Denn es ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, dass die Strafkammer in der Zeit vom 13. Februar 2023 bis zum 16. Mai 2023 — mithin in einem Zeitraum von mehr als drei Monaten —nur an insgesamt sieben Tagen einen Hauptverhandlungstermin durchführt, wobei an den ersten vier Terminen die Dauer der Hauptverhandlung durchschnittlich nur weniger als vier Stunden betrug, und im Monat April 2023 lediglich an einem Tag Hauptverhandlung anberaumt ist.

Die eingetretenen und bevorstehenden Verzögerungen können nicht mit der dem Senat bekannten sehr hohen Belastung der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam gerechtfertigt werden. Die Überlastung der Strafkammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen. Der hohe Geschäftsanfall ist nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen.

In der Gesamtschau liegt ein erheblicher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, bei dem — wie oben dargelegt — allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014, 2 BvR 1457/14.“

Man merkt dem OLG deutlich an, dass es „not amused“ ist.

U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz nach Urteil, oder: Fehler bei der Protokollerstellung

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Heute dann der zweite „Hafttag“ in 2023, also noch einmal drei Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2022 – 1 Ws 107/22. Das OLG hat Stellung genommen zur Untersuchungshaftfragen, insbesondere zum Beschleunigungsgrundsatz bei verzögerter Urteilszustellung wegen fehlender Protokollfertigstellung.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.12.2020 in Haft wegen der Vorwurfs eines BtM-Delikts. Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- EUR angeordnet. Der weitere Vollzug der U-Haft wurde angeordnet.

Der Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Am 09.05.2022 hat die Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe, die am 27.04.2022 zur Geschäftsstelle gelangt sind, verfügt. Durch weitere Verfügung der Vorsitzenden vom 20.06.2022 wurde die Übersendung der Akten gemäß § 347 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft veranlasst. Dort wurde ausweislich einer Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 11.07.2022 festgestellt, dass die Teilprotokolle vom 20. und 29. Hauptverhandlungstag jeweils nicht von der eingesetzten Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet worden waren. Nachdem die fehlenden Unterschriften noch am 11.07.2022 nachgeholt worden waren, verfügte die Vorsitzende unter dem 14.07.2022 erneut die Zustellung des Urteils. Die Verfügung wurde am 20.07.2022 ausgeführt. Rechtsanwalt D. verweigerte seine Mitwirkung bei der Zustellung, indem er das Empfangsbekenntnis nicht abgab, was er damit begründete, dass das per EGVP an ihn übersendete Schriftstück, welches u.a. die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 Urteil A.“ enthalten hatte, nicht eindeutig identifizierbar bezeichnet worden sei. Nachdem die Akten der Vorsitzenden am 05.08.2022 erneut vorgelegt worden waren, verfügte sie noch am selben Tag abermals die Urteilszustellung an Rechtsanwalt D., die ausweislich des durch den Verteidiger nunmehr abgegebenen Empfangsbekenntnisses sodann am 08.08.2022 erfolgte.

Bereits mit Datum vom 17.06.2022 hatte Rechtsanwalt D. die für den Angeklagten eingelegte Revision mit einem insgesamt 2.877 Seiten umfassenden Schriftsatz begründet, die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt sowie die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 erklärte der Verteidiger, dass davon abgesehen werde, die Revisionsbegründungsschrift vom 17.06.2022 auf die erneute Urteilszustellung hin abermals zu übersenden; sie solle vielmehr „uneingeschränkt fortgelten“.

Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt D. ebenfalls vom 16.08.2022 wendete sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 11.02.2022 und beantragte, den Haftbefehl wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aufzuheben. Das hat die Kammer abgelehnt. Dagegen dann die Beschwerde zum OLG, die keinen Erfolg hatte. Das OLG hat seine Entscheidung umfassend begründet. Das hier im Einzelnen einzustellen, würde den Rahmen sprengen. Ich beschränke mich also auf die Leitsätze, die lauten:

1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.

2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.

3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.

4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.

Rest dann bitte im verlinkten Volltext lesen.

U-Haft III: Geringe Terminsdichte verzögert 7 Monate, oder: Warum meldet sich der Verteidiger nicht mal?

In der dritten Entscheidung des Tages, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.10.2022 – 1 Ws 184/22 – geht es u.a. auch um die Terminsdichte.

Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 13.03.2020 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhob unter dem 27.07.2020 Anklage zur Jugendkammer des LG. Die Anklageschrift, beim LG am 10.08.2020 eingegangen, wurde dem Angeklagten, seiner ihn gesetzlich vertretenden Mutter und dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt pp. aufgrund Verfügung des Vorsitzenden vom gleichen Tag zugestellt. Am 11.08.2020 wurden mit der Kanzlei des Verteidigers telefonisch Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung abgestimmt. Mit Beschluss vom 21.08.2020 ordnete der Vorsitzende der Jugendkammer Rechtsanwalt pp. als weiteren Pflichtverteidiger bei. Mit Beschluss vom 07.09.2020 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Zugleich wurde der Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses neu gefasst und Haftfortdauer angeordnet. Mit Verfügung vom 08.09.2020 bestimmte der Vorsitzende der Jugendkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den 21.09.2020 sowie abgestimmte 13 Fortsetzungstermine bis 28.01.2021.

Die Hauptverhandlung fand schließlich zwischen dem 21.09.2020 und dem 02.08.2022 an insgesamt 57 Verhandlungstagen statt. Mit Urteil vom 02.08.2022 wurde der Angeklagte wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Frankenthal legten Revision gegen das Urteil ein.

Der Angeklagte wendet sich mit seiner am 04.08.2022 erhobenen Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung unter Verweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Die Jugendkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Beschwerde hatte dann aber beim OLG Erfolg.

Das OLG nimmt zum Beschleunigungsgrundsazu auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung Stellung und legt da, dass er hier irreparabel verletzt ist, was zur Aufhebung des Haftbefehls führe:

„2. Das Verfahren ist gemessen an diesen Grundsätzen nicht mit der für Haftsachen erforderlichen Beschleunigung betrieben worden.

Bis zum Beginn der Hauptverhandlung ist zwar keine Verzögerung eingetreten. Auch hat die Hauptverhandlung bereits sechs Wochen nach Eingang der Anklageschrift begonnen. Die Planung und Durchführung der Hauptverhandlung ist aber dem Gebot einer vorausschauenden, auch größere Zeiträume umfassenden Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 52, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 –, Rn. 52, juris), nicht gerecht geworden.

Bereits terminiert wurde mit einer Frequenz von durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstag pro Woche. In der mehr als 22 Monate dauernden Hauptverhandlung wurde dann gerade einmal an 57 Tagen tatsächlich verhandelt, darunter waren zehn Kurztermine von unter einer halben Stunde. Selbst bei Berücksichtigung dieser Kurztermine (vgl. hierzu BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, Rn. 52; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, Rn. 102) ergibt dies eine durchschnittliche wöchentliche Sitzungsdichte von 0,59 Tagen, die damit deutlich unter den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts liegt. Auch bei der Terminierung ab Februar 2021, mithin mehr als vier Monate nach Beginn der Hauptverhandlung, ist weiterhin mit durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstermin pro Woche geplant worden. Insbesondere mit fortschreitender Dauer der Untersuchungshaft wäre jedoch eine Verdichtung der Termine – gegebenenfalls auch nur unter Teilnahme des Sicherungsverteidigers – zwingend erforderlich gewesen. Hier hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass sich der Angeklagte im März 2021 bereits ein Jahr in Untersuchungshaft befand und dies nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung finden kann. Bis zum Ende der annähernd zwei Jahre dauernden Hauptverhandlung fand keine erkennbare Verdichtung der Termine statt.

Erkrankungen von Verfahrensbeteiligten können als schicksalhafte Ereignisse die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz objektiv feststehender Verzögerung rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.12.1973 – 2 BvR 558/73, juris Rn. 27; Beschluss vom 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17, juris Rn. 18; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, juris Rn. 30; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, juris Rn. 70). Der Senat hat deshalb berücksichtigt, dass es zu Terminsaufhebungen wegen Krankheit, auch COVID-19-Erkrankungen sowie in diesem Zusammenhang erforderlichen Quarantänezeiten auf Seiten des Gerichts sowie weiterer Verfahrensbeteiligter gekommen ist.

Die für die 28.01.2021, 19.07.2021, 05.01.2022, 10.01.2022, 14.01.2022, 26.01.2022, 17.03.2022, 21.03.2022, 12.05.2022 und 19.07.2022 bestimmten Termine konnten aufgrund Erkrankung auf Seiten des Gerichts, des Sachverständigen, des Angeklagten oder der Verteidigung nicht stattfinden. Der Termin vom 06.12.2021 wurde wegen Verdachts einer COVID-19 Erkrankung aufgehoben. Zudem waren Termine am 08.10.2020, 21.01.2021, 24.01.2022 und 11.02.2022 aufgrund Erkrankung eines Sachverständigen nur als Kurztermine wahrnehmbar, da die eigentlich vorgesehene Beweisaufnahme nicht stattfinden konnte.

Es kann auch offen bleiben, ob sich die Zeiträume, in denen wegen Urlaubs der Kammermitglieder keine Termine stattfanden, in angemessenem Rahmen gehalten haben. Denn selbst bei Berücksichtigung aller Zeiten, in denen sowohl durch Urlaub von Kammermitgliedern als auch der Verteidigung eine Terminierung nicht möglich war, sowie der Termine, die infolge Krankheit auf Seiten des Gerichts und der weiteren notwendigen Verfahrensbeteiligten aufgehoben werden mussten, ergibt sich lediglich eine durchschnittliche wöchentliche Verhandlungsdichte von 0,86 Tagen.

Die Terminsdichte ist auch unabhängig von der Frage des Umfangs der durchzuführenden Beweisaufnahme sowie deren Komplexität, der Anzahl von – hier nicht relevanten – gestellten Verfahrens- und Befangenheitsanträge und der hierdurch bewirkten Verfahrensverzögerung zu beurteilen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 55 m.w.N., juris). Solche Gesichtspunkte können lediglich die Dauer der Hauptverhandlung, nicht aber die geringe Terminsdichte erklären. Besonderheiten, die zu der geringen Terminsdichte geführt haben, etwa die Durchführung weiterer Ermittlungen, die Suche nach erst während der Hauptverhandlung bekannt gewordenen Zeugen oder die Ladung von Auslandszeugen, sind nicht erkennbar und von dem Vorsitzenden in seiner dienstlichen Erklärung auch nicht angeführt worden.

Soweit die geringe Terminsdichte auf von der Verteidigung geltend gemachte Terminkollisionen zurückzuführen ist, führt dies nicht grundsätzlich dazu, dass der Justiz die Verfahrensverzögerung nicht anzulasten ist. Dies gilt auch dann, wenn derartige Terminkollisionen durch eine vorausschauende, weit in die Zukunft reichende Terminplanung wegen der Terminsbelastung des Verteidigers und des Sicherungsverteidigers nicht vermieden werden können. Die Strafkammer darf nicht ausnahmslos auf Terminkollisionen der Verteidiger Rücksicht nehmen. Vielmehr stellt sich dann die Frage, ob nicht bereits vor Beginn der Hauptverhandlung andere Pflichtverteidiger hätten bestellt werden müssen oder inwieweit die Verteidiger in der laufenden Hauptverhandlung mit Blick auf das Beschleunigungsgebot hätten verpflichtet werden können, andere – weniger dringliche – Termine zu verschieben, um eine Beschleunigung einer bereits lang dauernden Hauptverhandlung zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.07.2006 – 2 BvR 1190/06 –, juris).

Das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann entsprechend den einfachgesetzlichen Vorschriften der § 142 Abs. 5 Satz 3, § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO durch wichtige Gründe begrenzt sein (vgl. BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243 m.w.N.; siehe auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.09.2001 – 2 BvR 1152/01 –, NStZ 2002, S. 99 f.). Ein solcher Grund kann in bestimmten Konstellationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein. Es ist deshalb von vornherein verfehlt, bei der Terminierung jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen. Vielmehr muss zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass der Vollzug von Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Die Terminslage des Verteidigers kann angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15.02.2007 – 2 BvR 2563/06 –, BVerfGK 10, 294-308, Rn. 37 f.).

Soweit sich aus der Akte ergibt, dass der Pflichtverteidiger bereits bei der ersten Absprache der Termine dargestellt hatte, dass er nicht an einer an den dargelegten Voraussetzungen zu messenden Terminsfrequenz zur Verfügung stehen könne, hätte folglich der Austausch des Pflichtverteidigers nahe gelegen.

Ob eine Terminsverdichtung auch mit Blick auf weitere Haftsachen der Kammer nicht erfolgt ist, kann offen bleiben. Die außerordentliche Belastung der Jugendkammer des Landgerichts kann eine Verfahrensverzögerung nicht rechtfertigen. Eine Überlastung der Kammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen.

3. Damit ist die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig.

Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung befand sich der Angeklagte seit über 28 Monaten in Untersuchungshaft. Bereits die ursprüngliche Terminsbestimmung blieb mit 14 Verhandlungstagen in 19 Wochen hinter den Anforderungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zurück. Auch die weitere Planung der Hauptverhandlung wurde diesen Vorgaben mit 68 Verhandlungstagen in (mehr als) 97 Wochen nicht gerecht, zumal verschiedene Termine lediglich als Ersatztermine für ausgefallene Verhandlungstage bestimmt wurden. Tatsächlich wurde in dem genannten Zeitraum dann lediglich an 57 Tagen verhandelt. An 20 dieser Verhandlungstage wurde weniger als zwei Stunden verhandelt. Im Durchschnitt ist in dem Verhandlungszeitraum nur etwas mehr als 1 1/2 Stunden pro Woche verhandelt worden. Da es sich bei dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten zunächst noch um einen Jugendlichen, später Heranwachsenden handelte, war dem Beschleunigungsgebot auch gem. § 72 Abs. 5 JGG besonders Rechnung zu tragen (Pfälzisches OLG Zweibrücken, Beschluss vom 09.04.2002 – 1 HPL 12/02 –, juris).

Der Angeklagte ist wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Zu Recht führt die Generalstaatsanwaltschaft dazu aus, der Angeklagte sei wegen schwerster Straftaten schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt worden, die gegen einen Jugendlichen nach dem Jugendgerichtsgesetz verhängt werden kann.Das Verfahren war schon aufgrund der Tatvorwürfe auch durchaus komplex. Die Hauptverhandlungstermine bedurften nicht nur der Abstimmung mit den Verteidigern, sondern auch mit weiteren Rechtsanwälten, mehreren Sachverständigen und vier Schöffen; allerdings ist insoweit zu beachten, dass von den Sachverständigen allenfalls der psychiatrische Sachverständige während der gesamten Beweisaufnahme anwesend sein musste und eine Verhinderung der anwaltlichen Vertreter der Nebenkläger gem. § 398 StPO der Terminierung nicht entgegenstand. Schließlich gestaltete sich die Vernehmung der Nebenklägerinnen schon im Hinblick auf die Tatvorwürfe sicherlich ausgesprochen schwierig, bedurfte deshalb einer entsprechenden organisatorischen Vorbereitung und konnte auch nicht unter Zeitdruck durchgeführt werden.

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs durch die Verurteilung des Angeklagten ganz erheblich vergrößert hat.

Die durch die geringe Terminsdichte eingetretene Verzögerung beträgt mehr als sieben Monate (32 Wochen). Der Senat ist bei dieser Schätzung davon ausgegangen, dass die tatsächlich für die Hauptverhandlung benötigten 57 Verhandlungstage regelmäßig in weniger als 57 Wochen stattfinden müssen. Die 20 Sitzungstage mit einer Dauer von unter zwei Stunden hat der Senat lediglich als halbe Verhandlungstage berücksichtigt mit der Folge, dass sich die an sich notwendige Verhandlungsdauer auf 47 Wochen reduziert. Danach hat der Senat die von dem Vorsitzenden genannten Urlaubszeiten der Richter und Verfahrensbeteiligten (in den Kalenderwochen 42, 43, 44, 52 sowie 53 im Jahr 2020 und in den Kalenderwochen 13, 14, 21, 22, 31, 32, 33, 34, 41 und 42 im Jahr 2021) sowie die Krankheitszeiten (in den Kalenderwochen 3, 4 und 29 im Jahr 2021) hinzugerechnet. Mithin hätte die Hauptverhandlung nach 65 Wochen beendet sein müssen, hat sich aber tatsächlich 97 Wochen hingezogen. Allerdings wurde mit dem besonders zügigen Beginn der Hauptverhandlung ein Zeitraum von sechs Wochen kompensiert, was die Verzögerung auf knapp sechs Monate (26 Wochen) zurückführt. Eine weitere Kompensation der Verzögerung im Revisionsverfahren ist nicht mehr zu erwarten. Dies ist zwar – etwa durch eine besonders beschleunigte Absetzung der Urteilsgründe – theoretisch möglich; auf die entsprechende Anfrage hat der Vorsitzende der Strafkammer allerdings am 22.09.2022 mitgeteilt, dass die Urteilsgründe noch nicht abgesetzt sind.

Die schon von ihrer Dauer her erhebliche Verzögerung wiegt im vorliegenden Fall besonders schwer, weil sie nicht durch schicksalhafte Ereignisse eingetreten ist, sondern bereits durch die unzureichende Terminierung angelegt war. Hinzukommt, dass nicht nur an zu wenigen Tagen in dem langen Zeitraum der Hauptverhandlung verhandelt worden ist, sondern auch noch die tatsächlich stattgefundenen Verhandlungstage mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von knapp drei Stunden nur unzureichend genutzt worden sind. Ein Bemühen, die Verhandlungsdichte im Laufe der Hauptverhandlung zu irgendeinem Zeitpunkt zu erhöhen, ist nicht erkennbar. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Senat bei der Schätzung des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung lediglich eine Terminsdichte zugrunde gelegt hat, bei der das Landgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben gerade noch eingehalten gehabt hätte.

Dieser krasse Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist auch vor dem Hintergrund des hohen Gewichts des Strafanspruchs im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der Überlegung, dass nach einer Verurteilung Verfahrensverzögerungen geringeres Gewicht beizumessen ist, nicht hinnehmbar.

Dass die Verteidigung während der annähernd zwei Jahre laufenden Hauptverhandlung zu keinem Zeitpunkt eine Verzögerung des Verfahrens gerügt hat, ist befremdlich, aber unerheblich und macht lediglich deutlich, dass eine Rücksichtnahme auf stark ausgelastete Verteidiger und die Bestellung eines Sicherungsverteidigers, der regelmäßig mit demselben (Haupt-)Verteidiger die Verteidigung übernimmt, mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigungsmaxime nur schwer vereinbar ist….“

Warum sich der Verteidiger beim dem Ablauf nicht mal „gemeldet“ hat, erschließt sich mir (auch) nicht.