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Wiederaufnahme I: Inhalt des Aufnahmeantrages, oder: Abweichung von einem früheren Geständnis

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Heute wende ich mich mal einer Thematik zu, mit der der Verteidiger nicht jeden Tag zu tun hat, und zwar dem Wiederaufnahmeverfahren. Dazu gibt es drei LG-Beschlüsse.

Ich starte mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.09.2024 – 12 Qs 42/24. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Antragsteller ist iranischer Staatsangehöriger, der seit 2014 in Deutschland lebt. Nach Ablehnung seines Asylantrags ist er seit 20.01.2018 vollziehbar ausreisepflichtig. Am 12.03.2020 verurteilte ihn das AG wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass im Zeitraum 05.02.-08.05.2019 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten. Das Urteil ist seit 20.03.2020 rechtskräftig, die Strafe ist vollstreckt.

Mit Schriftsatz vom 20.01.2022 stellte der Verteidiger des Antragstellers für diesen einen Wiederaufnahmeantrag. Dieser war auf § 359 Nr. 5 StPO gestützt. Der Antragsteller hätte – was die neu vorgelegten Beweismittel belegen würden – bei der Beantragung eines iranischen Reisepasses eine Freiwilligkeits- oder Reueerklärung abgeben müssen. Das sei ihm nicht zumutbar gewesen. Das AG habe bei seinem Urteil den Umstand, dass die genannte Erklärung abzugeben gewesen wäre, nicht gekannt. Er sei geeignet, die Freisprechung des Antragstellers zu begründen.

Das AG verwarf den Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 08.08.2024 als unzulässig. Der Antrag sei bereits unzulässig, weil keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht worden seien. Ob seinerzeit eine Reueerklärung überhaupt erforderlich gewesen sei, sei streitig. Auch habe der Antragsteller keine Bemühungen entfaltet, einen neuen Pass zu erlangen.

Hiergegen legte der Verteidiger des Antragstellers sofortige Beschwerde ein, die keinen Erfolg hatte:

„Die sofortige Beschwerde ist statthaft (§ 372 Satz 1 StPO) und zulässig erhoben. Sie ist jedoch unbegründet, weil im Wiederaufnahmeantrag kein geeignetes (im Sinne von: ausreichendes) Beweismittel angeführt war, sodass das Amtsgericht ihn zu Recht gem. § 368 Abs. 1 StPO verworfen hat.

1. Die im Wiederaufnahmeantrag genannten und ihm in Kopie beigelegten Urkunden sind neu im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO. Bei Urteilen sind solche Tatsachen und Beweismittel neu, die beim Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung nicht in die Hauptverhandlung eingeführt und damit zum Verhandlungsgegenstand gemacht worden waren (LR-StPO/Schuster, 27. Aufl., § 359 Rn. 89). Unerheblich ist, ob der Verurteilte die geltend gemachten Tatsachen schon in der Hauptverhandlung gekannt hat und ob er sie bereits früher hätte beibringen können (OLG Frankfurt, Beschluss vom 10.05.1983 – 1 Ws 103/82, MDR 1984, 74). Hieran gemessen sind die vorgelegten Urkunden neu. Sie und die dort behandelten Inhalte (Notwendigkeit einer Freiwilligkeits- oder einer Reueerklärung beim Passantrag) waren nicht Gegenstand der Beweisaufnahme und des Urteils des Amtsgerichts Nürnberg.

2. Die Neuheit von Tatsachen oder Beweismitteln genügt nach § 359 Nr. 5 StPO allein aber noch nicht zur Wiederaufnahme. Die Vorschrift verlangt ferner, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet sind, die Freisprechung des Verurteilten oder seine geringere Bestrafung aufgrund eines anderen und milderen Strafgesetzes zu begründen. Aus § 368 Abs. 1 StPO folgt weiter, dass das neue Beweismittel auf seine Eignung geprüft werden muss. Eine lediglich abstrakte Schlüssigkeitsprüfung der nova ist dem Gesetz nicht zu entnehmen und sie war auch vom historischen Gesetzgeber nicht beabsichtigt. Demgemäß muss der Antrag in bestimmten Fällen auch die Eignung des Beweismittels darlegen. Das gilt namentlich dann, wenn der Verurteilte nunmehr abweichend von einem früher abgegebenen Geständnis vorträgt. In diesem – hier einschlägigen – Fall muss er darlegen, warum er die Tat in der Hauptverhandlung der Wahrheit zuwider zugab und weshalb er das Geständnis nunmehr widerruft (BGH, Beschluss vom 07.07.1976 – StB 11/74, juris Rn. 11; Beschluss vom 14.06.1995 – StB 8/95, juris Rn. 4; vgl. weiter Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 359 Rn. 47 m.w.N.).

Diesen Anforderungen genügt der Wiederaufnahmeantrag nicht.

a) Soweit die neu vorgelegten Urkunden die Relevanz von Freiwilligkeitserklärungen für einen Passantrag zum Gegenstand haben, worin erklärt wird, dass die den Pass begehrende Person freiwillig in den Iran reisen wolle, fehlt es von vornherein an der Eignung, damit einen Freispruch oder die Bestrafung nach einem milderen Gesetz herbeizuführen. Die vorgelegten Urkunden belegen für den anklagegegenständlichen Zeitraum die Relevanz einer Freiwilligkeitserklärungen für einen Passantrag gerade nicht. In dem undatierten Antragsformular des Münchener Generalkonsulats ist lediglich von der Erklärung der „Reue der Asylantragstellung“ die Rede. Für die Auskunft des Bundesministeriums des Innern vom 19.05.2020 gilt das Gleiche. Das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen erklärte in seiner Mitteilung vom 06.08.2020 ausdrücklich, dass bei der Beantragung eines iranischen Reisepasses die Vorlage einer Freiwilligkeitserklärung nicht notwendig sei; in seiner Information vom 16.03.2021 teilte das Landesamt lediglich etwas zur Reueerklärungen mit, nicht jedoch zu Freiwilligkeitserklärungen. Dem Schreiben des Auswärtigen Amtes an die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 14.11.2019 (ebenso dessen Bericht vom 05.02.2021) ist zu entnehmen, dass dem Auswärtigen Amt die grundsätzliche Haltung Irans, Rückführungen seiner Staatsangehörigen nur bei Vorliegen einer Freiwilligkeitserklärung zu unterstützen, bekannt sei. Darum geht es hier aber nicht, sondern um die Frage der Erteilung eines Passes. Auf die Frage, ob der Zwang zur Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung die Beantragung eines Passes unzumutbar machen könnte (dazu vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007 – 2 St OLG Ss 242/06, juris Rn. 56 ff.; BVerwG, Urteil vom 10.11.2009 – 1 C 19/08, juris Rn. 14 ff.), kommt es mithin nicht an.

b) Aber auch soweit die mögliche Erforderlichkeit einer Reueerklärung bei der Beantragung eines iranischen Passes aus den Urkunden hervorgeht, ist das zur Erreichung der in § 359 Nr. 5 StPO genannten Ziele nicht geeignet, weil es für sich und in Zusammenschau mit den bislang vorliegenden Beweismitteln betrachtet unzureichend ist. Denn auch dann wäre die Unzumutbarkeit der Passbeantragung nicht belegt.

aa) Grundsätzlich kann die Voraussetzung einer Reueerklärung zwar die Unzumutbarkeit einer Mitwirkung bei der Passbeschaffung begründen, jedenfalls wenn der Erklärende darin bedauert, seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und erklärt, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren (für eine eritreische Reueerklärung BVerwG, Urteil vom 11.10.2022 – 1 C 9/21, juris Rn. 17) bzw. wenn er sich dabei selbst einer Straftat bezichtigen müsste (BayObLG, Beschluss vom 26.03.2023 – 204 StRR 139/23, S. 6, n.v.). Dergleichen bringt der Wiederaufnahmeantrag aber nicht vor. In dem vorgelegten Formular des iranischen Generalkonsulats heißt es lediglich „…erkläre ich hiermit meine Reue der Asylantragstellung und beantrage die Ausstellung eines Reisepasses“. Der Wiederaufnahmeantrag legt nicht dar, dass darin die Selbstbezichtigung einer Straftat nach iranischem Recht läge, sondern führt lediglich aus, der Antragsteller könne eine solche Erklärung nicht abgeben, weil es ihm überhaupt nicht leidtue, einen Asylantrag in Deutschland gestellt zu haben (was nach dem Maßstab von OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007 – 2 St OLG Ss 242/06, juris Rn. 57, aber für die Unzumutbarkeit ausreichen sollte; zweifelhaft).

bb) Die Unzumutbarkeit eines Passantrags ist jedenfalls nicht hinreichend dargelegt: Im Prozess vor dem Amtsgericht Nürnberg gab die damalige Verteidigerin eine mit dem Antragsteller abgesprochene und von diesem ausdrücklich gebilligte Erklärung ab. Danach räume der Antragsteller den gegen ihn erhobenen Vorwurf ein. Er gehöre der Glaubensgemeinschaft der Bahai an, die im Iran verfolgt werde. Darüber habe er nicht sprechen wollen, was sicherlich eine Ursache für die Ablehnung gewesen sei. Er habe sich nicht richtig verhalten. Nach der Haftentlassung werde er mit Hilfe seines Sohnes, der hier lebe, und mit Hilfe der Anwälte versuchen, sich einen Pass zu beschaffen. Auf die Frage, warum sich seine Frau bereits einen Pass besorgt habe und er nicht, antwortete er, sie sei Muslimin, weshalb das möglich gewesen sei, er hingegen sei Bahai. Die in der Hauptverhandlung verlesene Niederschrift einer Vorsprache beim Ausländeramt der Stadt Nürnberg belegt, dass der Antragsteller dort am 04.01.2019 gesagt habe, er sei auch weiterhin nicht bereit, bei der Passbeschaffung mitzuwirken und werde nicht zur Botschaft fahren.

In diesen eigenen Angaben des Antragstellers spielte die Notwendigkeit, eine Reueerklärung abzugeben, keine für seine Verweigerungshaltung tragende Rolle; im Gegenteil war er damals offensichtlich bereit, einen iranischen Pass zu beantragen. Nunmehr beruft er sich allerdings darauf, dass die Beschaffung eines Passes deshalb nicht möglich gewesen sei, weil er eine Reueerklärung hätte abgeben müssen, und ihm dies nicht zumutbar gewesen sei. Denn er bereue es nicht, illegal aus dem Iran ausgereist zu sein und einen Asylantrag in Deutschland gestellt zu haben. Mit diesem neuen Vortrag setzt sich der Antragsteller in Widerspruch zu seinem früheren Geständnis und zu der – unter keine Einschränkungen gestellte – Ankündigung, es mithilfe seines Sohnes und der Anwälte zu versuchen, einen Pass zu erlangen. Dieser Widerspruch wird nicht aufgeklärt. Damit kann die nunmehr behauptete Unzumutbarkeit der Passbeschaffung nicht plausibel erklärt werden. Sie war aber erklärungsbedürftig, weil die Unzumutbarkeit keine rein objektive Gegebenheit darstellt, sondern zwingend auch an die subjektiven Maßstäbe des konkret Handelnden anknüpft, der in mehr oder weniger großem Maße bereit sein kann, bestimmte Erschwernisse hinzunehmen oder bestimmte Erklärungen abzugeben. Nach alldem kann nicht angenommen werden, dass im Jahr 2019 die Ablehnung der Abgabe einer Reueerklärung – sollte eine solche erforderlich gewesen sein – für das Unterlassen des Angeklagten leitend und ursächlich war.“

Pflichti III: Rückwirkende Bestellung beim Verletzten, oder: Zulässig, fiskalische Interessen ohne Belang

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Und im dritten Posting dann eine Entscheidung zu den Beiordnungsvoraussetzungen und zur rückwirkende Bestellung beim Verletztenbeistand. Nicht direkt Pflichtverteidiger, aber passt.

Dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.09.2024 – 12 Qs 34/24 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde:  Eine Zeugin hatte in einer polizeilichen Aussage angegeben, bei ihr sei wegen eines Streits, den sie am 10.12.2023 mit ihrem Verlobten gehabt habe, eine Polizeistreife erschienen. Als sie mit den zwei männlichen Polizeibeamten, den Beschuldigten, allein im Zimmer gewesen sei, hätten diese sie aufgefordert, sich zu entkleiden und sie körperlich abgetastet. Dabei hätten sie ihr an die Brust gegriffen und die Finger – angeblich zu Durchsuchungszwecken – in ihre Vagina eingeführt. Anschließend, am selben Tag, wurde die Zeugin im Hinblick auf ein mögliches Sexualdelikt ärztlich untersucht.

Am 19.12.2023 wurde den beiden Beschuldigten durch Beamte des LKA mitgeteilt, dass gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Nötigung zum Nachteil der Zeugin eröffnet worden sei. Die Beschuldigten machten keine förmliche Aussage zur Sache; einer von ihnen stritt – aktenkundig – den Vorwurf gegenüber einer LKA-Beamtin ab.

Am 08.01.2024 zeigte sich der Rechtsanwalt für die Zeugin an, beantragte Akteneinsicht und seine Beiordnung als Opferanwalt gem. § 406h Abs. 1, 3 mit § 397a Abs. 1 Nr. 1, 4 StPO. Am 17.01.2024 wies ein Sachbearbeiter des LKA vor einer weiteren angesetztem Vernehmung der Zeugin den Rechtsanwalt auf Widersprüche in deren bisheriger Aussage hin, woraufhin letzterer mitteilte, die Zeugin werde sich künftig vollumfänglich auf das Aussageverweigerungsrecht gem. § 55 StPO berufen und sich gegebenenfalls erst nach Akteneinsicht durch den Anwalt einlassen. Die Zeugin sagte daraufhin und seitdem nicht mehr aus. Unter dem 26.03.2024 stellte die Kriminalpolizei ihren Schlussbericht fertig und legte die Akte der Staatsanwaltschaft vor.

Am 15.6.2024 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen falscher Verdächtigung gegen die Zeugin. Das Ermittlungsverfahren gegen die beiden Polizeibeamten wurde mit Verfügung vom 19.07.2024 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft bestand der Rechtsanwalt auf der Verbescheidung seines Beiordnungsantrags. Am 08.08.2024 bestellte ihn die Ermittlungsrichterin des AG rückwirkend zum 09.01.2024 als Beistand der Zeugin. Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Das AG habe übersehen, dass die Zeugin bereits bei Antragstellung vom 08.01.2024 das Aussageverweigerungsrecht gehabt habe. Zudem habe die Zeugin bei ihrer Anzeigeerstattung gelogen und es sei zweifelhaft, ob sie überhaupt als Verletzte i.S.d. § 406h StPO gelten könne. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg:

„Rechtsanwalt Dr. pp. war als Beistand zu bestellen, wie das Amtsgericht zutreffend entschieden hat.

a) Nach § 406h Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 StPO ist dem Verletzten einer Katalogtat auf dessen Antrag hin schon im Ermittlungsverfahren ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. Streitig ist allerdings, unter welchen näheren Voraussetzungen die Beiordnung erfolgen kann – dies betrifft sowohl den erforderlichen Verdachtsgrad (aa), als auch den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (bb).

aa) Nach einer Auffassung hat die Bestellung bereits dann zu erfolgen, wenn auch nur die geringe Möglichkeit bzw. ein einfacher Anfangsverdacht besteht, dass der Beschuldigte ein Delikt im Sinne von § 397a Abs. 1 StPO begangen hat und seine Verurteilung deswegen in Betracht kommt bzw. die Verurteilung wegen einer Nebenklagestraftat rechtlich möglich erscheint. Die Beiordnung scheidet nur dann aus, wenn bereits nach der Darstellung des Nebenklägers seine unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung ausscheidet oder die Wahrnehmung des Rechts der Beistandsbestellung rechtsmissbräuchlich ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2021 – III-4 Ws 35/21, juris Rn. 13; OLG Celle, Beschluss vom 14.12.2016 – 2 Ws 267/16, juris Rn. 10; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 406h Rn. 2; BeckOK-StPO/Weiner, 52. Ed. 01.07.2024, § 406h Rn. 1).

Eine striktere Auffassung verlangt demgegenüber einen qualifizierten Anfangsverdacht hinsichtlich einer Katalogtat aus § 397a Abs. 1 StPO, der jedenfalls eine Weiterführung der Ermittlungen gestattet und aufgrund dessen jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass der für eine spätere Anklageerhebung notwendige hinreichende Tatverdacht noch begründet werden kann (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 41 ff.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 25.02.2009 – 1 Ws 120/09, juris Rn. 5; LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 29).

bb) Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der Voraussetzungen der Beiordnung wird einerseits auf den Zeitpunkt der Antragstellung (KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 29), andererseits auf den Zeitpunkt der Beiordnungsentscheidung abgestellt, sodass die dynamische Entwicklung des Ermittlungsstandes berücksichtigt werden könne (OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 43 ff.; Nachweise zum Streitstand bei OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739 unter II.2 der Gründe).

b) Die Besonderheit hier liegt darin, dass der Beiordnungsantrag bereits am 08.01.2024 zur Akte bei der Staatsanwaltschaft, aber – entgegen Nr. 174b Satz 1 RiStBV – erst am 07.08.2024 zur Ermittlungsrichterin (vgl. § 406h Abs. 3 Satz 2, § 162 StPO) gelangt ist. Für diese Konstellation entspricht es allgemeiner Auffassung, dass die Beiordnung ausnahmsweise dann rückwirkend bewilligt werden kann, wenn der Antrag während des Verfahrens gestellt, aber nicht beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Beiordnung Erforderliche getan hat (BGH, Beschluss vom 29.07.2022 – 5 StR 141/22, juris Rn. 6; OLG Köln, Beschluss vom 01.10.1999 – 2 Ws 528/99, juris Rn. 23; KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 379a Rn. 15 m.w.N.). Dies bedingt, dass es für die Beurteilung der Beiordnung auf den Zeitpunkt der Einreichung des Beiordnungsantrag ankommen muss. Andernfalls würde sich die Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung wegen zwischenzeitlich eingetretener tatsächlicher Änderungen ggf. zum Nachteil des Antragstellers auswirken können.

Einer Entscheidung darüber, welcher Verdachtsgrad gegen die Beschuldigten anzulegen war, bedurfte es dagegen nicht. Vorrangig ist nämlich zu beachten, dass die Nebenklagebefugnis wegen des Fehlens des Tatverdachts – wie immer man ihn näherhin festlegt – grundsätzlich nicht durch das Gericht verneint werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft zur selben Zeit das Verfahren gerade wegen des Verdachts eines Nebenklagedelikts zum Nachteil des Verletzten betreibt (LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 11; vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739 unter II.2 der Gründe), wie hier geschehen. Das folgt daraus, dass das im laufenden Ermittlungsverfahren angegangene Gericht lediglich eine Momentaufnahme der Ermittlungsergebnisse präsentiert bekommt und nicht überschauen kann, welche weiteren Ermittlungsschritte die Staatsanwaltschaft oder die Polizei zur weiteren Sachverhaltsaufklärung einleiten werden oder wollen. Zudem hat die die Ermittlungen verantwortende Staatsanwaltschaft einen Beurteilungsspielraum, der ihr bei der Subsumtion und Beurteilung des Sachverhalts einen gewissen Freiraum lässt, die Entscheidung eigenverantwortlich auf der Basis der persönlichen kriminalistisch-forensischen Erfahrungen und subjektiven Bewertungen des befassten Dezernenten zu treffen. Nimmt dieser nach alldem einen die (Fort)Führung des Ermittlungsverfahrens tragenden Verdacht an, so ist das vom Gericht hinzunehmen, solange es noch vertretbar ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 27.05.2022 – 12 Qs 24/22, juris Rn. 22 m.w.N.). Verneint werden kann der Tatverdacht in gegebener Konstellation dann, wenn die Staatsanwaltschaft bei Antragstellung ohnehin im Begriff war, das Verfahren durch eine Einstellung zu beenden. So lagen die Dinge hier aber nicht. Die Verfahrenseinstellung erfolgte am 19.07.2024, mithin ein halbes Jahr nach Antragstellung vom 08.01.2024. Die Fortführung des Ermittlungsverfahrens war zum letztgenannten Zeitpunkt nicht aussichtslos: Der polizeiliche Schlussbericht wurde erst am 26.03.2024 vorgelegt, die Stellungnahme des Verteidigers eines der beiden Beschuldigten datiert vom 21.05.2024. Damit war bei Antragstellung der durch die – nicht in allen Teilen konsistente – Aussage der Zeugin nach Auffassung der Staatsanwaltschaft vertretbar begründete Verdacht noch nicht ausgeräumt, sondern bestand fort; andernfalls hätte sie das Ermittlungsverfahren früher eingestellt oder jedenfalls einstellen müssen.

c) Die mittlerweile erfolgte Einstellung des Ermittlungserfahrens gegen die Beschuldigten hindert die rückwirkende Beiordnung nicht (vgl. KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739).

d) Fiskalische Erwägungen (in diese Richtung deutlich OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 42) rechtfertigen kein anderes Ergebnis, allein schon, weil mit § 469 StPO, Nr. 92 RiStBV ein hinreichendes Korrektiv an anderer Stelle bereitsteht. Aus diesem Grund ist keine Notwendigkeit gegeben, den vom Gesetzgeber weit gedachten Kreis der möglichen Verletzten enger zu ziehen (vgl. BT-Drs. 10/5305, S. 20: „Ob die Voraussetzungen eines Anschlusses nach § 395 vorliegen, bestimmt sich im Ermittlungsverfahren danach, ob der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2) eines zum Anschluss berechtigenden Delikts gegeben ist.“; a.A. OLG Hamburg, aaO., Rn. 31-33). Im Übrigen hat der Gesetzgeber gesehen, dass die Stärkung der Verletztenrechte eine Kostenmehrbelastung zeitigen wird. Diese muss nach seiner Wertung aber „wegen der dringenden rechtspolitischen Notwendigkeit, die Stellung des Opfers im Strafverfahren zu verbessern, in Kauf genommen werden“ (BT-Drs. 10/5305, S. 9).

Ebenso wenig trägt das Argument der Beschwerde, die Zeugin habe bereits bei Antragstellung ein Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO gehabt und es könne nicht darauf ankommen, wann sie es ausübe, weil sie es ansonsten in der Hand hätte, die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verletztenbeistands zu schaffen. Letzteres jedenfalls trifft zu, allerdings folgt daraus nichts, insbesondere begründet die Verletzteneigenschaft keinen Aussagezwang. Die Berufung auf den § 55 StPO erfolgte hier lediglich als Reaktion darauf, dass Polizeibeamte den Verteidiger auf Widersprüche in der bisherigen Aussage der Zeugin hinwiesen. Sie kann also auch nicht als Argument für einen Rechtsmissbrauch herangezogen werden.“

Ich stelle die Entscheidung nicht wegen der verfahrensrechtlichen Fragen betreffend den Verletztenbeistand/Opferanwalt vor; dazu verweise ich auf <<Werbemodus an>> Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl., 2025, Rn 4930 ff.<<Werbemodus aus. Vorgestellt wird sie wegen der Ausführungen des LG zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Verletztenbeistands, die – soweit ersichtlich – unbestritten ist und sich damit von Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger, die in der Rechtsprechung im Streit ist, erheblich und wohltuende unterscheidet. Der Rechtsanwalt, der als Verletztenbeistand tätig ist, muss diesen Unterschied im Auge behalten, denn die rückwirkende Bestellung führt dazu, dass seine Tätigkeit aus der Landeskasse zu vergüten ist (zum Vergütungsanspruch des Verletztenbeistandes Burhoff RVGreport 2016, 82). Besonders zu begrüßen ist der Hinweis des LG, dass fiskalische Erwägungen nach Ansicht des LG kein anderes Ergebnis rechtfertigen. Denn die spielen in der Diskussion um die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers bei denjenigen, die die Zulässigkeit verneinen, eine Rolle. Das gilt um so mehr, wenn die verspätete Entscheidung über den rechtzeitig gestellten Antrag eindeutig in der Sphäre der Justiz liegt. Denn es erschließt sich nicht, warum ein am 08.01.2024 bei der Staatsanwaltschaft gestellter – zeitnah zu bescheidender – Antrag erst am 07.08.2024 bei der Ermittlungsrichterin eingeht. Das ist sicherlich nicht, wie von Nr. 174b Satz 1 RiStBV gefordert, eine unverzügliche Weiterleitung an das zuständige Gericht. Die „Arbeitsverweigerung“ darf man nicht noch dadurch honorieren, dass dem von der Verzögerung betroffenen Rechtsanwalt Ansprüche gegen die Landeskasse verwehrt werden.

Dolmetscher I: Anhören aufgezeichneter Gespräche, oder: Wenn der Verteidiger nicht russisch spricht

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Heute beginnt dann die 40 KW., in die ich mit zwei Entscheidungen zu Dolmetscherfragen starte.

Ich stelle zunächst den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 02.09.2024 – 18 Qs 41/24 – vor. Gestritten wird um den Anspruch des/der Beschuldigten auf Beiordnung eines Dolmetschers gemäß § 187 Abs. 1 GVG. Die russischsprachige Beschuldigte möchte, dass, ihrem (wohl) nicht der russischen Sprache mächtigen Verteidiger bei durch ihn in ihrer Abwesenheit erfolgendem Anhören aufgezeichneter Gespräche in russischer Sprache – mithin bei deren Inaugenscheinnahme als Form der Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke gemäß § 147 Abs. 1 StPO – auf Staatskosten ein Dolmetscher (oder Sprachsachverständiger) zur Verfügung gestellt werden, damit ihr Verteidiger den Inhalt der aufgezeichneten Gespräche verstehen und nachvollziehen könne.

Das LG äußert sich zunächst zum richtigen Weg -insofern ist die Entscheidung für all diejenigen interessant, die sich mit der Frage immer wieder schwer tun. Das LG lässt die Frage dann aber offen, denn:

„2. Letztlich kann diese Frage – Antrag auf Beiordnung oder auf Feststellung der Erforderlichkeit – hier dahinstehen, weil ein Anspruch auf – in diesem Sinne gesonderte – Beiordnung eines Dolmetschers im vorliegenden Fall nicht besteht. Zur Ausübung ihrer strafprozessualen Rechte (Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 1 StPO durch ihren Verteidiger, Erörterung des Inhaltes der Gespräche mit diesem und anschließender Vortrag gegenüber den Ermittlungsbehörden) ist die (gesonderte) Heranziehung eines (zusätzlichen) Dolmetschers oder Übersetzers nicht erforderlich. Bei sachgerechter Verfahrensweise würde die Beschwerdeführerin über ihren Verteidiger beantragen, die Gespräche gemeinsam mit diesem anzuhören, deren Inhalt unter Zuhilfenahme des gleichzeitig anwesenden und bereits beigeordneten Dolmetschers erörtern und im Anschluss zu den Gesprächen über ihren Verteidiger vortragen lassen.

a) aa) § 187 Abs. 1 GVG begründet nach den Vorgaben von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK unabhängig von der finanziellen Lage des fremdsprachigen Beschuldigten oder Verurteilten einen von Amts wegen zu beachtenden Anspruch auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers für das gesamte Strafverfahren, auch außerhalb der Hauptverhandlung und damit auch für vorbereitende Gespräche mit dem Verteidiger, unabhängig davon, ob es sich um einen Wahl- oder einen Pflichtverteidiger handelt. Der Anspruch nach § 187 Abs. 1 S. 1 GVG ist aber auf das zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte Erforderliche beschränkt (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, GVG § 187 Rn. 1 m. w. N.). Die Bestimmung von Art und Umfang der zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten als erforderlich anzunehmenden Dolmetscher- und Übersetzungsleistung obliegt dem für die Hinzuziehung zuständigen Gericht unter besonderer Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls (vgl. Simon in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2022, § 187 GVG, Rn. 4; Kissel/Mayer/Mayer, 10. Aufl. 2021, GVG § 187 Rn. 14).

Seine eigentliche Bedeutung gewinnt § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG in den Fällen, in denen es über die unmittelbare gegenseitige Verständigung mit den Strafverfolgungsorganen hinaus allgemein um die Unterstützung des Beschuldigten bei der Ausübung seiner strafprozessualen Rechte geht. Soweit erforderlich, hat das Gericht einen Dolmetscher oder Übersetzer danach auch für interne Besprechungen der sprachunkundigen Person mit ihrem Verteidiger oder Beistand heranzuziehen, ebenso für die Vorbereitung und Formulierung von Prozesserklärungen, Anträgen und sonstigen Eingaben, z. B. schriftlichen Einlassungen, Anträgen auf Beweiserhebungen, Anschlusserklärungen, Adhäsionsanträgen, Rechtsmittelschriften (vgl. Kissel/Mayer/Mayer, a. a. O. Rn. 6). Ein Dolmetscher ist etwa erforderlich, wenn zu befürchten ist, der Sprachunkundige könne sich dem Verteidiger bzw. dem Beistand nicht vollständig mitteilen oder umgekehrt dessen Erklärungen nicht vollständig zur Kenntnis nehmen. Gleichermaßen ist ein Übersetzer erforderlich, wenn es (lediglich) auf die Kenntnis des Inhalts eines Schriftstücks ankommt, den vollständig zu erfassen die Person aber nicht in der Lage ist (vgl. Kissel/Mayer/Mayer, a. a. O. Rn. 14).

bb) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen (§ 147 Abs. 1 StPO). Dem Wortlaut des § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO entsprechend ist nur der unverteidigte Beschuldigte in entsprechender Anwendung der Absätze 1 bis 3 des § 147 StPO befugt, die Akten einzusehen und unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. Das Recht auf Einsicht in die Akten und Beweismittel konkretisiert den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und ist zur Verwirklichung der Rechte aus Art. 6 EMRK und aus dem Rechtsstaatsprinzip zwingend erforderlich (vgl. MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 147 Rn. 1). Der Verteidiger nimmt insoweit nicht eigene, sondern strafprozessuale Rechte des Beschuldigten wahr.

Bei den Originalaufzeichnungen einer Telefonüberwachung handelt es sich – jedenfalls soweit sie noch auf einem Server der Ermittlungsbehörde originär gespeichert sind – um Augenscheinsobjekte und damit um Beweisstücke, die nur am Ort der amtlichen Verwahrung besichtigt bzw. bei Tonaufzeichnungen angehört werden dürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. September 2013 – 3 Ws 897/13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 Ws 146/12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Dezember 2012 – 2 Ws 295/12; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. September 2001 – 3 Ws 853/01; LG Regensburg, Beschluss vom 24. Juli 2017 – 6 Qs 29/17)

Von einer ausreichenden Gewährung des Rechts auf Akteneinsicht und Besichtigung dieser amtlich verwahrten Beweisstücke ist auszugehen, wenn der Verteidigung die Möglichkeit eingeräumt wird, sich aufgezeichnete Telefongespräche in den Räumlichkeiten der Justizbehörden oder der Polizei anzuhören, erforderlichenfalls auch mehrfach und unter Hinzuziehung von Dolmetschern sowie gegebenenfalls auch zusammen mit dem Beschuldigten (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13; OLG Celle, Beschluss vom 5. Juli 2016 – 2 Ws 114/16). Ein dem Art. 6 Abs. 3 EMRK entsprechendes Verfahren gebietet es, dass nicht nur der Verteidiger, sondern auch der Beschuldigte die in diesem Verfahren relevanten Gespräche als amtlich verwahrtes Beweisstück im Sinne des § 147 Abs.1 StPO „besichtigen“ kann. Der Umfang von Gesprächen, deren oftmals schlechte Qualität sowie der Umstand, dass die Gespräche nicht auf Deutsch geführt sind, können es notwendig machen, dass der Beschuldigte selbst Gelegenheit erhält, sich zur Vorbereitung eines Mandantengesprächs die Telefonate anzuhören (vgl. LG Düsseldorf, Verfügung vom 17. Januar 2008 – 11 KLs 60 Js 1789/07 – 28/07; BeckOK StPO/Wessing, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 147 Rn. 26; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, Rdnr. 19 zu § 147; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27., neu bearbeitete Auflage 2021, § 147 StPO, Rn. 126). So darf der Verteidiger Tonbandaufzeichnungen über eine Telefonüberwachung nicht nur unter Hinzuziehung eines vereidigten Dolmetschers, sondern auch im Beisein des Beschuldigten anhören, wenn für den Verteidiger ohne Beteiligung des Beschuldigten die Aufzeichnungen nicht hinreichend verständlich sind und nur mit dessen Hilfe zu klären ist, welche Stimmen wem zuzuordnen sind, ob Verwechslungen stattgefunden und welchen Sinngehalt bestimmte Äußerungen haben (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 30. September 1994 – 2 Ws 400/94; OLG Frankfurt, Beschluss vom 13. September 2001 – 3 Ws 853/01).

b) Die hier in Rede stehenden strafprozessualen Rechte der Beschwerdeführerin bestehen bei lebensnaher Betrachtung vorliegend darin, dass ihrem Verteidiger nach den obigen Vorgaben die Möglichkeit gewährt wird, sich die noch auf einem Server der Ermittlungsbehörde originär gespeicherten und nicht auf einem gesonderten Datenträger vervielfältigten Originalaufzeichnungen als Beweisstücke anzuhören und dass die Beschwerdeführerin aufgrund der Fremdsprachigkeit und möglicherweise schwerer Verständlichkeit des Zusammenhangs, in dem die Gespräche stehen, die Gelegenheit erhält, sich diese Gespräche gemeinsam mit ihrem Verteidiger anzuhören, um ein zeitgleich in diesem Zusammenhang geführtes Mandantengespräch vorbereiten und durchführen zu können, und letztlich eine Verteidigungsschrift fertigen zu lassen. Für die Ausübung dieser strafprozessualen Rechte bedarf es allerdings nicht der (zusätzlichen) Beiordnung eines Dolmetschers für die russische Sprache. Dieses ist zur Ausübung ihrer strafprozessualen Rechte – anders als es § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG voraussetzt – nicht erforderlich. Der Verteidiger hat lediglich „uneingeschränkten Zugang zu den aufgezeichneten Gesprächen im Original sowie die Genehmigung, diese Gespräche ggfls. gemeinsam mit einem Dolmetscher zur Kenntnis nehmen zu können“ beantragt. Die (rechtliche) Möglichkeit, sich die aufgezeichneten Telefongespräche in den Räumlichkeiten der Justizbehörden oder der Polizei gemeinsam anzuhören, erwog er weder erkennbar noch stellte er einen entsprechenden Antrag. Anlässlich eines solchen Termins, bei dem auch der der Beschwerdeführerin bereits am 06.08.2024 für Verteidigergespräche beigeordnete Dolmetscher antragsweise zugegen wäre, könnten die in russischer Sprache geführten Gespräche von der Beschuldigten gehört und im Rahmen eines gleichzeitig unter Zuhilfenahme des beigeordneten Dolmetschers geführten Mandantengesprächs zwischen der Beschuldigten und ihrem Verteidiger erörtert werden. Hernach wäre es der Beschuldigten über ihren Verteidiger ohne Weiteres möglich vorzutragen, ob und inwiefern einzelne Gespräche durch die Ermittlungsbehörden inhaltlich falsch bewertet worden sein könnten. Der Verteidiger mag ein persönliches Interesse daran haben, unabhängig von den ihm gegenüber abgegebenen Erklärungen der Beschuldigten zum Inhalt der Gespräche im Rahmen einer zusätzlichen Übersetzung durch einen Sprachsachverständigen die Richtigkeit ihrer Äußerungen zu überprüfen. Für die Ausübung der strafprozessualen Rechte der Beschuldigten selbst ist dieses jedoch nicht erforderlich.

2. Unabhängig hiervon hätten die Beschwerdeführerin und ihr Verteidiger – wie die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg und das Amtsgericht Nürnberg zutreffend ausgeführt haben – keinen Anspruch darauf, sämtliche im Rahmen der Telefonüberwachung aufgezeichnete, in russischer Sprache geführte Telefongespräche in Übersetzung zur Verfügung gestellt zu bekommen (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Juni 1995 – 1 Ws 322/95). Ein solcher ergibt sich auch nicht aus § 147 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2007 – 3 StR 404/07). Ein Anspruch auf Erstellung weiterer Aktenteile besteht nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2014 – 1 StR 355/13).

3. Die durch die Beschwerde vorgetragenen Argumente rechtfertigen keine andere Betrachtung.

Der Einwand, bei sinngemäßen Wiedergaben könnten der wesentliche Inhalt und der Kontext, sowie die Nuancen der Gespräche verloren gehen, was eine fundierte und faire Beurteilung des Inhalts erschwere, ist nach kriminalistischer Erfahrung zutreffend. Wortprotokolle (hier in Form einer Übersetzung) können insoweit einen detailreicheren Inhalt und höheren Beweiswert haben. Allerdings besteht zum einen nach dem Dargelegten kein Anspruch der Beschwerdeführerin auf die Fertigung und Vorlage von Wortprotokollen, zum anderen wird erfahrungsgemäß häufig auch deren Inhalt mit der gleichen Begründung beanstandet. Selbst wenn in der vom Verteidiger beabsichtigten Vorgehensweise (Anhören der Gespräche in Anwesenheit eines – beigeordneten oder für erforderlich erklärten – Sprachmittlers und Übersetzung durch diesen) verfahren würde, wäre nicht ausgeschlossen, dass die Beschwerdeführerin auch die Richtigkeit dieser Übersetzung beanstanden würde.

Der Verweis auf § 168b StPO, nach dessen Absatz 1 das Ergebnis von Untersuchungshandlungen aktenkundig zu machen ist, geht fehl. Die (durchgeführte) ermittlungsbehördliche Maßnahme besteht in der Überwachung der Telekommunikation und der Übersetzung einzelner Gespräche in der geschehenen Art und Weise. Dieses ist in den Akten dokumentiert. Aus § 168b StPO kann – anders als die Beschwerde meint – kein „Recht auf eine umfassende Aufklärung der Tatsachen“ abgeleitet werden, wozu „die vollständige und wortgetreue Übersetzung der abgehörten Gespräche“ gehöre. Im Übrigen berührt dieses auch nicht die Frage, ob in dem beantragten Sinne ein weiterer Sprachmittler nach § 187 Abs. 1 GVG als erforderlich anzusehen ist.

Aus Art. 6 EMRK ergibt sich kein Anlass für eine anderslautende Entscheidung. Gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. e hat jede angeklagte Person das Recht, unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. Im deutschen Recht ist der Umfang der nötigen Übersetzungen nunmehr in Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/64/EU in § 187 GVG geregelt (vgl. KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl. 2023, MRK Art. 6 Rn. 116), dem folgend allerdings – nach dem Dargelegten – eine Beiziehung nicht erforderlich ist. Für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand sollen Dolmetschleistungen gemäß der EU-Richtlinie 2010/64/EU vom 20.10.2010 zur Verfügung gestellt werden. Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten unter anderem imstande sein, ihrem Rechtsbeistand ihre eigene Version des Sachverhalts zu schildern, auf Aussagen hinzuweisen, denen sie nicht zustimmen, und ihren Rechtsbeistand über Sachverhalte in Kenntnis zu setzen, die zu ihrer Verteidigung vorgebracht werden sollten (Ziffer 19). Nach dem Dargelegten wäre dieses der Beschwerdeführerin möglich, auch ohne dass der Verteidiger sich anlässlich der „Besichtigung“ der Gespräche diese übersetzen ließe.

Das vom fairen Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) implizierte Prinzip der Waffengleichheit ist nicht verletzt, wenn die Staatskasse nicht die Kosten dafür übernimmt, dass der Verteidiger beim – alleinigen – Anhören der Gespräche diese übersetzt erhält. Der Angeklagte bzw. die Verteidigung soll den Strafverfolgungsbehörden verfahrensrechtlich prinzipiell gleichgestellt sein (vgl. MüKoStPO/Gaede, 1. Aufl. 2018, EMRK Art. 6 Rn. 302 m. w. N.). Die „Waffengleichheit“ kann aber nur bezüglich solcher Information einen Auskunftsanspruch gegenüber der Ermittlungsbehörde begründen, die sie tatsächlich erhoben und gesammelt hat, hingegen begründet auch das Recht auf ein faires Verfahren keine Pflicht zur Aktenerweiterung (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 4. Januar 2021 – 202 ObOWi 1532/20; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. April 2024 – 2 ORbs 35 Ss 425/23; KG Berlin, Beschluss vom 17. April 2023 – 3 ORbs 78/23). Die Ermittlungsbehörden verfügen ihrerseits aber auch nur über die auf ihrem Server originär gespeicherten und nicht auf einem gesonderten Datenträger vervielfältigten Originalaufzeichnungen (zum Teil in russischer Sprache), die sich der Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht anhören kann, und über die in den Akten enthaltenen Gesprächszusammenfassungen, in die der Verteidiger bereits Einblick genommen hat. Das Verlangen nach Fertigung zusätzlicher Wortprotokolle stellte ein Begehren nach Aktenerweiterung dar, auf die kein Anspruch besteht.“

Sorry, ist ein wenig viel – und das gleich zum Wochenanfang. Ist aber leider unter den Aktenzeichen „18 Qs“ des LG Nürnberg-Fürth häufig der Fall und leider auch nicht immer richtig. So m.E. auch hier. M.E. lässt sich das mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht vereinbaren und auch nicht mit den Akteneinsichtsrecht des Verteidigers. Aber: Was will der Verteidiger nun tun? Rechtsmittel gibt es nicht. Er wird also jetzt nicht allein die Gespräche abhören, sondern die Beschuldigte mitnehmen müssen. Viel Spaß. Die Ermittlungsbehörden werden sich freuen.

Zwang III: Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen, oder: Originale, Kopien und Kopierkosten

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Und als dritte und letzte Entscheidung dann hier der der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 01.08.2024 – 18 Qs 14/24 – zur Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von (Original-) Geschäftsunterlagen und/oder der Erforderlichkeit der Herausgabe von Kopien an den Betroffenen sowie zum Ersatz von Kopierauslagen.

„Ein umfangreiches „Programm, was zur Folge hat, dass der LG-Beschluss mit rund 17 Seiten so lang geworden ist, dass man ihn hier nicht – auch nicht teilweise – einstellen kann. Daher stelle ich nur die (gerichtlichen) Leitsätze vor und verweise im Übrigen auf den verlinktenVolltext.

Die Leitsätze lauten:

1. In Fällen, in denen gefertigte Kopien oder eine elektronische Erfassung durch Einscannen im weiteren Verfahren nicht in gleicher Weise zu Beweiszwecken verwendet werden können wie die Originale, sind in Papierform aufgefundene (Original-) Unterlagen – insbesondere solche im Sinne der §§ 257 HGB, 140-148 AO – im Original zu beschlagnahmen.

2. Bei derartigen Unterlagen und der Prüfung einer Verdachtslage nach § 370 AO ist dieses bereits dann der Fall, wenn nur mittels der (Sach-) Gesamtheit derartiger Unterlagen und ihres – auch bildlichen – Zustandes überprüft werden kann, ob eine Befugnis zur Schätzung nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO gegeben ist.

3. Dem Betroffenen ist dann die Möglichkeit einzuräumen, Kopien derartiger Unterlagen zu erhalten, wenn er diese für einen von ihm darzulegenden oder sonst allgemein nachvollziehbaren dringenden Zweck benötigt. Er hat nicht das Recht, pauschal die Fertigung und Herausgabe einer Kopie aller sichergestellter Unterlagen zu verlangen.

4. Die Fertigung von Ablichtungen durch die Ermittlungsbehörden kann und darf u. U. nicht kostenneutral für den Antragsteller erfolgen, wenn die hierfür geltenden gesetzlichen Regelungen, insbesondere der §§ 464a Abs. 1 Satz 2 StPO; 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, 3 Abs. 2 i. V. m. Nr. 9000 Kostenverzeichnis der Anlage 1 zum GKG, erfüllt sind.

Strafe III: Einbeziehung der Gerichtshilfe „vergessen“, oder: Kein schwerer Verfahrensfehler?

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Und als dritte Entscheidung stelle ich den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 02.07.2024 – 18 Qs 22/24 – vor, und zwar noch einmal. Über den Beschluss habe ich bereits wegen der auch angesprochenen Zustellungsproblemati berichtet (vgl. hier: StPO III: Immer wieder Zustellungsproblematik, oder: Vollmacht, ZU-Bevollmächtigter, Ersatzzustellung).

Jetzt stelle ich die Entscheidung vor wegen der Ausführungen des LG zur vom AG unterlassenen Einbeziehung der Gerichtshilfe nach § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO:

„Zwar hat das Amtsgericht entgegen der seit dem 01.10.2023 geltenden Fassung des § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO eine Einbeziehung der Gerichtshilfe vor seiner Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung nicht erkennbar erwogen. Eine Aufhebung und Rückverweisung der Sache war gleichwohl ebenso wenig veranlasst wie eine Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe durch die Beschwerdekammer.

1.a) § 463d StPO hatte bis zum 30.09.2023 folgenden Wortlaut:

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen; dies kommt insbesondere vor einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung des Strafrestes in Betracht, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist.“

Seit dem 01.10.2023 hat § 463d StPO folgenden Wortlaut:

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Die Gerichtshilfe soll einbezogen werden vor einer Entscheidung
1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 30.12.2022 (Drucksache 687/22) bzw. vom 06.03.2023 (Drucksache 20/5913) war folgende Formulierung vorgeschlagen:

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Dies kommt insbesondere in Betracht vor einer Entscheidung
1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

In der Begründung hierzu heißt es (Seiten 86/87 bzw. 75/76):

„Derzeit enthält § 463d StPO eine konkretisierende Regelung zur Einschaltung der Gerichtshilfe nur für den Fall des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser Regelungsgehalt soll beibehalten und in den neuen Satz 2 Nummer 1 überführt werden.

Durch die neue Nummer 2 soll der Vollstreckungsbehörde ausdrücklich nahegelegt werden, die Gerichtshilfe auch vor der Entscheidung über die Anordnung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe einzuschalten, um die Bereitschaft der verurteilten Person zu Ratenzahlungen oder gemeinnützigen Arbeitsleistungen zu fördern und so die Anordnung oder Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe so weit wie möglich zu vermeiden. Die Einschaltung der Gerichtshilfe, mit der zugleich die Hinweispflicht des neuen § 459e Absatz 2 Satz 2 StPO-E erfüllt werden kann, soll aber im Ermessen der Vollstreckungsbehörde stehen und kann unterbleiben, etwa, wenn die verurteilte Person das Angebot von Zahlungserleichterungen oder der Ableistung freier Arbeit bereits endgültig abgelehnt hat. In Fällen, in denen beispielsweise ein freier Träger die Beratung der verurteilten Person im Wege der aufsuchenden Sozialarbeit übernommen hat, wie dies derzeit bereits in einigen Ländern praktiziert wird, kann sich die Einschaltung der Gerichtshilfe auch darauf beschränken, die dafür notwendigen personenbezogenen Daten an den freien Träger zu übermitteln (siehe vorstehend zu Nummer 3 Buchstabe b). Im Übrigen wird zu Hintergrund und Zweck der Regelung auf die Ausführungen im Allgemeinen Teil unter I. 1. Buchstabe c und II. 1. vor Buchstabe a verwiesen.“

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 26.05.2023 (Drucksache 20/7026) schlugen jedoch folgenden Wortlaut vor (Hervorhebung durch das Gericht):

„Zur Vorbereitung der nach den §§ 453 bis 461 zu treffenden Entscheidungen kann sich das Gericht oder die Vollstreckungsbehörde der Gerichtshilfe bedienen. Die Gerichtshilfe soll einbezogen werden vor einer Entscheidung
1. über den Widerruf der Strafaussetzung oder der Aussetzung eines Strafrestes, sofern nicht ein Bewährungshelfer bestellt ist,
2. über die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, um die Abwendung der Anordnung oder Vollstreckung durch Zahlungserleichterungen oder durch freie Arbeit zu fördern.“

Die Fraktion der SPD hatte zur Begründung wie folgt ausgeführt:

„Mit der im Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen Anpassung des § 463d Satz 2 StPO soll ein intendiertes Ermessen festgeschrieben werden, damit die Gerichtshilfe in den Fällen des § 463d Satz 2 Nr. 1 und 2 StPO-E im Regelfall einbezogen werde.“

Die Fraktion der CDU/CSU hatte dem entgegnet:

„Auch im Hinblick auf die vorgeschlagene Änderung des § 463d StPO komme ein gewisses Misstrauen gegenüber den Gerichten zum Ausdruck, weil der Entscheidungsspielraum zur Frage der Einbindung der Gerichtshilfe eingeschränkt werde.“

Am 22.06.2023 wurde der Gesetzentwurf in der in Kraft getretenen Form mit den Stimmen der Regierungskoalition unter Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen und im Bundesgesetzblatt vom 02.08.2023 veröffentlicht.

b) § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO enthält eine gleichgelagerte Sollvorschrift für die Form der Anhörung des Verurteilten:

„Hat das Gericht über einen Widerruf der Strafaussetzung wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen zu entscheiden, so soll es dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben.“

Die mündliche Anhörung ist dort zwingend, wenn eine weitere Aufklärung des Sachverhalts möglich erscheint und ihr keine schwerwiegenden Gründe entgegenstehen (vgl. KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 453 Rn. 7; MüKoStPO/Nestler, 1. Aufl. 2019, StPO § 453 Rn. 11; BeckOK StPO/Coen, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 453 Rn. 7; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 453 StPO, Rn. 16). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Verurteilte beachtenswerte Gründe für die Nichterfüllung haben kann, aber nicht in der Lage ist, diese Gründe in einer das Gericht überzeugenden Weise schriftlich darzustellen (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Entwurf des 23. StrÄndG – BT-Drucksache 370/84 vom 24.08.1984). Das Gesetz will dort damit von vornherein der Gefahr begegnen, dass schwerwiegende Widerrufsentscheidungen ohne zureichende Tatsachengrundlage ergehen. Die Ausgestaltung als Sollvorschrift eröffnet dem Gericht lediglich die Möglichkeit, von der grundsätzlich zwingend gebotenen mündlichen Anhörung aus schwerwiegenden Gründen abzusehen, anderenfalls ein schwerwiegender Verfahrensmangel vorliegt, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung führt (statt vieler Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 15.12.2008 – 1 Ws 212/08).

c) aa) Die Einführung dieser Soll-Regelung in § 463d Satz 2 StPO macht die Einbeziehung der Gerichtshilfe für die dort genannten Fälle – insbesondere bei Entscheidungen der nach § 462a Abs. 2 StPO zuständigen Gerichte, wo in der Mehrzahl kein Bewährungshelfer bestellt ist – bei einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung seit dem 01.10.2023 zum Regelfall und zwingend. Die Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe ist in den dort genannten Fällen nun begründungsbedürftig und damit implizit justiziabel (Pollähne in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 463d StPO, Rn. 2). Sie kann jedoch unterbleiben, wenn sie keinerlei zusätzlichen Erkenntnisse oder Erfolgsaussichten verspricht oder ihr zwingende Gründe entgegenstehen. Vertreten wird, dass die Nichteinschaltung der Gerichtshilfe – wie bei § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO – aber ermessensfehlerhaft sei und einen Verfahrensfehler begründen könne, der in Abweichung von § 309 Abs. 2 StPO eine Aufhebung und Rückverweisung rechtfertigen könne (BeckOK StPO/Coen, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 463d Rn. 4; KK-StPO/Appl, 9. Aufl. 2023, StPO § 463d Rn. 3).

bb) Eine dahingehende Differenzierung zwischen einem Widerruf der Strafaussetzung wegen der in § 56f Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 3 StGB genannten Verstöße, bei denen die Einbeziehung der Gerichtshilfe zu erfolgen hätte, und solchen der Begehung einer Straftat in der Bewährungszeit nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB, bei der von ihrer Einbeziehung abgesehen werden könnte, ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht zulässig, der nur von „Widerruf der Strafaussetzung“ spricht und gerade nicht differenziert. Aus dem Umstand, dass die Sätze 2 und 4 in § 453 Abs. 1 StPO ausdrücklich differenzieren und die mündliche Anhörung nur im Fall eines „Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen“ vorsehen, hingegen die Neufassung in § 463d Satz 2 Nr. 1 StPO nicht in gleicher Weise verfährt, ist zu schließen, dass der Gesetzgeber dort eine entsprechende Differenzierung gerade nicht anstrebte, sondern die Einbeziehung der Gerichtshilfe in allen Fällen eines Widerrufes der Strafaussetzung wollte. Dass die konsequente Befolgung der durch den Gesetzgeber ausdrücklich so gewollten Anordnung des § 463d Satz 2 StPO in der Form, grundsätzlich in allen Fällen die Gerichtshilfe einzubeziehen, in denen bei Fehlen eines Bewährungshelfers – aus welchem Grund auch immer – über den Widerruf der Strafaussetzung oder die Aussetzung eines Strafrestes entschieden werden muss, zu einer erheblichen Mehrbelastung der Gerichtshilfestellen führen wird, der diese in der gegenwärtigen personellen Ausstattung kaum standhalten können, hat für die nach § 462a StPO und im Beschwerdeverfahren zuständigen Gerichte ebenso wenig entscheidungserheblich zu sein wie die Frage der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit dieser in § 463d Satz 2 StPO getroffenen Regelung.

2. Die entgegen § 463d Satz 2 StPO gewählte Vorgehensweise des Amtsgerichts rechtfertigt jedenfalls in der hier vorliegenden Fallkonstellation, in der die Beschwerdekammer angesichts des ausführlichen Beschwerdevorbringens im Schriftsatz vom 02.05.2024, des psychiatrischen Gutachtens vom 15.02.2024, des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.04.2024 und der Stellungnahme des Hauses [ ] vom 02.05.2024 über alle zur Entscheidung notwendigen Informationen mit aktuellem Stand verfügt, weder eine Rückverweisung an das Amtsgericht zur Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe noch deren Nachholung durch die Beschwerdekammer selbst.

a) Anders als im Falle des § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO und unterbliebener mündlicher Anhörung des Verurteilten durch das Beschwerdegericht rechtfertigt der Verstoß gegen § 463d Satz 2 StPO durch Nichteinbeziehung der Gerichtshilfe – entgegen der insoweit bereits geäußerten Rechtsmeinung – keine Aufhebung und Zurückverweisung.

Eine Zurückverweisung der Akten an die erste Instanz zum Zwecke der weiteren Aufklärung ist nicht zulässig. Lediglich in Ausnahmefällen kann das Beschwerdegericht aus rechtlichen Gründen die Sache an die Vorinstanz zurückverweisen (MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 309 Rn. 10; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 309 Rn. 10, KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl. 2023, StPO § 309 Rn. 7). Solche liegen nur dann vor, wenn die Entscheidung des Erstgerichts an einem schweren Mangel leidet und von einer ordnungsgemäßen Justizgewährung nicht mehr auszugehen ist, bspw. wenn das Erstgericht eine gesetzlich vorgeschriebene mündliche Anhörung nicht durchgeführt hat (MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 309 Rn. 36; BeckOK StPO/Cirener, 51. Ed. 1.4.2024, StPO § 309 Rn. 17 m. w. N.).

Ein derart schwerwiegender Verfahrensmangel liegt jedenfalls nicht im Verstoß des Erstgerichts gegen § 463d Satz 2 StPO. Insbesondere wurden keine (mündlichen) Anhörungsrechte der Beschwerdeführerin verletzt. Eine Rückverweisung in dieser Konstellation wäre unzulässig, weil sie letztlich auf eine weitere Aufklärung durch das Erstgericht durch Einbeziehung der Gerichtshilfe gerichtet wäre.

b) Eine Nachholung der Einbeziehung der Gerichtshilfe durch die Beschwerdekammer war nicht veranlasst. Über die Inhalte der oben zitierten Fundstellen hinaus könnten durch die Einbeziehung der Gerichtshilfe keine weiteren für die Entscheidung wesentlichen Informationen erlangt werden, über die die Beschwerdekammer nicht schon verfügt.“