Wenn der Beschuldigte sich nicht auf freiem Fuß befindet, entstehen für den Verteidiger die Gebühren mit Haftzuschlag gem. § 4 Abs. 4 VV RVG. Bisher nicht entschieden war die Frage, ob das auch gilt, wenn der Angeklagte nach § 230 Abs. 2 1. Alt. StPO zum Hauptverhandlungstermin vorgeführt wird. Das LG Nürnberg-Fürth hat die Frage nun im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 09.09.2025 – 18 Qs 4/25 – entschieden. Danach soll die Teerminsgebühr mit Zuschlag nicht entstehen, wenn der Angeklagte nach § 230 Abs. 2 1. Alt. StPO zum Hauptverhandlungstermin vorgeführt wird.
Das hat das LG wie folgt begründet, wobei es sich erst lang und breit zum Zuschlag nach Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG „auslässt“ und dann ausführt:
„bb) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist (§ 230 Abs. 2 StPO).
(A) Im Falle eines Vorführbefehls (§ 230 Abs. 2 1. Alt. StPO) gilt: Sobald der Angeklagte in der Verhandlung anwesend ist, wird der Vorführungsbefehl gegenstandslos (vgl. KK-StPO/Gmel/Peterson, 9. Aufl. 2023, StPO § 230 Rn. 11; MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl. 2024, StPO § 230 Rn. 22; Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 230 StPO, Rn. 31; Schmitt/Köhler/Schmitt, 68. Auflage 2025, § 230 StPO Rn. 20). Die Befugnis, den Angeklagten festzuhalten, bestimmt sich von diesem Zeitpunkt an nach § 231 Abs. 1 StPO (vgl. Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 230 StPO, Rn. 31; MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl. 2024, StPO § 230 Rn. 22; Julius/?Barrot in: Gercke/?Temming/?Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 230 StPO, Rn. 13).
(B) Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 2. Alt. StPO wird hingegen grundsätzlich erst mit dem Ende der Hauptverhandlung – dann aber ohne dass es einer weiteren Entscheidung bedarf – gegenstandslos (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl. 2024, StPO § 230 Rn. 24; KK-StPO/Gmel/Peterson, 9. Aufl. 2023, StPO § 230 Rn. 14; BeckOK StPO/Gorf, 56. Ed. 1.7.2025, StPO § 230 Rn. 20; Julius/Barrot in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 230 StPO, Rn. 13; Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 230 StPO, Rn. 37).
b) Unter Würdigung dieser Vorgaben hat der Verteidiger keinen Anspruch auf die (zweifache) Gebühr VV RVG Nr. 4109. Diese Gebühr entsteht nicht, wenn der Angeklagte nach § 230 Abs. 2 1. Alt. StPO zum Hauptverhandlungstermin vorgeführt wird.
aa) Der Angeklagte befand sich zwar zweifach nicht auf freiem Fuß. Gegen ihn waren am 6. August 2024 und 21. August 2024 Vorführbefehle ergangen, die jeweils zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt an diesen Tagen oder kurz zuvor vollstreckt wurden. Hernach wurde er – in polizeilichem Gewahrsam befindlich – zum Amtsgericht Nürnberg transportiert. Der Zeitpunkt der Vollstreckung der Vorführbefehle ist den Akten nicht zu entnehmen. Nach dem üblichen Ablauf, von dem mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auszugehen ist, wurde der Angeklagte nach Ingewahrsamnahme entweder direkt vom Ort des Aufgriffs zum Amtsgericht Nürnberg transportiert und befand sich dort entweder unter Bewachung bis zum Beginn der Hauptverhandlung im Sitzungssaal oder aber in einer Vorführzelle. Sofern der Aufgriff zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt wäre, hätte er sich zuvor in einem polizeilichen Haftraum befunden. In allen Varianten befand sich der Angeklagte nicht auf freiem Fuß.
bb) (A) Der Angeklagte befand sich allerdings nicht zu irgendeinem Zeitpunkt während der fraglichen Hauptverhandlungstermine nicht auf freiem Fuß. Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1 Satz 1 StPO). Die Vorführbefehle wurden – den obigen Vorgaben entsprechend – mit Beginn der jeweiligen Hauptverhandlungstermine durch Aufruf der Sache um 09:00 Uhr (21. August 2024) bzw. 13:02 Uhr (2. September 2024) gegenstandslos. Im Falle eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 2. Alt. StPO hingegen hätte sich der Angeklagte auch während der Hauptverhandlung nicht auf freiem Fuß befunden, weil dieser über deren Beginn mit Aufruf zur Sache (§ 243 Abs. 1 Satz 1 StPO) hinaus fortgewirkt hätte. Die Vorführbefehle allerdings hatten nach diesem Zeitpunkt ihre Wirkung verloren. Der Angeklagte befand sich hernach ‚auf freiem Fuß‘. Er durfte sich aus der Hauptverhandlung zwar nicht entfernen (§ 231 Abs. 1 Satz 1 StPO) und die Vorsitzende konnte die geeigneten Maßregeln treffen, um die Entfernung zu verhindern, und insbesondere den Angeklagten während einer Unterbrechung der Verhandlung in Gewahrsam halten lassen (§ 231 Abs. 1 Satz 2 StPO). Es kann dahinstehen, ob hierdurch die Gebühr Nr. 4109 VV RVG ausgelöst worden wäre, weil Anordnungen in diesem Sinne nicht getroffen wurden.
(B) Dass die Gebühr VV RVG Nr. 4109 nicht entsteht, wenn der Angeklagte nach § 230 Abs. 2 1. Alt. StPO zum Hauptverhandlungstermin vorgeführt wird, wird auch durch folgende Erwägungen bestätigt: In VV RVG Nr. 4109 heißt es „Gebühr 4108 mit Zuschlag“. VV RVG Nr. 4108 lautet: „Terminsgebühr je Hauptverhandlungstag in den in Nummer 4106 genannten Verfahren“. Dieser Wortlaut rechtfertigt die Annahme, dass der Mandant sich – wenngleich möglicherweise auch nur kurz – während der Hauptverhandlung nicht auf freiem Fuß befunden haben muss. Unabhängig von dem Umstand, dass ohne Belang ist, ob tatsächlich Erschwernisse entstanden sind, rechtfertigt der Sinn und Zweck der Gebühr VV RVG Nr. 4109 auch nicht die Erstreckung auf Fälle einer Vorführung zur Hauptverhandlung gemäß § 230 Abs. 2 1. Alt. StPO: Die oben bezeichneten spezifischen Verrichtungen wie etwa Haftprüfungsanträge oder Haftbeschwerden kommen hier nicht in Betracht. Die geschilderten bei einer Inhaftierung entstehenden Kommunikationsprobleme sind in diesem Fall nicht zu erwarten, weil der (polizeiliche) Gewahrsam nur von kurzer Dauer sein wird. Der Zeitpunkt der Vollstreckung des Vorführbefehls ist so zu wählen, dass der Angeklagte pünktlich zum neuen Verhandlungstermin vorgeführt werden kann. Er darf, da es sich um einen einschneidenden Eingriff in seine Freiheitsrechte handelt, zur Vorführung nicht früher in Gewahrsam genommen werden, als es zur Erreichung dieses Zwecks notwendig ist (vgl. Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 230 StPO, Rn. 29). § 135 Satz 2 StPO ist entsprechend anwendbar (Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2019, § 230 StPO, Rn. 29; MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl. 2024, StPO § 230 Rn. 22). So ist nach der Lebenserfahrung zu erwarten, dass der Angeklagte frühestens am Abend vor den Hauptverhandlungsterminen, wahrscheinlicher erst am Morgen der Hauptverhandlungstermine in Gewahrsam genommen wurde. Die Erschwernis der Kontaktaufnahme zu dem Mandanten wäre angesichts dieses Umstandes nur von kurzer Dauer gewesen.“
Die Entscheidung ist unzutreffend. Der Kostenbeamte und das AG hatten die beiden Haftzuschläge zur Recht gewährt. Denn der Angeklagte war entgegen den Ausführungen des LG auch während der beiden Hauptverhandlungstermine „nicht auf freiem Fuß“. Daran ändert der Umstand, dass der Vorführbefehl mit Aufruf der Sache gegenstandslos wird nichts. Denn das LG übersieht, dass der „Aufruf der Sache“, mit dem nach § 243 Abs. 1 S. 1 StPO die Hauptverhandlung beginnt, schon als „Beginn“ zum Hauptverhandlungstermin gehört. Es handelt sich nicht etwa um ein Vorstadium, an das sich dann die eigentliche Hauptverhandlung anschließt, sondern es ist die erste Aktion in der Hauptverhandlung. Während dieser Aktion war dann aber der Angeklagte auch nach der eigenen Argumentation des LG in der Hauptverhandlung „nicht auf freiem Fuß“, wenn, was ich einräume, auch nur für die berühmte juristische Sekunde. Aber darauf kommt es, da für das Entstehen des Zuschlags tatsächliche Erschwernisse keine Rolle spielen, nicht an.
Nur zur Klarstellung weise ich darauf hin, dass nach dem mitgeteilten Sachverhalt natürlich auch die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG mit Haftzuschlag als Verfahrensgebühr Nr. 4107 VV RVG entstanden ist. Denn ohne Zweifel hat sich der Angeklagte während des gerichtlichen Verfahrens „nicht auf freiem Fuß“ befunden. Darum scheint es aber, wenn der Verteidiger diesen Zuschlag abgerechnet hat, keinen Streit gegeben zu haben.
Unverständlich ist für mich, dass das LG die weitere Beschwerde zum OLG nicht zugelassen hat. Denn die vom LG – falsch – entschiedene Frage hat natürlich grundsätzliche Bedeutung, da es, soweit ersichtlich, Rechtsprechung dazu bisher nicht gibt. Von daher wäre es zu begrüßen gewesen, wenn sich das OLG Nürnberg dazu hätte äußern und die Frage (hoffentlich) wieder richtig, so wie bereits vom AG entschieden, hätte entscheiden können. So bleibt es leider bei der falschen Entscheidung des LG. Zur Nachahmung ist diese nicht empfohlen.



