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Schadensersatz I: „Du warst Mitglied der Stasi“, oder: Da das wahrheitswidrig war, gibt es Schadensersatz

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Und in die 27. KW starte ich dann heute mit zwei etwas außergewöhnlichen Entscheidungen. Kein BVerfG, kein Klima, keine Corona, sondern mal Schadensersatz, und zwar als Folge von Straftaten bwz. von wahrheitswidrigen Behauptungen. Wäre an sich etwas für den Kessel Buntes, aber da gehen die Entscheidungen an einem Samstag vielleicht unter. Daher heute hier.

Ich beginne mit dem LG Flensbugr, Urt. v. 14.06.2023 – 7 O 140/20. Gegenstand des Verfahrens ist die wahrheitswidirge Behauptung – inzwischen wahrrechtskräftig festgestellt – der Kläger „sei Mitglied der Staatssicherheit (Stasi)“ gewesen. Darüber gibt es ein Teil-/Grundurteil. Gestritten worden ist jetzt noch um den Schadensersatz. Den hat das LG mit 10.000 EUR bemessen und das wie folgt begründet:

„a) Grundsätzlich hängt die Schmerzensgeldhöhe entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder mit ihnen zu diesem Zeitpunkt als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere der Belastungen wird dabei vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen zu (Leitsatz OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617).

Die Überzeugung des Richters erfordert in dem Zusammenhang keine – ohnehin nicht erreichbare – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ im Hinblick auf die Folgen, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617 m.w.N.). Nach der im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität anwendbaren Vorschrift des § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung.

b) Die Qualität des Eingriffs dürfte vorliegend – wenn auch subjektiv auf Klägerseite anders empfunden – eher als mittelschwer zu qualifizieren sein.

Bei der Beurteilung der Qualität des Eingriffs ist einerseits die Art der Behauptung aber auch die Reichweite dieser zu berücksichtigen.

Zweifelsohne ist die vorliegende Art der Behauptung, der Kläger sei Mitglied (sogar „bis 1989 Offizier“) der Stasi gewesen und habe hierbei „viele Werftarbeiter persönlich über die Klinge springen [lassen] durch seine Spitzeltätigkeit“ schwerwiegend und in hohem Maße ehrverletzend. Derartige Behauptungen sind zudem geeignet, das soziale und ggf. politische Ansehen des Klägers zu mindern. Schließlich herrscht heute innerhalb der Bundesrepublik Deutschland allgemeiner Konsens darüber, dass die Stasi für zahlreiche Verbrechen an Menschen verantwortlich ist, die nach damaliger Beurteilung innerhalb der DDR nicht ins dortige System passten. Dass Menschen im Auftrag der Stasi verfolgt, verhaftet, gefoltert und gar getötet worden sind, dürfte heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden.

Indes geht das Gericht basierend auf den Angaben der Parteien von einer eher überschaubaren Reichweite der Äußerungen des Beklagten zu 1 aus. Zwar ist es unstreitig sehr wohl möglich gewesen, auf den Blog des Beklagten zu 1 sowie auf sein Buch aufmerksam zu werden, wenn man den Namen des Klägers zusammen mit anderen „Schlagwörtern“ bei der Suchmaschine „google“ eingegeben hat. Indes dürfte der Blog des Beklagten zu 1 mit der Domain „http://…“ ansonsten eher einen geringen „fraffic“ (Anzahl der Besucher auf der Homepage innerhalb eines bestimmten Zeitraums) gehabt haben. Zudem dürfte sich nur eine bestimmte Klientel mit dem Inhalt des Blogs auseinandergesetzt haben. Auch die Auflage des Buches beziehungsweise die bislang (geschätzte) Anzahl der Verkäufe (rund 25-30 mal) bei Amazon („www.amazon.de“) ist im Vergleich zu anderen Fällen verhältnismäßig gering. Hinzu kommt, dass der Kläger in dem Buch nur an vereinzelten Stellen genannt wird, sich das Buch also nicht ausschließlich um seine Person dreht.

c) Die persönlichen Folgen bzw. Beeinträchtigungen auf Seiten des Klägers stuft das Gericht indes als schwerwiegend ein.

Nach der Überzeugung des Gerichts haben die falschen ehrverletzenden Behauptungen des Beklagten zu 1 erhebliche negative psychische Auswirkungen auf den Kläger gehabt mit der Folge, dass dieser in eine schwere emotionale Krise gestürzt ist.

aa) Zum einen hat das Gericht die medizinischen Befunde und Berichte (Anlage K 27 – K 29, Bl. 266 – 269 und Bl. 417 d.A.) berücksichtigt. Auf deren Inhalt wird an dieser Stelle vollumfänglich Bezug genommen.

bb) Vor allem aber stützt das Gericht seine Beurteilung auf den eigenen persönlich vom Kläger gewonnenen Eindruck, dessen glaubhafte Darstellung seiner Situation sowie auf die glaubhaften Angaben des Zeugen … .

(1) In der mündlichen Verhandlung vom 22.7.2021, in welcher der Kläger das erste mal informatorisch zur Sache angehört wurde, hat das Gericht bereits den Eindruck gewonnen, dass der Kläger von dem Verfahren und der Situation schwer gezeichnet war. Mit hängenden Schultern und sorgenvoller Mine hat der Kläger damals berichtet, dass ihn die falschen Behauptungen sehr belasten würden. Er sehe seinen guten Ruf in Gefahr und wolle nicht, dass seine ehemaligen Kollegen und Schüler ein derartiges (falsches) Bild von ihm gezeichnet bekämen.

(2) Auch in der mündlichen Verhandlung vom 17.2.2022 wirkte der Kläger auf das Gericht sehr angeschlagen. Es fiel ihm merklich schwer, über die Auswirkungen der Vorwürfe zu sprechen. Dennoch gab er glaubhaft zu Protokoll, dass er sich vor ca. 10 Jahren in psychische Behandlung habe begeben müssen. Damals habe er mit den Folgen eines sog. „Burnout“ zu tun gehabt. Nachdem er diese Krise überwunden hatte, sei die Thematik – aufgrund der Behauptungen des Beklagten zu 1 und dieses Prozesses – jetzt allerdings wieder hochgekommen. Er habe sich im Zusammenhang mit den Anschuldigungen sogar in stationäre Behandlung begeben müssen.

(3) Diese Angaben hat der Zeuge … in der mündlichen Verhandlung vom 25.5.2023 glaubhaft bestätigt.

Dieser hat ausgesagt, den Kläger schon seit dem Jahr 2011 zu kennen. Damals sei er bei ihm wegen Depressionen und Angststörungen sowie Schmerzen in Behandlung gewesen. Diese damalige Behandlung habe zu tun gehabt mit der beruflichen Belastung des Klägers.

Im Jahr 2020, als er auf die Behauptungen über sich im Internet aufmerksam wurde, sei er dann erneut in eine schwere Krise gekommen. Er sei seit damals wieder verstärkt angespannt gewesen und habe nicht schlafen können. Er habe die Situation als „sehr bedrohlich“ wahrgenommen. Besonders belastet habe ihn, dass er dieser Situation so hilflos gegenüber stand.

Er sei damals auch sehr impulsiv gewesen und habe versucht, sich mit Alkohol zu beruhigen. Zuvor habe er lange Zeit gar keinen Alkohol mehr zu sich genommen.

Ein weiteres Thema sei gewesen, dass die Ehefrau des Klägers ebenfalls sehr besorgt gewesen sei. Dies habe letztlich auch zu einer Ehekrise geführt, da der Kläger seine Ehe in Gefahr gesehen habe. Dies insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Ehefrau des Klägers bei dem Konsum von Alkohol katastrophale Wirkungen bzw. Gedanken hervorgebracht habe. Die Ehefrau des Klägers dahingehend wieder einzufangen und sie davon zu überzeugen, dass die Probleme des Klägers gelöst werden müssten, sei für den Kläger und den Zeugen … ein enormer Kraftakt gewesen.

Zusammengefasst habe der Kläger zwischen 2020 und 2022 in einer erheblichen psychischen Krise gesteckt hat, die kausal durch die Behauptungen des Beklagten zu 1 hervorgerufen worden sei (Protokoll vom 25.5.2023, S. 2-4). Ob er diese Krise je überwinden werde, sei ungewiss. Der Zeuge … sehe allerdings gute Chancen, wenn dieser Prozess beendet sei.

Die Angaben des Zeugen waren insgesamt glaubhaft. Hinweise auf eine einseitige Belastungs- oder Begünstigungstendenz haben sich nicht ergeben. Bei dem Zeugen … handelt es sich um einen seit Jahren praktizierenden Nervenarzt, der seine fachkundigen Wahrnehmungen wertungsfrei wiedergegeben hat. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen haben sich ebenfalls nicht ergeben.

d) Das Maß an Verschulden bzw. Vorwerfbarkeit des Beklagten zu 1 sieht das Gericht als hoch an (mit Einschränkung).

Das Gericht geht zwar – ohne Zweifel – davon aus, dass der Beklagte zu 1 die Behauptungen über den Kläger in der Absicht öffentlich aufgestellt hat, um diesem zu schaden. Auch geht das Gericht davon aus, dass der Beklagte zu 1 seinen Fehler (Behauptungen sind tatsächlich unwahr) bei objektiver Betrachtung hätte erkennen müssen und können, wenn er sich mit der Aktenlage intensiver beschäftigt hätte. Der Fehler wäre also vermeidbar gewesen. Dies, wie auch die Qualität der Behauptung, muss sich der Beklagte zu 1 vorwerfen lassen.

Indes hat das Gericht im Laufe des Prozesses auch den Eindruck gewonnen, dass der Beklagte zu 1 aufgrund seiner eigenen Vergangenheit (als Opfer der Stasi) womöglich psychisch und emotional derart geprägt worden ist, dass ihm die Unterscheidung zwischen Realität (objektiv beweisbarem) und Vorstellung nicht mehr ohne Einschränkung gelingt. Mit Verweis auf die zahlreichen aus Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbaren – teils persönlichen – Einlassungen des Beklagten zu 1 (vgl. dazu auch Grund- und Teilurteil, S. 13 ff.) sowie seine mangelnde Einsicht (trotz zweier Instanzen) schließt das Gericht nicht aus, dass der Beklagten zu 1 womöglich die Tragweite seiner Handlungen gar nicht erkennt. Jedenfalls scheint er unter einem erheblichen psychischen Trauma zu leiden, welches er durch Benennung der „Täter“ aufzuarbeiten versucht. Dass er hierbei einen Falschen als „Täter“ benannt hat, ist für ihn emotional womöglich nicht nachvollziehbar. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Verschleierung, Verdunkelung und Täuschung in der ehemaligen DDR, insbesondere bei der Stasi, an der Tagesordnung waren. Irgendwann mag bei jedem Menschen, der von einer solchen Welt geprägt worden ist, der Punkt erreicht sein, ab dem er nichts mehr glaubt, sondern sich seine eigene Wahrheit schafft.

e) Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe hat das erkennende Gericht insbesondere die folgenden, in der Schmerzensgeldtabelle exemplarisch aufgeführten Entscheidungen anderer Gerichte berücksichtigt und sich hieran orientiert:

  • Ehrverletzung durch unzutreffende Berichterstattung ohne Namensnennung. Dennoch erfuhren mindestens 217 Bekannte, Verwandte oder Kollegen von der Behauptung, der Kläger habe als „Stasi-Scherge“ einen Mord begangen: OLG Hamm, Urteil vom 1.6.1992, Az. 3 U 25/92, BeckRS 9998, 11842.
  • Ehrverletzung durch Ausstrahlung von Fernsehaufnahmen („Brandenburg aktuell“), in denen der Kläger als „Neonazi“ mit einschlägiger Vergangenheit dargestellt wurde: LG Berlin, Urteil vom 9.10.1997, Az. 27 O 349/97, BeckRS 9998, 16109.
  • Bezeichnung des im Kommunalwahlkampf stehenden Klägers als „kulturloser Bonze“ und  „Wendehals“. Zudem wurde der Kläger einer tatsächlich nicht bestehenden SED Vergangenheit beschuldigt: LG Frankfurt, Urteil vom 29.7.2004, Az. 17 O 540/03, BeckRS 2004, 17904.
  • Ehrverletzung wegen eines „herabwürdigenden Artikels“ mit der Folge psychischer Beeinträchtigungen: LG München, Urteil vom 11.6.2008, Az. 9 O 15086/06, BeckOK zum Schmerzensgeld Nr. 3782.
  • Unzutreffende Bezeichnung als „Perspektiv-Agent des KGB“. Es stelle eine schwere Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, in einer Buchveröffentlichung eine andere Person mit dem kommunistischen Geheimdienst KGB in Verbindung zu bringen, weil so zu Lasten des Betroffenen ein zwielichtiger Eindruck erweckt werde: OLG Bremen, Urteil vom 1.11.1995, Az. 1 U 51/95, BeckRS 9998, 2560.

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Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerde, oder: Bei 59,50 EUR im Ausgangsverfahren keine 35.370 EUR

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Und als zweite Entscheidung aus dem Gebührenbereich etwas zur Bemessung des Streitwertes in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, und zwar der VerfGH NRW, Beschl. v. 12.07.2022 – VerfGH 104/21.VB-2. Ergangen ist er in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren, in dem der VerfGH NRW durch den VerfGH NRW, Beschl. v. 21.06.2022 – VerfGH 104/21.VB-2 entschieden hat, den ich hier ja auch schon vorgestellt habe (vgl. Übergehen des wesentlichen Kerns des Vorbringens, oder: Rechtliches Gehör im Zivilverfahren).

Der Verfassungsgerichtshof hat der Verfassungsbeschwerde eines Klägers stattgegeben, mit der dieser sich gegen die teilweise Klageabweisung – es ging um einen Betrag von 59 EUR – in einem verkehrsrechtlichen Verfahren vor dem AG gewandt hatte. Der Verfassungsgerichtshof hat eine Verletzung des Klägers in seinem Recht auf rechtliches Gehör festgestellt, das angegriffene amtsgerichtliche Urteil im Umfang der Klageabweisung aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung an das AG zurückverwiesen. Der Bevollmächtigten des Klägers hat nunmehr die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Verfassungsbeschwerdeverfahren beantragt. Der Wert soll auf mindestens 35.370- EUR festgesetzt werden. Der VerfGH hat den Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit auf (nur) 10.000 EUR festgesetzt:

„1. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 14 Abs. 1 RVG. Der Verfassungsgerichtshof folgt bei der Festsetzung des Gegenstandswerts nach diesen Vorschriften den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäben (vgl. grundlegend VerfGH NRW, Beschluss vom 18. Juni 2019 – VerfGH 2/19.VB-2, juris, Rn. 3 m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerfG). Danach kommt es sowohl auf die subjektive als auch die objektive Bedeutung der Sache an. In diesem Zusammenhang hat auch der Erfolg einer Verfassungsbeschwerde Einfluss auf die Höhe des festzusetzenden Gegenstandswerts. Ferner sind der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit zu berücksichtigen. Schließlich fließen die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Beschwerdeführers bei der Bemessung des Gegenstandswerts ein, soweit sie deutlich aus dem Rahmen fallen und dem Verfassungsgerichtshof mitgeteilt oder aufgrund des Gegenstands oder Verlaufs des Verfahrens offenbar werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 1989 – 1 BvR 1291/85, BVerfGE 79, 365 = juris, Rn. 14). Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist der Mindestgegenstandswert des § 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 RVG bei Verfassungsbeschwerden, die zwar Erfolg haben, aber in ihrer Bedeutung nicht über den Einzelfall hinausgehen, nicht von überdurchschnittlicher Schwierigkeit sind, keinen großen Umfang haben und auch im Übrigen nicht mit außergewöhnlichen Umständen verbunden sind, regelmäßig zu verdoppeln (VerfGH NRW, Beschluss vom 18. Juni 2019 – VerfGH 2/19.VB-2, juris, Rn. 3).

2. Dies zugrunde gelegt, ist der in § 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 RVG gesetzlich vorgesehene Mindestgegenstandswert auch hier lediglich zu verdoppeln (siehe für einen vergleichbaren Fall VerfGH NRW, Beschluss vom 14. September 2021 – VerfGH 137/20.VB-2, r+s 2021, 725 = juris, Rn. 22) und dem weitergehenden Antrag im Schriftsatz der Bevollmächtigten vom 5. Juli 2022 nicht zu entsprechen.

Die subjektive Bedeutung der Verfassungsbeschwerde für den Beschwerdeführer ist in wirtschaftlicher Hinsicht als gering zu bewerten, weil sie nur einen Betrag von 59,50 Euro betrifft. Begrenzt wird die subjektive Bedeutung zudem durch den Inhalt der vom Verfassungsgerichtshof getroffenen Entscheidung. Er hat dem Beschwerdeführer den Betrag von 59,50 Euro nicht etwa zugesprochen, sondern das angegriffene Urteil im Umfang der Klageabweisung nur aufgehoben und die Sache insoweit an das Amtsgericht zurückverwiesen. Der weitere Gang des dortigen Verfahrens ist offen. Allerdings hatte die Verfassungsbeschwerde damit den vom Beschwerdeführer erstrebten Erfolg. Überdies hatte die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs für ihn rehabilitierende Wirkung. Die Verfassungsbeschwerde war auch im Umfang seiner Rüge einer eigenständigen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch den Anhörungsrügebeschluss vom 3. August 2021 begründet, mit dem ihm das Amtsgericht – zu Unrecht – ein prozessual unzulässiges Vorgehen vorgeworfen hatte.

In objektiver Hinsicht kommt der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs entgegen den Ausführungen im Schriftsatz der Bevollmächtigten vom 5. Juli 2022 keine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu. Der Fall hat keine erstmals klärungsbedürftigen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Vielmehr hat der Verfassungsgerichtshof lediglich die bekannten Maßstäbe für eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör zur Anwendung gebracht. Soweit im Schriftsatz der Bevollmächtigten darauf hingewiesen wird, dass die Unfallschadensregulierung ein Massengeschäft sei und die im amtsgerichtlichen Verfahren umstrittenen Verbringungskosten – mit entsprechender wirtschaftlicher Bedeutung – massenhaft vor nordrhein-westfälischen Gerichten geltend gemacht würden, lässt sich hieraus für die objektive Bedeutung der Sache nichts ableiten. Über die einfach-rechtliche Frage der Ersatzfähigkeit von Verbringungskosten hat der Verfassungsgerichtshof nicht entschieden.

Soweit im Schriftsatz der Bevollmächtigten schließlich der erhebliche anwaltliche Arbeitsaufwand für das Verfassungsbeschwerdeverfahren hervorgehoben wird, fließt der Aspekt sorgfältiger anwaltlicher Arbeit in die Wertbemessung mit ein, rechtfertigt hier im Rahmen der Gesamtschau aber keine Anhebung des Gegenstandswerts über den verdoppelten Mindestwert hinaus. Zum einen war die Sache von nicht mehr als durchschnittlicher tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeit und auch vom Umfang her überschaubar. Zum anderen muss ungeachtet des anwaltlichen Aufwands stets die Bedeutung der Sache das ausschlaggebende Moment für die Wertfestsetzung bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 1989 – 1 BvR 1291/85, BVerfGE 79, 365 = juris, Rn. 12).

Da die Verfassungsbeschwerde auch im Übrigen nicht mit außergewöhnlichen Umständen verbunden war, erscheint in der gebotenen Gesamtschau die Festsetzung des Gegenstandswerts auf 10.000,- Euro angemessen.“

Immer noch nichts Neues beim Schmerzensgeld, oder: Warum dauert das beim BGH so lange?

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Heute vor einem Jahr hatte ich über den BGH, Beschl. v. 08.10.2014 – 2 StR 137/14 u. 2 StR 337/14 berichtet (Neues vom „Rebellensenat“: Aufgeräumt werden soll auch im Zivilrecht, und zwar beim Schmerzensgeld) und war davon ausgegangen, dass die Geschichte in 2015 erledigt werden würde. Das ist nun leider nicht der Fall gewesen.

Es geht hier um die „Geschichte“ mit dem Schmerzensgeld. Der 2. Strafsenat will bei dessen Bemessung weder die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten noch die des Schädigers berücksichtigen. Da die Rechtsprechung der anderen Zivil-/Strafsenate des BGH das (teilweise) anders sieht, hatte der 2. Strafsenat dort angefragt, ob sie an ihrer Rechtsprechung fest halten. Einige Senate haben geantwortet und mitgeteilt, dass sie die Kehrtwende in der Rechtsprechung nicht mitmachen wollen. Darunter dann jetzt auch der Große Senat für Zivilsachen im BGH, Beschl. v. 14.10.2015 – GSZ 1/14. Der hat dem 2. Strafsenat kurz und trocken geantwortet:

„Der Große Senat für Zivilsachen hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB (vormals § 847 BGB a.F.) alle Umstände des Falles berücksichtigt werden können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten können dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

Gründe:
Zur Begründung wird Bezug genommen auf den Beschluss des Großen Senats für Zivilsachen vom 6. Juli 1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149.“

Also wird dann jetzt irgendwann die Vorlage des 2. Strafsenats kommen. Ich bin mal gespannt, ob ich dann im nächsten Jahr Vollzug melden kann. 🙂

Allerdings: Warum allerdings der Große Senat für Zivilsachen für die paar Worte in dem Beschluss vom 14.102.2015 so lange gebraucht hat, erschließt sich mir nicht. Und es ist ja auch nicht so, dass man eine tiefschürfende Begründung abgeliefert hat.

Wie viel Seiten muss ein (Pflicht)Verteidiger für eine Grundgebühr lesen?

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Schon etwas länger schlummert in meinem Blog-Ordner der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.06.2015 – III-3 AR 65/14. Inzwischen ist er ja auch schon Gegenstand der Berichterstattung in anderen Blogs gewesen. Es geht um eine gebührenrechtliche Problematik, nämlich um die Gewährung einer und die Bemessungskriterien für eine Pauschgebühr nach § 51 RVG. Sie ist nach Abschluss eines Staatsschutzverfahrens beantragt worden. In dem hatte die Pflichtverteidiger in der Zeit von Oktober 2012 bis Juli 2013 an der 27-tägigen Hauptverhandlung gegen den seinerzeit nicht inhaftierten Angeklagten teilgenommen. Nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss beantragte die Pflichtverteidigerin eine Pauschgebühr, die sie mit 20.000 € für das Vorverfahren, 1.000 € (erhöht für Termine von über fünf Stunden) 1.500 € für jeden Hauptverhandlungstag und 5.000 € für das Revisionsverfahren bemessen. Die Staatskasse hat die Voraussetzungen des § 51 RVG zwar bejaht, hält aber Beträge von 10.000 € für das Vorverfahren, 750 € bzw. (ebenso erhöht für Termine von über fünf Stunden) 1.200 € für jeden Hauptverhandlungstag und 3.000 € für das Revisionsverfahren, insgesamt 35.200 e, für angemessen. Das OLG hat 11.360 € bewilligt.

Der Beschluss ist wegen der Bemessungskriterien des OLG ganz lesenswert. Und er enthält eine Passage, die die Rechtsprechung sicherlich noch einige Zeit beschäftigen wird, nämlich die Ausführungen des OLG zur Grundgebühr. Nämlich:

„bb) Ein mit den Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis nicht angemessen abgegoltenes Schwergewicht der Arbeit der Pflichtverteidigerin lag hier jedoch ohne Zweifel in der erstmaligen Einarbeitung in die Ermittlungsakten, die sich bis zum Beginn der Hauptverhandlung auf ca. 35.500 Seiten (95 Sachakten-Stehordner) beliefen und damit im Vergleich zu einem normalen „Rechtsfall“ i. S. d. Nr. 4100 VV als weit überdurchschnittlich umfangreich erwiesen. Es liegt daher auf der Hand, dass die Antragstellerin für diese Tätigkeit mit dem zumindest überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft allein durch die vorliegende Sache gebunden war, so dass die gesetzlichen Gebühren für diesen Verfahrensabschnitt unzumutbar sind.

Sich bei der Bemessung der damit insofern zu beanspruchenden Pauschgebühr an dem von einem Verteidiger für die erstmalige Einarbeitung in die Verfahrensakten zu leistenden Zeitaufwand zu orientieren (so etwa OLG Celle, Beschluss vom 2. März 2011 – 1 ARs 84/10 P –, juris), erscheint dem Senat mangels plausibel zu objektivierender Grundlage für die Beurteilung der anwaltlichen Arbeitsorganisation nicht tunlich. Sachgerecht – und der Systematik des Gesetzgebers entsprechend – erscheint dagegen eine Orientierung an dem speziell für diesen Teil der anwaltlichen Mühewaltung geschaffenen Gebührentatbestand der Grundgebühr (Nr. 4100 Abs. 1 VV: „Die Gebühr entsteht neben der Verfahrensgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall …“) und deren verhältnismäßige Erhöhung. Grundlage für ein solches Vorgehen ist die Annahme des Senats, dass angesichts der Höhe der Grundgebühr vom Pflichtverteidiger das Studium einer Akte von in der Regel nicht mehr als 500 Blatt erwartet werden kann. Mit Blick auf den vorliegend tatsächlich gegebenen Aktenumfang multipliziert der Senat daher die hier maßgebliche Gebühr nach Nr. 4100 VV von 160 Euro (keine Haftsache und somit kein Zuschlag nach Nr. 4101 VV) mit dem Faktor 71 (Gesamtumfang von 35.500 Seiten : 500), so dass sich der tenorierte Betrag von 11.360 Euro ergibt. Die Verfahrensgebühr nach Nrn. 4104 f. VV hat bei diesem Vorgehen außer Betracht zu bleiben, da dieser Gebühr nur Tätigkeiten unterfallen, die über die erste Einarbeitung hinausgehen und nicht mehr deren Bestandteil sind (vgl. Burhoff, RVG, 4. Aufl., Nr. 4100 VV Rn. 34). Auch stellt der Senat ausdrücklich klar, dass die Überschreitung des genannten Schwellenwertes von 500 Blatt Aktenumfang Bedeutung nur für die Bemessung der Pauschgebühr hat. Ihr „Ob“ hängt in diesen Fällen allein von der Frage der Unzumutbarkeit der gesetzlichen Gebühr im oben beschriebenen Sinne ab.“

Das OLG ist (in diesem Fall) konsequent und rechnet eben 35.000 Seiten : 500 Blatt = 71 x 160 € = 11.360 €. Man darf aber gespannt sein, ob alle OLG das in Zukunft mitmachen – das OLG Celle hat schon in der Vergangenheit einen etwas anderen Ansatz gewählt, worauf das OLG Düsseldorf ja auch hinweist. Und: Man darf gespannt sein, wie die OLG verfahren, wenn es sich um Verfahren handelt, in denen der Aktenberg nicht so exorbitant groß ist.

Allerdings: Die Argumentation gibt auch dem Wahlanwalt Munition, wenn es um die Bemessung der Grundgebühr für ihn geht. Denn legt man sie zugrunde, dann kann auch der Wahlanwalt in Fälle, in denen er 500 Seiten oder mehr gelesen hat, argumentieren können, dass dafür dann die „normale“ Grundgebühr, etwas in Höhe der Mittelgebühr nicht ausreicht und mehr festzusetzen ist, wenn nicht die Höchstgebühr, aber zumindest doch mehr als die Mittelgebühr.

Rechtspfleger und Bezirksrevisoren wird daher die Entscheidung des OLG Düsseldorf nicht freuen. Sie mögen m.E. keine Entscheidungen, die feste Vorgaben enthält, so wie hier die 500 Blatt. Und übrigens: Die Diskussion ist inzwischen auch bereits eröffnet. Die Entscheidung war Gegenstand eines Postings in meinem Gebührenforum. Und daher weiß ich, dass bereits mit der Entscheidung in Kosten-/Vergütungsfestsetzungsverfahren argumentiert wird. Ich bin gespannt?

„Wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient.“, oder die Sache mit dem Aufstehen vor Gericht

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An den Satz von Fritz Teufel „Wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient.“ – inzwischen ein geflügeltes Wort – werde ich immer erinnert, wenn es mal wieder eine (OLG-)Entscheidung gibt, die sich mit Ungebühr vor Gericht in Form des Nichtaufstehens befasst. Und alle Jahre wieder, wird eine zu dieser Problematik veröffentlicht. So jetzt der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.01.2015 – 2 Ws 448/14, über den ja auch schon andere Blogs berichtet haben. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob das Nichtaufstehen des Angeklagten beim Wiedereintritt des Gerichts nach einer Sitzungspause eine Ungebühr i.S. des § 176 GVG darstellt. Das OLG Karlsruhe hat das verneint:

„Demgegenüber stellt das bloße Sitzenbleiben beim Eintreten des Gerichts nach vorangegangener Sitzungspause nur dann eine Ungebühr im Sinne des § 178 Abs. 1 GVG dar, wenn weitere objektive Umstände hinzutreten, was vorliegend nicht der Fall war. Ungebührlich wird ein solches Verhalten auch nicht dadurch, dass die Vorsitzende den Angeklagten aufgefordert hatte, sich von seinem Platz zu erheben. Denn hierzu war er nicht verpflichtet, mag es auch verbreitet üblich sein. Anders als zu Beginn der Sitzung stellt deren Fortsetzung nach einer Pause nämlich keinen besonderen Verfahrensabschnitt dar, der einer Verdeutlichung durch die äußere Form des Aufstehens der im Sitzungssaal Anwesenden bedarf (OLG Saarbrücken StraFo 2007, 208).“

Dazu passt dann ganz gut der OLG Hamburg, Beschl. v. 07.11.2014 – 1 Ws 117/14. Da hatte sich in einem schon umfangreicheren Verfahren der Angeklagte in Zeugenvernehmungen des Vorsitzenden eingemischt und diesen wohl immer wieder unterbrochen. Es gab Abmahnungen und die Androhung von Ordnungsmitteln, was der Angeklagte mit den Worten „scheiß drauf!“ kommentierte. Daraufhin wurde dann ein Ordnungsgeld von immerhin 300 € verhängt. Und das OLG setzt dann noch einen drauf und erhöht auf 400 €. Mit „immerhin“ deshalb formuliert, weil es mir unter Berücksichtigung der vom OLG dargelegten Kriterien schon 300  € doch recht hoch erscheint. Denn das OLG führt selbst aus:

„Zur Ahndung der Störungen und Ungebührlichkeiten waren die vom Senat neu festgesetzten Ordnungsmittel erforderlich. Dabei hat der Senat bedacht, dass Störungen und Entgleisungen durch den Angeklagten mit Blick auf die durch die gegen ihn durchgeführte Hauptverhandlung entstehende Stresssituation verständlicher erscheinen können als Störungen durch unbeteiligte Dritte und dass deshalb das Maß notwendiger Ahndung geringer ist. Der Senat hat ferner die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers berücksichtigt und dabei namentlich auch auf den zur Akte gereichten Arbeitsvertrag Bedacht genommen.“

Und dann noch Erhöhung auf 400 €? Dabei habe ich jetzt noch nicht mal geprüft, ob das überhaupt geht, oder ob da nicht auch das Verbot der reformatio in peius gilt.