Im zweiten Posting dann mal wieder etwas zum Beschleunigungsgrundsatz, ein Dauerbrenner bei den U-Haft-Fragen.
Der Angeklagte befindet sich in einem BtM-Verfahren aufgrund eines eines auf die Haftgründe der Flucht- sowie der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls seit dem 20.09.2023 in Untersuchungshaft. Durch Urteil vom 30.09.2024 wurde der Angeklagte wegen (unerlaubten) Handeltreibens mit Cannabis und wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Cannabis zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zeitgleich wurde Fortdauer der Untersuchungshaft beschlossen.
Das schriftliche Urteil gelangte am 22.11.2024 zur Geschäftsstelle. Unter dem 23. Dezember 2024 zeigte dann Rechtsanwalt N. unter Vorlage einer entsprechenden schriftlichen Vollmacht an, vom Angeklagten mit seiner Vertretung im Revisionsverfahren beauftragt worden zu sein, und bat in Abstimmung mit dem weiteren Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt P., darum, die Zustellung des schriftlichen Urteils an ihn zu veranlassen. Die Vorsitzende verfügte daraufhin unter dem 03.01.2025 die Zustellung des schriftlichen Urteils an Rechtsanwalt N. gegen Empfangsbekenntnis. Diese Verfügung wurde aus nicht in der Akte dokumentierten Gründen nicht ausgeführt. Unter dem 06.01.2025 verfügte die Vorsitzende sodann die Zustellung des Urteils nebst Protokollabschrift und elektronischem Aktendoppel an die Verteidiger des Angeklagten. Wann diese Verfügung ausgeführt worden ist, ist in dem dem OLG vorgelegten elektronischen Aktendoppel nicht vermerkt. Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde am 06.01.2025 fertiggestellt.
Mit Schriftsatz eines seiner Verteidiger vom 28.03.beantragte der Angeklagte die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig. Denn obgleich die schriftlichen Urteilsgründe bereits am 22.11.2024 zu den Akten gebracht worden seien, seien sie dem Angeklagten – aufgrund der Verfügung der Vorsitzenden vom 06.01.2025 und jeweils mit gerichtlichem Begleitschreiben vom 14.01.2025 – erst am 16.01.2025 und den Revisionsverteidigern sogar erst am 20.01.2025 zugestellt worden.
Das LG hat abgelehnt. Hinsichtlich der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe und deren Zustellung hat es ausgeführt, eine frühere Abfassung sei aufgrund einer parallel laufenden Urteilsabsetzungsfrist in einem anderen Umfangsverfahren nicht möglich gewesen. Eine frühere Urteilszustellung habe ebenfalls nicht erfolgen können, da das Protokoll der Hauptverhandlung aufgrund des Umfangs der Sache erst am 06.01.2025 habe fertiggestellt werden können (§ 273 Abs. 4 StPO). Dagegen die Beschwerde des Angeklagten, die Erfolg hatte.
Das OLG referiert zunächst zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft, die es vor dem Hintergrund der eingetretenen Verfahrensverzögerungen als nicht gegeben ansieht. Das LG habe es versäumt, dem Angeklagten bzw. seinen (Revisions-) Verteidigern die schriftlichen Urteilsgründe, die bereits am 22.11.2024 zu den Akten gebracht waren, zeitnah zuzustellen. Insoweit sei es insgesamt zu einer Verfahrensverzögerung von knapp zwei Monaten gekommen, welche nicht gerechtfertigt werden könne. Es führt im OLG Braunschweig, Beschl. v. 24.04.2025 – 1 Ws 105/25 – u.a. aus:
„….
Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt für das gesamte Strafverfahren und ist auch im Rechtsmittelverfahren zu beachten (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, Rn. 22, juris). Allerdings vergrößert sich mit der Verurteilung auch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, Rn. 23, juris).
b) Diesen von Verfassung wegen zu stellenden Anforderungen an eine beschleunigte Bearbeitung in Haftsachen ist das Landgericht im Nachgang zur Verkündung des Urteils am 30. September 2024 nicht mehr gerecht geworden.
(1) Allerdings ist es nicht zu beanstanden, dass das vollständig abgesetzte Urteil (erst) am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangt ist.
Zwar ist eine Vorgehensweise mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar, die die Urteilserstellung von vornherein auf das zeitlich fixierte Ende der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ausrichtet (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, Rn. 68, juris). Denn bei dieser Frist handelt es sich (nur) um die (Höchst-) Frist, binnen derer nach dem Gesetz die Fertigstellung eines Urteils nach Ende der Hauptverhandlung noch als angemessen anzusehen ist. Diese Höchstfrist entbindet das Gericht in Haftsachen nicht von der Verpflichtung, die Urteilsgründe des bereits verkündeten Urteils unverzüglich, das heißt ohne vermeidbare justizseitige Verzögerungen, schriftlich niederzulegen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, Rn. 68, m. w. N., juris).
Indes hat die Kammer – wie der Verteidiger zuletzt mit Schriftsätzen vom 28. März 2025 und vom 23. April 2025 auch anerkannt hat – die gesetzliche Höchstfrist vorliegend schon nicht ausgeschöpft. Hinsichtlich der für die Urteilsabsetzung in Anspruch genommenen rund acht Wochen ist unter Berücksichtigung des Umfangs des Urteils sowie ferner auch des Umstandes, dass die Kammer parallel noch das Urteil in einem anderen Umfangsverfahren abzusetzen hatte, nichts zu erinnern.
(2) Jedoch erweist es sich als sachlich nicht mehr gerechtfertigt, dass die Zustellung des am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangten schriftlichen Urteils an die Verteidiger des Angeklagten erst am 20. Januar 2025 – und mithin erst nach rund zwei Monaten – erfolgt ist.
Die in erheblichem Maße verzögerte Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe beruht den Ausführungen der Kammer in ihrer Haftfortdauerentscheidung vom 1. April 2025 zufolge darauf, dass das Protokoll in der vorliegenden Sache „aufgrund des Umfangs der Sache“ erst am 6. Januar 2025 fertiggestellt wurde.
Dass vor Fertigstellung des Protokolls die Zustellung des Urteils nicht erfolgen durfte, folgt aus dem Gesetz (§ 273 Abs. 4 StPO). Der Senat vermag indes in dem pauschalen Verweis auf den „Umfang der Sache“ keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, weshalb nach der Verkündung des Urteils am 30. September 2024 ein Zeitraum von mehr als drei Monaten erforderlich gewesen sein soll, um das Protokoll fertigzustellen.
Zwar muss das Protokoll nicht zwingend bereits bis zum Zeitpunkt der vollständigen Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe fertiggestellt sein. Jedoch hebt der Verteidiger mit Recht hervor, dass mit der Prüfung des Protokolls – insbesondere in Haftsachen – nicht erst dann zu beginnen ist, wenn das Urteil bereits vollständig abgesetzt ist. Vielmehr hätte eine angemessene, dem Freiheitsgrundrecht des inhaftierten Angeklagten gerecht werdende, Verfahrensförderung in der vorliegenden Sache geboten, dass mit der Prüfung des Protokolls unverzüglich nach der Urteilsverkündung begonnen wird. Dem hätte nach Auffassung des Senates auch nicht entgegengestanden, dass die Kammer zum damaligen Zeitpunkt durch eine parallel laufende Urteilsabsetzungsfrist in einem anderen Umfangsverfahren belastet war. Denn während die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe zunächst die Berichterstatterin gebunden hat, war die Prüfung des Protokolls Aufgabe der Kammervorsitzenden. Letztlich kann dies indes dahinstehen. Denn selbst wenn vorliegend mit der Prüfung des Protokolls erst am 22. November 2024 begonnen worden wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen, weshalb hierfür ein Zeitraum von – weiteren – sechs Wochen erforderlich gewesen sein soll. Das Protokoll hat einen Umfang von (lediglich) 52 Seiten zuzüglich Anlagen. Die – im Übrigen auch nicht weiter begründete – Einschätzung der Kammer, es handele sich um ein besonders umfängliches Protokoll, vermag der Senat vor diesem Hintergrund nicht zu teilen.
Dass der früheren Fertigstellung des Protokolls andere Hinderungsgründe entgegengestanden haben könnten – wie etwa eine parallele Belastung der Vorsitzenden mit weiteren, vorrangigen, Haftsachen – ist weder ersichtlich noch hat die Kammer sich hierauf berufen.
Im Anschluss an die Fertigstellung des Protokolls kam es sodann dadurch zu einer zusätzlichen, nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerung, dass die Urteilszustellung an die (Revisions-) Verteidiger erst am 20. Januar 2025 – mithin erst weitere zwei Wochen später – bewirkt wurde. Zwar ist – jedenfalls in dem dem Senat vorgelegten (elektronischen) Aktendoppel – nicht vermerkt, wann die Verfügung der Kammervorsitzenden vom 6. Januar 2025 ausgeführt wurde. Indes datieren die an den Angeklagten und seine Verteidiger gerichteten gerichtlichen Begleitschreiben, mit denen das Urteil übersandt wurde, vom 14. Januar 2025, so dass festzustellen ist, dass erst an diesem Tag die Bearbeitung der Verfügung vom 6. Januar 2025 durch die Serviceeinheit erfolgt ist. Gründe für diese weitere, in den Verantwortungsbereich der Justiz fallende und vermeidbare Verzögerung sind nicht zu erkennen.
Lediglich ergänzend merkt der Senat nach alledem noch an, dass – wenn die Prüfung des Protokolls spätestens am 22. November 2024 begonnen worden wäre und bis zum 6. Januar 2025 fortgedauert hätte – nicht plausibel ist, weshalb die Vorsitzende unter dem 3. Januar 2025 verfügt hat, das Urteil solle an den (neuen) Revisionsverteidiger des Angeklagten zugestellt werden. Denn wenn sie zu diesem Zeitpunkt aktuell (noch) mit der Prüfung des Protokolls befasst gewesen wäre, ist die vorgenannte Verfügung vor dem Hintergrund der ihr fraglos bekannten Vorschrift des § 273 Abs. 4 StPO schlicht nicht erklärlich. Eher legt der Umstand, dass unter dem 3. Januar 2025 lediglich die Zustellung an den (neuen) Verteidiger Rechtsanwalt Prof. Dr. N. verfügt wurde, nach Ansicht des Senates den Schluss nahe, dass die Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Blick hatte, dass die Zustellung des schriftlichen Urteils und des Protokolls an die (bisherigen) Verteidiger des Angeklagten noch nicht veranlasst worden war.
(3) Die vorgenannten Verfahrensverzögerungen stehen einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen, denn eine solche wäre nicht länger verhältnismäßig.
Insoweit hat der Senat im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Strafverfolgungsinteresse neben der zu erwartenden Strafe insbesondere auch berücksichtigt, dass sich aufgrund der erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert hat, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Gleichwohl war unter Berücksichtigung der bereits 19monatigen Dauer der Untersuchungshaft angesichts der jedenfalls in ihrer Gesamtheit erheblichen, der Justiz zuzurechnenden, sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren Verfahrensverzögerungen im Ergebnis eine Fortdauer der Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen.“