Archiv für den Monat: Mai 2025

Haft II: Beschleunigung auch nach Urteilserlass, oder: Zwei Monate für Urteilszustellung ist zu lang

Bild von Richard Duijnstee auf Pixabay

Im zweiten Posting dann mal wieder etwas zum Beschleunigungsgrundsatz, ein Dauerbrenner bei den U-Haft-Fragen.

Der Angeklagte befindet sich in einem BtM-Verfahren aufgrund eines eines auf die Haftgründe der Flucht- sowie der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls seit dem 20.09.2023 in Untersuchungshaft. Durch Urteil vom 30.09.2024 wurde der Angeklagte wegen (unerlaubten) Handeltreibens mit Cannabis und wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Cannabis zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zeitgleich wurde Fortdauer der Untersuchungshaft beschlossen.

Das schriftliche Urteil gelangte am 22.11.2024 zur Geschäftsstelle. Unter dem 23. Dezember 2024 zeigte  dann Rechtsanwalt N. unter Vorlage einer entsprechenden schriftlichen Vollmacht an, vom Angeklagten mit seiner Vertretung im Revisionsverfahren beauftragt worden zu sein, und bat in Abstimmung mit dem weiteren Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt P., darum, die Zustellung des schriftlichen Urteils an ihn zu veranlassen. Die Vorsitzende verfügte daraufhin unter dem 03.01.2025 die Zustellung des schriftlichen Urteils an Rechtsanwalt N. gegen Empfangsbekenntnis. Diese Verfügung wurde aus nicht in der Akte dokumentierten Gründen nicht ausgeführt. Unter dem 06.01.2025 verfügte die Vorsitzende sodann die Zustellung des Urteils nebst Protokollabschrift und elektronischem Aktendoppel an die Verteidiger des Angeklagten. Wann diese Verfügung ausgeführt worden ist, ist in dem dem OLG vorgelegten elektronischen Aktendoppel nicht vermerkt. Das Hauptverhandlungsprotokoll wurde am 06.01.2025 fertiggestellt.

Mit Schriftsatz eines seiner Verteidiger vom 28.03.beantragte der Angeklagte die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig. Denn obgleich die schriftlichen Urteilsgründe bereits am 22.11.2024 zu den Akten gebracht worden seien, seien sie dem Angeklagten – aufgrund der Verfügung der Vorsitzenden vom 06.01.2025 und jeweils mit gerichtlichem Begleitschreiben vom 14.01.2025 – erst am 16.01.2025 und den Revisionsverteidigern sogar erst am 20.01.2025 zugestellt worden.

Das LG hat abgelehnt. Hinsichtlich der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe und deren Zustellung hat es ausgeführt, eine frühere Abfassung sei aufgrund einer parallel laufenden Urteilsabsetzungsfrist in einem anderen Umfangsverfahren nicht möglich gewesen. Eine frühere Urteilszustellung habe ebenfalls nicht erfolgen können, da das Protokoll der Hauptverhandlung aufgrund des Umfangs der Sache erst am 06.01.2025 habe fertiggestellt werden können (§ 273 Abs. 4 StPO). Dagegen die Beschwerde des Angeklagten, die Erfolg hatte.

Das OLG referiert zunächst zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft, die es vor dem Hintergrund der eingetretenen Verfahrensverzögerungen als nicht gegeben ansieht. Das LG habe es versäumt, dem Angeklagten bzw. seinen (Revisions-) Verteidigern die schriftlichen Urteilsgründe, die bereits am 22.11.2024 zu den Akten gebracht waren, zeitnah zuzustellen. Insoweit sei es insgesamt zu einer Verfahrensverzögerung von knapp zwei Monaten gekommen, welche nicht gerechtfertigt werden könne. Es führt im OLG Braunschweig, Beschl. v. 24.04.2025 – 1 Ws 105/25 – u.a. aus:

„….

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt für das gesamte Strafverfahren und ist auch im Rechtsmittelverfahren zu beachten (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, Rn. 22, juris). Allerdings vergrößert sich mit der Verurteilung auch das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, Rn. 23, juris).

b) Diesen von Verfassung wegen zu stellenden Anforderungen an eine beschleunigte Bearbeitung in Haftsachen ist das Landgericht im Nachgang zur Verkündung des Urteils am 30. September 2024 nicht mehr gerecht geworden.

(1) Allerdings ist es nicht zu beanstanden, dass das vollständig abgesetzte Urteil (erst) am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangt ist.

Zwar ist eine Vorgehensweise mit dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar, die die Urteilserstellung von vornherein auf das zeitlich fixierte Ende der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ausrichtet (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, Rn. 68, juris). Denn bei dieser Frist handelt es sich (nur) um die (Höchst-) Frist, binnen derer nach dem Gesetz die Fertigstellung eines Urteils nach Ende der Hauptverhandlung noch als angemessen anzusehen ist. Diese Höchstfrist entbindet das Gericht in Haftsachen nicht von der Verpflichtung, die Urteilsgründe des bereits verkündeten Urteils unverzüglich, das heißt ohne vermeidbare justizseitige Verzögerungen, schriftlich niederzulegen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, Rn. 68, m. w. N., juris).

Indes hat die Kammer – wie der Verteidiger zuletzt mit Schriftsätzen vom 28. März 2025 und vom 23. April 2025 auch anerkannt hat – die gesetzliche Höchstfrist vorliegend schon nicht ausgeschöpft. Hinsichtlich der für die Urteilsabsetzung in Anspruch genommenen rund acht Wochen ist unter Berücksichtigung des Umfangs des Urteils sowie ferner auch des Umstandes, dass die Kammer parallel noch das Urteil in einem anderen Umfangsverfahren abzusetzen hatte, nichts zu erinnern.

(2) Jedoch erweist es sich als sachlich nicht mehr gerechtfertigt, dass die Zustellung des am 22. November 2024 zur Geschäftsstelle gelangten schriftlichen Urteils an die Verteidiger des Angeklagten erst am 20. Januar 2025 – und mithin erst nach rund zwei Monaten – erfolgt ist.

Die in erheblichem Maße verzögerte Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe beruht den Ausführungen der Kammer in ihrer Haftfortdauerentscheidung vom 1. April 2025 zufolge darauf, dass das Protokoll in der vorliegenden Sache „aufgrund des Umfangs der Sache“ erst am 6. Januar 2025 fertiggestellt wurde.

Dass vor Fertigstellung des Protokolls die Zustellung des Urteils nicht erfolgen durfte, folgt aus dem Gesetz (§ 273 Abs. 4 StPO). Der Senat vermag indes in dem pauschalen Verweis auf den „Umfang der Sache“ keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, weshalb nach der Verkündung des Urteils am 30. September 2024 ein Zeitraum von mehr als drei Monaten erforderlich gewesen sein soll, um das Protokoll fertigzustellen.

Zwar muss das Protokoll nicht zwingend bereits bis zum Zeitpunkt der vollständigen Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe fertiggestellt sein. Jedoch hebt der Verteidiger mit Recht hervor, dass mit der Prüfung des Protokolls – insbesondere in Haftsachen – nicht erst dann zu beginnen ist, wenn das Urteil bereits vollständig abgesetzt ist. Vielmehr hätte eine angemessene, dem Freiheitsgrundrecht des inhaftierten Angeklagten gerecht werdende, Verfahrensförderung in der vorliegenden Sache geboten, dass mit der Prüfung des Protokolls unverzüglich nach der Urteilsverkündung begonnen wird. Dem hätte nach Auffassung des Senates auch nicht entgegengestanden, dass die Kammer zum damaligen Zeitpunkt durch eine parallel laufende Urteilsabsetzungsfrist in einem anderen Umfangsverfahren belastet war. Denn während die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe zunächst die Berichterstatterin gebunden hat, war die Prüfung des Protokolls Aufgabe der Kammervorsitzenden. Letztlich kann dies indes dahinstehen. Denn selbst wenn vorliegend mit der Prüfung des Protokolls erst am 22. November 2024 begonnen worden wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen, weshalb hierfür ein Zeitraum von – weiteren – sechs Wochen erforderlich gewesen sein soll. Das Protokoll hat einen Umfang von (lediglich) 52 Seiten zuzüglich Anlagen. Die – im Übrigen auch nicht weiter begründete – Einschätzung der Kammer, es handele sich um ein besonders umfängliches Protokoll, vermag der Senat vor diesem Hintergrund nicht zu teilen.

Dass der früheren Fertigstellung des Protokolls andere Hinderungsgründe entgegengestanden haben könnten – wie etwa eine parallele Belastung der Vorsitzenden mit weiteren, vorrangigen, Haftsachen – ist weder ersichtlich noch hat die Kammer sich hierauf berufen.

Im Anschluss an die Fertigstellung des Protokolls kam es sodann dadurch zu einer zusätzlichen, nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerung, dass die Urteilszustellung an die (Revisions-) Verteidiger erst am 20. Januar 2025 – mithin erst weitere zwei Wochen später – bewirkt wurde. Zwar ist – jedenfalls in dem dem Senat vorgelegten (elektronischen) Aktendoppel – nicht vermerkt, wann die Verfügung der Kammervorsitzenden vom 6. Januar 2025 ausgeführt wurde. Indes datieren die an den Angeklagten und seine Verteidiger gerichteten gerichtlichen Begleitschreiben, mit denen das Urteil übersandt wurde, vom 14. Januar 2025, so dass festzustellen ist, dass erst an diesem Tag die Bearbeitung der Verfügung vom 6. Januar 2025 durch die Serviceeinheit erfolgt ist. Gründe für diese weitere, in den Verantwortungsbereich der Justiz fallende und vermeidbare Verzögerung sind nicht zu erkennen.

Lediglich ergänzend merkt der Senat nach alledem noch an, dass – wenn die Prüfung des Protokolls spätestens am 22. November 2024 begonnen worden wäre und bis zum 6. Januar 2025 fortgedauert hätte – nicht plausibel ist, weshalb die Vorsitzende unter dem 3. Januar 2025 verfügt hat, das Urteil solle an den (neuen) Revisionsverteidiger des Angeklagten zugestellt werden. Denn wenn sie zu diesem Zeitpunkt aktuell (noch) mit der Prüfung des Protokolls befasst gewesen wäre, ist die vorgenannte Verfügung vor dem Hintergrund der ihr fraglos bekannten Vorschrift des § 273 Abs. 4 StPO schlicht nicht erklärlich. Eher legt der Umstand, dass unter dem 3. Januar 2025 lediglich die Zustellung an den (neuen) Verteidiger Rechtsanwalt Prof. Dr. N. verfügt wurde, nach Ansicht des Senates den Schluss nahe, dass die Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Blick hatte, dass die Zustellung des schriftlichen Urteils und des Protokolls an die (bisherigen) Verteidiger des Angeklagten noch nicht veranlasst worden war.

(3) Die vorgenannten Verfahrensverzögerungen stehen einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen, denn eine solche wäre nicht länger verhältnismäßig.

Insoweit hat der Senat im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Strafverfolgungsinteresse neben der zu erwartenden Strafe insbesondere auch berücksichtigt, dass sich aufgrund der erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert hat, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Gleichwohl war unter Berücksichtigung der bereits 19monatigen Dauer der Untersuchungshaft angesichts der jedenfalls in ihrer Gesamtheit erheblichen, der Justiz zuzurechnenden, sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren Verfahrensverzögerungen im Ergebnis eine Fortdauer der Untersuchungshaft nicht zu rechtfertigen.“

Haft I: Erledigung eines U-Haft-Befehls und Auflagen, oder: Der BGH appelliert an den Gesetzgeber….

Bild von Pete Linforth auf Pixabay

Und heute gibt es hier drei Haftentscheidungen.

ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 03.04.2025 – StB 8/25. Mit dem bin ich ganz aktuell, denn der Beschluss stand bis heute morgen noch nicht mal auf der Seite des BGH. Der Kollege/Verteidiger in dem Verfahren hatte ihn mir gestern geschickt,

In der Entscheidung geht es um eine in Rechtsprechung und Literatur hfetig umstrittene Frage, nämlich darum,  ob nach Erledigung eines Untersuchungshaftbefehl mit Urteilsrechtskraft im Falle eines zuletzt außer Vollzug gesetzten Haftbefehls Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO bei Rechtskraft der Verurteilung isoliert fortgelten und Anweisungen vom Verurteilten weiterhin zu erfüllen sind.

Die Verurteilte hatte sich aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des BGH 21.04.2021 bis zur Verkündung des gegen sie ergangenen Urteils des OLG Dresden vom 31.05.2023, mit dem sie u.a. der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist, in Untersuchungshaft befunden. Mit Beschluss vom 31.05.2023 hat das OLG den Haftbefehl nach Maßgabe des Urteils aufrechterhalten, allerdings unter Auflagen gemäß § 116 Abs. 1 StPO außer Vollzug gesetzt.

Gegen den Haftbefehl in Verbindung mit dem Außervollzugsetzungsbeschluss des OLG hat die Verurteilte am 10.02.2025 Beschwerde eingelegt. Sie hat die Aufhebung des Haftbefehls begehrt und geltend gemacht, es bestehe keine Fluchtgefahr. Das OLG hat der Beschwerde (nur) teilweise abgeholfen, und zwar insofern, als es den Umfang der Meldeauflage reduziert hat.

Der BGH hat dann am 19.03.2025 auf die gegen das Urteil des OLG eingelegte Revision der Verurteilten den Schuldspruch geringfügig geändert sowie das weitergehende Rechtsmittel der Verurteilten und die Revision des Generalbundesanwalts verworfen (BGH, Urt. v. 19.03.2025 – 3 StR 173/24). Das Urteil des OLG ist damit rechtskräftig. Auch unter Anrechnung der vollzogenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB wird voraussichtlich Strafhaft zu vollstrecken sein.

Der BGH hat dei Beschwerde der Verurteilten als gegenstandslos angesehen, weil das Urteil des OLG durch das BGH-Urteil vom 19.03.025 in Rechtskraft erwachsen sei. Denn mit der rechtskräftigen Verurteilung sei der Haftbefehl gegenstandslos geworden, so dass für dessen begehrte Aufhebung im Beschwerdewege kein Raum mehr sei. Dem stehe – so der BGH – nicht entgegen, dass der Haftbefehl zuletzt außer Vollzug gesetzt gewesen seiund der Verurteilten Anweisungen gemäß § 116 Abs. 1 StPO erteilt worden seien.

Und dann:

„2. Die sich hieran anschließende Rechtsfrage, ob – und wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage – gemäß § 116 Abs. 1 StPO angeordnete Maßnahmen bei Rechtskraft einer Verurteilung zu einer (noch ganz oder teilweise zu vollstreckenden) unbedingten Freiheitsstrafe fortgelten und Anweisungen vom in Freiheit befindlichen Verurteilten weiterhin zu erfüllen sind beziehungsweise eine Sicherheitsleistung nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO gegebenenfalls noch für verfallen erklärt werden kann, ist umstritten. Denn die Strafprozessordnung verhält sich hierzu jedenfalls nicht in der angesichts der Grundrechtsrelevanz von Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO gebotenen Klarheit.

a) In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, die Erledigung eines Untersuchungshaftbefehls mit Rechtskraft der Verurteilung führe dazu, dass zugleich auch Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO gegenstandslos würden oder jedenfalls mit Rechtskrafteintritt zwingend aufzuheben seien (so SK-StPO/Paeffgen, 6. Aufl., § 120 Rn. 22; § 123 Rn. 4). Gegen diese Rechtsansicht lässt sich allerdings einwenden, dass gemäß § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO solche Maßnahmen erst mit Beginn des Strafvollzugs – explizit – aufzuheben sind, mithin nach dem darin zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzes nicht (ipso iure) mit Urteilsrechtskraft Erledigung finden sollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Februar 1980 – 2 Ws 227/79, MDR 1980, 598; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 123 Rn. 10; BeckOK StPO/Krauß, 54. Ed., § 123 Rn. 3; LR/Lind, StPO, 28. Aufl., § 123 Rn. 13; Barthe, NStZ 2016, 71, 74).

b) Auf Bedenken muss auch die Annahme von Teilen der Rechtsprechung und Literatur stoßen, ein zuletzt außer Vollzug gesetzter Untersuchungshaftbefehl gelte – anders als ein vollzogener – nach Rechtskraft der Verurteilung fort und fungiere nunmehr als rechtliche Basis für die Weitergeltung von Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO, auch wenn er nicht (wieder) in Vollzug gesetzt werden und eine Freiheitsentziehung nicht mehr legitimieren könne (vgl. KG, Beschluss vom 17. Juni 2011 – 2 Ws 219/11, NStZ 2012, 230 Rn. 9 ff.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 28. August 1978 – 4 Ws 142/78, NJW 1979, 665; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 112 Rn. 12, § 120 Rn. 33, § 123 Rn. 4; SSW-StPO/Herrmann, 5. Aufl., § 120 Rn. 37, § 123 Rn. 6; BeckOK StPO/Krauß, 54. Ed., § 112 Rn. 7, § 123 Rn. 3; Schweckendieck, NStZ 2011, 10, 13; differenzierend KG, Beschluss vom 22. Juni 2022 – 3 Ws 145/22, StV 2024, 22 Rn. 6 ff.; LR/Lind, StPO, 28. Aufl., § 123 Rn. 14: [Teil-]Erledigung des Haftbefehls als Grundlage für eine tatsächliche Freiheitsentziehung, nicht aber als rechtliche Basis für Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO). Denn ein Untersuchungshaftbefehl beinhaltet – schon begrifflich – die Anordnung von Untersuchungshaft, für die aber nach Urteilsrechtskraft kein Raum mehr ist. Für die Annahme einer automatischen Transformation eines außer Vollzug gesetzten Untersuchungshaftbefehls mit Rechtskraft des Urteils in eine gesonderte und vom ursprünglichen Haftbefehl gelöste Rechtsgrundlage für nunmehr allein der Sicherung zukünftiger Strafvollstreckung dienende Anordnungen nach § 116 Abs. 1 StPO findet sich in der Strafprozessordnung kein hinreichender normativer Anhalt.

c) Überwiegend wird daher in der obergerichtlichen Judikatur und im Schrifttum die Rechtsauffassung vertreten, zwar erledige sich jeder Untersuchungshaftbefehl mit Urteilsrechtskraft. Aus § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO ergebe sich jedoch, dass im Falle eines zuletzt außer Vollzug gesetzten Haftbefehls Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO bei Rechtskraft der Verurteilung isoliert fortgelten und Anweisungen vom Verurteilten weiterhin zu erfüllen seien, um die Strafvollstreckung zu sichern. Die von § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO für Fallkonstellationen wie die vorliegende implizit angeordnete Weitergeltung von Anordnungen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO ändere zwar nichts an der Erledigung des Haftbefehls mit Rechtskraft der Verurteilung, die Maßnahmen bestünden indes ohne diesen bis zu einer ausdrücklichen Aufhebung durch das Gericht der letzten Tatsacheninstanz auf der Grundlage des § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO fort (so OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 6. März 2003 – 3 Ws 15/03, NStZ-RR 2003, 143, 144; OLG Hamburg, Beschluss vom 9. Mai 1977 -1 Ws 196/77, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. Februar 1980 – 2 Ws 227/79, MDR 1980, 598; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 123 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 123 Rn. 3). Dieser Rechtsansicht steht allerdings entgegen, dass § 123 Abs. 1 Nr. 2 StPO keine explizite Weitergeltungsanordnung enthält und deshalb zumindest zweifelhaft erscheint, ob der mit Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundene Grundrechtseingriff hierdurch nach Urteilsrechtskraft eine hinreichende gesetzliche Fundierung erfährt (insofern zu Recht kritisch SK-StPO/Paeffgen, 6. Aufl., § 120 Rn. 22; § 123 Rn. 4). Als lückenhaft erweist sich das Regelungsgefüge der Strafprozessordnung im hiesigen Zusammenhang zudem deshalb, weil unklar bleibt, welcher Richter für eine konstitutiv wirkende Aufhebung von Anordnungen nach § 116 Abs. 1 StPO bei Beginn des Strafvollzugs beziehungsweise für die Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen eine solche Anordnung in der Zeit zwischen Rechtskraft des Urteils und der Aufnahme des Verurteilten in den Strafvollzug zuständig sein soll. Für die Annahme, trotz Urteilsrechtskraft sei hierzu das nach § 126 StPO zuständige Gericht der letzten Tatsacheninstanz berufen, fehlt es an einer gesetzlichen Basis.

3. Nach alledem ist der Gesetzgeber aufgefordert, das dargetane Regelungsdefizit zu beseitigen (so bereits Barthe, NStZ 2016, 71, 75 f.), auch wenn die Frage der Fortgeltung gemäß § 116 Abs. 4 StPO erteilter Anordnungen bei Urteilsrechtskraft in der vorliegenden Konstellation offen bleiben kann. Denn selbst dann, wenn die der Verurteilten erteilten Anweisungen nach § 116 Abs. 1 StPO – isoliert – fortgelten sollten, schiede eine Umdeutung der Haftbeschwerde gemäß § 300 StPO in ein Rechtsmittel gegen diese aus. Ein solches wäre nämlich gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 StPO nicht statthaft. In Verfahren, in denen die Oberlandesgerichte im ersten Rechtszug entscheiden, ist eine Beschwerde (ausschließlich) gegen Maßnahmen gemäß § 116 Abs. 1 StPO nicht gegeben, weil die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung solcher Anweisungen nicht die Grundlagen der Inhaftierung des Beschuldigten betrifft, sondern allein die Ausgestaltung seines Lebens in Freiheit, so dass eine Entscheidung hierüber keine die Verhaftung betreffende im Sinne des § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 1980 – StB 3/80, BGHSt 29, 200, 201 f.; vom 25. Januar 1973 – StB 76/72, BGHSt 25, 120 ff.; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 116 Rn. 44; MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl., § 304 Rn. 50; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 304 Rn. 13; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 304 Rn. 7; s. auch OLG Celle, Beschluss vom 15. März 2006 – 1 Ws 131/06, NStZ-RR 2006, 222, 223).“

Ich bin gespannt, ob man den Ruf in Berlin hört…..

TOA III: Wiedergutmachungserfolg als Voraussetzung?, oder: Schweigen des Opfers

Bild von Felipe auf Pixabay

Und dann noch das dritte Posting zum Täter-Opfer-Ausgleich, und zwar mit dem BayObLG, Urt. v. 17.03.20225 – 203 StRR 613/24.

Das AG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Das LG hat die Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft als unbegründet verworfen. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie u.a. die Bejahung eines Täter-Opfer-Ausgleichs angreift. Ohne Erfolg.

Das AG hatte im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

„Der Angeklagte hatte seit dem Jahr 2021 eine sexuelle Beziehung zur Geschädigten unterhalten und hielt sich des öfteren in ihrer Wohnung auf. Am 1. August 2022 legte er sich alkoholbedingt enthemmt zu der bereits neben ihrem 5 jährigen Sohn schlafenden Geschädigten ins Bett, zog ihr Nachthemd hoch, drang mit seinem Penis in die Scheide der Zeugin ein und vollzog mit mehreren Stoßbewegungen den vaginalen Geschlechtsverkehr. Dabei wusste er, dass die Geschädigte fest schlief, nahm billigend in Kauf, dass diese den Geschlechtsverkehr nicht wollte, und nutzte ihren Zustand bewusst für die Ausführung des Aktes. Als die Geschädigte erwachte und ihn von sich wegstieß, ließ der Angeklagte von ihr ab, ohne dass es zu einem Samenerguss gekommen war.“

Das LG hat die Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs gemäß § 46a Nr. 1 StGB bejaht. Das BayObLG hat das nicht beanstandet:

„b) Auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB und die Ausübung des tatrichterlichen Ermessens werden im Gesamtzusammenhang der Ausführungen noch hinreichend belegt.

aa) Ob das Tatgericht die Voraussetzungen des § 46a StGB annimmt, hat es in wertender Betrachtung zu entscheiden (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 10. Februar 2022 – 1 StR 403/21 –, juris Rn. 4 m.w.N.). Dazu hat es hinreichende Feststellungen zu treffen, welche Schäden das Opfer durch die Tat erlitten hat und welche Folgen fortbestehen. § 46a Nr. 1 StGB verlangt, dass der Täter im Bemühen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, die Tat „ganz oder zum überwiegenden Teil“ wieder gutgemacht hat, wobei es aber auch ausreichend sein kann, dass der Täter dieses Ziel ernsthaft erstrebt (BGH, Urteil vom 25. Juli 2024 – 1 StR 471/23 –, juris Rn. 16 m.w.N.). Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein und das Opfer die Leistung des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptieren muss (st. Rspr.; vgl. BGH a.a.O. Rn. 16 m.w.N.). Ein kommunikativer Prozess in diesem Sinne setzt voraus, dass das Verhalten des Täters im Verfahren Ausdruck der Übernahme von Verantwortung” ist, um die friedensstiftende Wirkung der Schadenswiedergutmachung zu entfalten (BGH a.a.O. Rn. 16). Die Bemühungen des Täters müssen zumindest den Versuch der Einbeziehung des Opfers in den kommunikativen Prozess enthalten (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2005 – 1 StR 287/05 –, juris Rn. 9). Bloß einseitige Bemühungen des Täters ohne den Versuch einer Einbindung des Opfers sind nicht ausreichend (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2015 – 3 StR 89/15 –, juris Rn. 11 m.w.N.). Der kommunikative Prozess setzt andererseits keine persönliche Begegnung oder Besprechung des Täters mit seinem Opfer voraus. Eine Verständigung über vermittelnde Dritte, etwa den Verteidiger und einen Bevollmächtigten kann genügen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2023 – 6 StR 275/23 –, juris Rn. 6 m.w.N.). Bei Sexualdelikten und im Falle von traumatisierten Opfern kann eine Einschaltung von Dritten als opferschonendes Vorgehen ratsam sein (vgl. BGH a.a.O. Rn. 6).

bb) Ein „Wiedergutmachungserfolg“ ist keine zwingende Voraussetzung für die Annahme eines Täter-Opfer-Ausgleichs (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 25. Juli 2024 – 1 StR 471/23 –, juris Rn. 19 m.w.N.; ausführlich Kinzig in Schönke/Schröder, 30. Aufl., StGB § 46a Rn. 2). Äußert sich das Opfer nicht zu einem vereinbarten Ausgleich oder Bemühungen des Täters, so kann auch daraus nicht in jedem Fall, insbesondere nicht im Rahmen von persönlichen Beziehungen, auf eine Zurückweisung durch das Opfer mit der Konsequenz eines nicht erfolgreichen Ausgleichs geschlossen werden. Vielmehr kommt es im Einzelfall darauf an, ob das Schweigen des Verletzten als eine solche inhaltliche Ablehnung zu beurteilen ist (detailliert BGH, Urteil vom 24. August 2017 – 3 StR 233/17-, juris Rn. 14 ff.; BGH, Urteil vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02 –, BGHSt 48, 134-147, juris Rn. 22). Die Anwendbarkeit des Strafmilderungsgrundes soll nicht ausschließlich vom Willen des Opfers abhängen; nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte dem Täter in den Fällen, in denen eine vollständige Wiedergutmachung nicht möglich wäre, eine realistische Chance eingeräumt werden, in den Genuss der Strafmilderung zu gelangen, etwa bei Verweigerung der Mitwirkung durch das Opfer. Als einschränkendes Kriterium fordert die Vorschrift aber das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, als Rahmenbedingung (vgl. BT-Drs. 12/6853, S. 21). Das bedeutet, dass das Bemühen des Täters gerade darauf gerichtet sein muss, zu einem friedensstiftenden Ausgleich mit dem Verletzten zu gelangen; der Täter muss demnach in dem ernsthaften Bestreben handeln, das Opfer „zufriedenzustellen“ (BGH, Urteil vom 15. Januar 2020 – 2 StR 412/19 –, juris Rn. 14; BGH, Urteil vom 31. Mai 2002 – 2 StR 73/02-, juris Rn. 24), ohne dass ihn vorrangig eine anderweitige Motivation antreibt.

cc) Gemessen daran durfte das Landgericht die Voraussetzungen von § 46a StGB bejahen. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat sich der von Anfang an geständige Angeklagte bei derGeschädigten in der ersten Instanz entschuldigt (Urteil S. 10, 15) und ihr ungeachtet einer schwierigen Beweislage (Urteil S. 15) von vorne herein eine Aussage erspart. Zudem hat er, obgleich in beschränkten finanziellen Verhältnissen lebend, sich ihr gegenüber „verpflichtet“, an sie eine Zahlung von 3500.- Euro als Entschädigung zu leisten (Urteil S. 17) und bereits einen Betrag von 1000.- Euro bezahlt (Urteil S 17, 18). Die Geschädigte ihrerseits hat bei ihrer gerichtlichen Einvernahme die erstinstanzlich ausgesprochene Freiheitsstrafe von zwei Jahren als gerechten Schuldausgleich beurteilt und ein darüber hinaus gehendes Strafverfolgungsinteresse verneint (Urteil S. 15). Der Senat kann daher den Urteilsgründen noch hinreichend entnehmen, dass das Landgericht die gebotene wertende Entscheidung getroffen hat und dass die Geschädigte die finanzielle Entschädigung angenommen und die Vereinbarung als friedensstiftende Konfliktregelung innerlich akzeptiert hat (vgl. auch BGH, Urteil vom 24. August 2017 – 3 StR 233/17-, juris; Maier in MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 46a Rn. 29).“

TOA II: Ernsthaftes Bemühen um Wiedergutmachung, oder: Objektiver Beurteilung des gezahlten Betrages

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann habe ich als zweite Entscheidung das BGH, Urt. v. 05.02.2025 – 6 StR 245/24. Es geht um eine Verurteilung wegen besonders schwerer Vergewaltigung.

Das LG hatte aufgrund folgender Feststellungen und Wertungen die Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs gemäß § 46a Nr. 1 StGB bejaht:

„a) Der Angeklagte habe die Tat teilweise gestanden und sich bei der Nebenklägerin am zweiten Hauptverhandlungstag persönlich – und im Rahmen des ihm Möglichen – „reuig entschuldigt“. Während einer Verhandlungsunterbrechung habe er der Nebenklägerin ferner 5.000 Euro übergeben, die für beide angesichts ihrer sehr begrenzten Einkommensverhältnisse eine „beträchtliche Summe“ darstelle. Die Nebenklägerin habe sowohl das Schmerzensgeld als auch die Entschuldigung angenommen und dazu erklärt, dass sie die Tat zwar nicht vergessen werde und der Angeklagte diese auch nicht ungeschehen machen könne; aus ihrer Sicht habe er aber „nunmehr alles getan, was ihm möglich sei“. Von besonderer Bedeutung und „immens erleichternd“ sei für sie, dass er den gegen ihren Willen und trotz ihres Weinens bis zum Samenerguss vollzogenen ungeschützten Geschlechtsverkehr eingeräumt habe. Man habe ihr insoweit immer wieder keinen Glauben geschenkt. Hingegen sei für sie nicht von Bedeutung, dass er den Messereinsatz nicht gestanden habe.“

Infolgedessen hat das LG die Strafe dem nach § 46a Nr. 1, § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 177 Abs. 8 StGB entnommen. Die Revision der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg:

„1. Die Urteilsgründe tragen insbesondere noch die Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs gemäß § 46a Nr. 1 StGB. Zwar hat das Landgericht versehentlich keine Variante nach § 46a Nr. 1 StGB benannt. Jedoch belegen die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen jedenfalls die Annahme eines ernsthaften Bemühens des Angeklagten um Schadenswiedergutmachung im Sinne des § 46a Nr. 1, Var. 3 StGB.

a) Der Täter-Opfer-Ausgleich gemäß § 46a Nr. 1, Var. 3 StGB setzt voraus, dass der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, jedenfalls ernsthaft erstrebt hat, die Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutzumachen. Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein und das Opfer die Leistung des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptieren muss. Die Wiedergutmachung muss auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen gerichtet sein (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 1995 – 1 StR 205/95, BGHR StGB § 46a Wiedergutmachung 1; Urteile vom 31. Mai 2002 – 2 StR 73/02, NStZ 2002, 646; vom 27. August 2002 – 1 StR 204/02, NStZ 2003, 29; vom 9. Mai 2017 – 1 StR 576/16, NStZ-RR 2017, 198).

b) Gemessen hieran halten die Erwägungen, mit denen das Landgericht den Täter-Opfer-Ausgleich angenommen hat, rechtlicher Prüfung stand.

aa) Die Strafkammer hat einen kommunikativen Prozess zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin tragfähig belegt. Der Angeklagte hat die Tat in der Hauptverhandlung teilweise gestanden, sich auch dort bei der Nebenklägerin entschuldigt und ihr 5.000 Euro übergeben. In Kenntnis seiner begrenzten finanziellen Verhältnisse und kognitiven Möglichkeiten hat die Nebenklägerin dieses Verhalten als friedensstiftenden Ausgleich angenommen. Zudem hat sie angegeben, dass der Angeklagte „nunmehr aus ihrer Sicht alles getan habe, was ihm möglich sei“.

bb) Die Bewertung der konkret erbrachten Leistungen als geeignet für einen friedensstiftenden Ausgleich ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Der vom Angeklagten gezahlte Betrag erweist sich bei Anwendung des gebotenen objektiven Maßstabs, aber auch angesichts der festgestellten Verletzungsfolgen sowie der berücksichtigten Einkommensverhältnisse nach den hier gegebenen Umständen als ausreichend, um darin jedenfalls ein ernsthaftes Bemühen um Wiedergutmachung zu erkennen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Oktober 2024 – 4 StR 173/24, Rn. 28; vom 1. August 2024 – 4 StR 409/23, Rn. 16; vom 4. Januar 2024 – 5 StR 540/23, Rn. 13).

cc) Die Strafkammer hat in diesem Prozessverhalten auch rechtsfehlerfrei eine zureichende Verantwortungsübernahme durch den Angeklagten für die Sexualstraftat erblickt.

(1) Für die erforderliche Übernahme von Verantwortung bedarf es zwar nicht stets, aber doch insbesondere bei Gewaltdelikten in aller Regel eines umfassenden Geständnisses (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02, BGHSt 48, 134, 141 f.; Beschlüsse vom 12. Januar 2021 – 4 StR 139/20, Rn. 8; vom 20. September 2002 – 2 StR 336/02, NStZ 2003, 199, 200, jeweils mwN). Oftmals wird dem Opfer gerade ein Bekennen des Täters zu seiner Tat auch im Strafverfahren besonders wichtig, eine angestrebte Wiedergutmachung des Täters ohne sein Geständnis deshalb kaum denkbar sein. Sind für das Opfer aber nach gelungenen Ausgleichsbemühungen die strafrechtliche Ahndung und das Verteidigungsverhalten des Täters nicht mehr von besonderem Interesse, so steht ein nur eingeschränktes Geständnis nach dem Sinn und Zweck der Regelung, die gerade dem friedensstiftenden kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer besondere Bedeutung beimisst, der Anwendung des § 46a StGB nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02, BGHSt 48, 134, 141 f.; Beschluss vom 20. September 2002 – 2 StR 336/02, NStZ 2003, 199, 200).

(2) Der Umstand, dass der Angeklagte lediglich einzelne Tatmodalitäten in Abrede gestellt hat, steht der angenommenen Verantwortungsübernahme für die Tat unter den hier gegebenen Umständen nicht entgegen. Zwar weist die Beschwerdeführerin zutreffend darauf hin, dass der Angeklagte ein widerrechtliches Eindringen in die Wohnung und den Einsatz eines Messers bestritten hat. Mit dem von ihm eingeräumten erzwungenen Geschlechtsverkehr hat er seine Verantwortung für die Tat und deren Folgen aber nicht in Abrede gestellt, sondern insbesondere die „Opferrolle“ der Nebenklägerin ausdrücklich anerkannt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juni 2008 – 2 StR 217/08, NStZ-RR 2008, 304; Urteile vom 10. Februar 2010 – 2 StR 391/09, NStZ-RR 2010, 175, 176; vom 23. Mai 2013 – 4 StR 109/13, NStZ-RR 2013, 240; vom 29. Januar 2015 – 4 StR 433/14, Rn. 29). Mit Bedacht auf die festgestellte Akzeptanz durch die Nebenklägerin, die dem unterbliebenen Bekenntnis des Angeklagten insbesondere zum Messereinsatz keine „große Bedeutung“ zugemessen hat, und den tatsächlich erreichten friedensstiftenden Ausgleich hat das Landgericht rechtsfehlerfrei keine strengeren Anforderungen an den Geständnisinhalt gestellt (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2002 – 1 StR 405/02, BGHSt 48, 134, 141 f.; Beschluss vom 12. Juli 2023 – 6 StR 275/23, NStZ-RR 2023, 274; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl., Rn. 1035 mwN).

2. Schließlich hält auch die Ermessensentscheidung des Landgerichts, von der Strafmilderungsmöglichkeit nach § 46a i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB Gebrauch zu machen, revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand…..“

TOA I: „Opferausgleich“ durch kommunikaten Prozess, oder: Konkrete Feststellungen in den Urteilsgründen?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Heute gibt es hier dann Strafzumessungsentscheidungen; alle drei haben mit dem Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a StGB) zu tun.

Zunächst kommt das BGH, Urt. v. 15.01.2025 – 2 StR 341/24. Das LG hatte den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern iverurteilt. Mit ihrer zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision wendet sich die Staatsanwaltschaft u.a. gegen den „Rechtsfolgenausspruch“. Das Rechtsmittel hatte Erfolg. Der BGH führt zu dem vom LG angenommenen Täter-Opfer-Ausgleich aus:

„2. Die angegriffenen Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe haben keinen Bestand. Die Strafrahmenwahl begegnet, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hinweist, durchgreifenden Bedenken. Die Annahme des Landgerichts, die Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs seien in allen Fällen gegeben, hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Auf die weiteren Beanstandungen der Beschwerdeführerin kommt es daher nicht an.

a) Zu dem Täter-Opfer-Ausgleich hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte vor Anklageerhebung über seine Verteidigerin Kontakt zu einer kirchlichen Institution aufnahm, um die Möglichkeit eines solchen Ausgleichs mit der Geschädigten zu erörtern, für die von besonderer Bedeutung war, keinen persönlichen Kontakt zum Angeklagten haben zu müssen. Am 21. Juni 2023 schlossen der Angeklagte und die Geschädigte eine Vereinbarung, wonach sich der Angeklagte zu einer ratenweisen Zahlung von 5.000 €, der Unterlassung jeglichen Kontakts und zu einem Abstand von mindestens 100 Metern im Falle eines zufälligen Aufeinandertreffens verpflichtete. Der Angeklagte zahlte bisher drei Raten; Ausführungen zur Ratenhöhe enthält das Urteil nicht.

b) Die vom Landgericht zur Anwendung gebrachte Vorschrift des § 46a Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen, die Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder dieses Ziel jedenfalls ernsthaft erstrebt hat. Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters Ausdruck der Übernahme von Verantwortung ist und das Opfer die Leistung des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptieren muss (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 9. Oktober 2019 – 2 StR 468/18, NSW 2020, 486, Rn. 7 mwN). Dabei bedarf es nicht unbedingt eines persönlichen Kontakts von Täter und Opfer, vielmehr kann zwischen ihnen auch durch Dritte vermittelt werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. Januar 2020 – 2 StR 412/19, StV 2021, 31, 32, Rn. 8). Es bedarf indes stets der Feststellung, wie sich das Opfer zu den Ausgleichsbemühungen des Täters verhalten hat, insbesondere dazu, ob es die (zugesagten) Leistungen als „friedensstiftenden Ausgleich“ akzeptiert hat (vgl. BGH, Urteile vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 307/15, Rn. 21, und vom 19. November 2024 – 5 StR 401/24, Rn. 15).

c) Hieran fehlt es. Konkrete tatrichterliche Feststellungen, wie sich die Geschädigte zu den Ausgleichsbemühungen des Angeklagten positioniert hat, sind dem Urteil nicht zu entnehmen. Der Abschluss der Vereinbarung vom 21. Juni 2023, die auch das von der Geschädigten initiierte Kontakt- und Abstandsgebot beinhaltete, besagt nicht, dass diese die Vereinbarung als friedensstiftenden Ausgleich akzeptierte. Zur Motivlage der Geschädigten verhalten sich die Urteilsgründe nicht. Dem dargestellten Inhalt der Vereinbarung ist der erforderliche friedensstiftende Ausgleich ebenfalls nicht zu entnehmen. Dieser versteht sich auch nicht von selbst, da die Geschädigte nicht nur jeglichen Kontakt zum Angeklagten ablehnte, sondern darüber hinaus das aufgenommene Kontakt- und Abstandsgebot für sie von besonderem Gewicht war. Dies könnte gegen einen kommunikativen Versöhnungsprozess sprechen.

d) Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung der angegriffenen Einzelstrafen in den Fällen II.1 bis II.9 und II.11 der Urteilsgründe. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht in diesen Fällen ohne die aufgrund des Täter-Opfer-Ausgleichs vorgenommene Strafrahmenverschiebung höhere Einzelstrafen zugemessen hätte. Der Wegfall von zehn Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.“