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Zustellung I: Verjährungsunterbrechung?, oder: Wo man gemeldet ist, muss man nicht „wohnen“

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Nach dem gestrigen „Corona-Tag“ heute dann wieder das „normale Programm“. Ich stelle heute hier drei Entscheidungen zu Zustellungsfragen vor.

Ich beginne mit dem AG Landstuhl, Beschl. v. 05.05.2021 – 2 OWi 4211 Js 90/21. Ergangen ist der Beschluss im Bußgeldverfahren, in dem um die Unterbrechung der Verjährung durch Zustellung des Bußgeldbescheides gestritten worden ist.  Das AG hat eine wirksame Unterbrechnung abgelehnt und das Verfahren gegen den Betroffenen nach § 206a StPO eingestellt. Dabei geht es (noch einma) um den Begriff der Wohnung:

„Es besteht ein Verfahrenshindernis hinsichtlich des Betroffenen, § 206a StPO. Es ist Verfolgungsverjährung eingetreten. Denn der Erlass des Bußgeldbescheides vom 27.10.2020, der bis heute nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist, hat die durch die Anhörungsverfügung (20.8.2020) ausgelöste Unterbrechung der Verjährungsfrist von drei Monaten nicht erneut unterbrechen können. Zwar bedarf es für den Bußgeldbescheid an sich der Zustellung nicht. Nur diese kann jedoch die Einspruchsfrist auslösen bzw. die Verjährung unterbrechen (BeckOK OWiG/Sackreuther OWiG § 65 Rn. 11). Die Zustellung des Bußgeldbescheids erfolgte hier an die Meldeadresse des Betroffenen. Diese Meldeadresse kann jedoch nicht als Wohnung im Sinne der §§ 46 OWiG, 37 StPO fungieren.

Ob eine Wohnung am Übergabeort existiert, richtet sich nicht danach, ob jemand unter einer bestimmten Adresse polizeilich gemeldet ist (VG Mainz BeckRS 2011, 47522; dies ist ggf. nur ein Indiz), sondern entscheidend ist, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt und dort schläft, d.h. eine Wohnung des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, i.S.d. Zustellvorschriften der §§ 178 ff. ZPO tatsächlich existiert und von dem Adressaten als Lebensmittelpunkt genutzt wird (BeckOK StPO/Larcher, § 37 Rn. 10 m.w.N.). D.h., dass er für eine gewisse Dauer dort lebt (LAG Köln LAGReport 2005, 160 Ls. 1). Eine „zustellfähige“ Wohnung kann aber nicht deshalb bejaht werden, weil die Räume z.B. als Kontaktadresse unterhalten werden, aber nicht Lebensmittelpunkt sind (OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2005, 648). Ob der Zustellungsempfänger tatsächlich am Zustellungsort im Zeitpunkt der Zustellung wohnhaft war, ist von Amts wegen zu berücksichtigen (OLG Karlsruhe BeckRS 2008, 19581 mwN).

Hier hat der Verteidiger von Beginn an und sogar noch innerhalb der Verjährungsunterbrechungsfrist mitgeteilt (Bl. 46 d.A.), dass der Betroffene nicht an der Meldeadresse wohnt und Zustellungen unter Vorlage einer dafür tauglichen Vollmacht an sich erbeten. Dem ist die Behörde aus nicht erklärlichen Gründen nicht nachgekommen. Der Betroffene ist Schausteller und dementsprechend im Bundesgebiet unterwegs. Dass er dies zum fraglichen Zeitpunkt wegen der Corona-Pandemie gerade nicht sein hätte können, kann das Gericht im Freibeweisverfahren nicht feststellen. Der fragliche Zeitraum Sommer/Herbst 2020 war gerade davon geprägt, dass kaum Einschränkungen gegeben waren.

Die eingeholte Stellungnahme der für den Betroffenen örtlich zuständigen Polizeiinspektion Ludwigslust / Parchim ergab exakt den Sachvortrag des Betroffenen (Bl. 124 d.A.). Die im Schreiben der Polizeibehörde genannte Rechtsansicht, der gewillkürte Wohnsitz stelle auch den räumlichen Lebensmittelpunkt des Betroffenen dar, ist lediglich eine Vermutung, die nicht auf tatsachenbasierten Erkenntnissen beruht. Auch der ergänzende Vortrag des Verteidigers zu zahlreichen Wiedereinsetzungsentscheidungen in anderen Verfahren, die gerade auf der Melde-/Wohnungsproblematik beruhen (Bl. 127 ff.), lässt den einfachen Rückschluss „Meldeadresse = Wohnung“ gerade nicht zu, sondern steht dem entgegen.

Dem Betroffenen ist auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. Denn schon in Reaktion auf den Anhörungsbogen wurde der Behörde eine Zustellungsmöglichkeit angeboten. Dass sie diese nicht nutzt, kann dem Betroffenen nicht vorgehalten werden.

Eine Heilung durch Übersendung der Abschrift an den potentiellen Zustellungsbevollmächtigten, den Verteidiger, § 189 ZPO, ist vorliegend nicht eingetreten. Hier fehlt es schon am Zustellungswillen der Behörde. Dass sich dieser von der Zustellung an den Betroffenen auf andere potentielle Zustellungsberechtigte ohne gesonderte Willensbekundung oder -manifestation übertragen ließe, ist rechtlich weder geboten noch zulässig.

Dass der Betroffene selbst Kenntnis vom Inhalt des Bußgeldbescheids erhalten hat und damit eine Heilung eingetreten wäre, konnte das Gericht anhand der Akte nicht feststellen. Zudem ist der Betroffene unwidersprochen Analphabet, sodass auch diesbezüglich eine Kenntnisnahme des Inhalts des Bußgeldbescheids zumindest fraglich gewesen wäre.“

Und dann << Werbemodus an>>: Die Zustellungsfragen spielen – wie der Beschluss zeigt – eine (große) Rolle im Bußgeldverfahren. Daher: Sie sind (auch) in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OW-Verfahren, 6. Auflage, 2021, eingehend behandelt. Das Werk kann man hier bestellen <<Werbemodus aus>>.

OWi II: Keine wirksame Ersatzzustellung des BGB, oder: Keine Verjährungsunterbrechung

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Und als zweite Entscheidung dann ein BayObLG-Beschluss auf dem Bußgeldverfahren. Es geht um die Wirksamkeit einer Ersatzzustellung und damit verknüpft um die Frage der Verjährungsunterbrechung. Das AG hatte verurteilt, das BayObLG stellt im BayObLG, Beschl. v. 17.11.2020 – 201 ObOWi 1385/20 – ein:

„1. Folgender Verfahrensablauf liegt zugrunde:

Halter des bei dem Verkehrsverstoß festgestellten Fahrzeugs ist der Vater des Betroffenen, der in A gemeldet ist. Dessen Anhörung wurde am 02.09.2019 angeordnet. Nach Erholung eines Lichtbildes des Vaters des Betroffenen wurde am 01.10.2019 der Polizeiposten in A um Ermittlung des Fahrers zur Tatzeit gebeten. Von der Polizei in A wurde unter dem 08.10.2019 mitgeteilt, dass die durchgeführten Ermittlungen über die Meldedaten und Erholung eines Lichtbildes des Betroffenen ergaben, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Betroffene den Pkw geführt haben dürfte. Unter dem 15.10.2019 ordnete daraufhin ein Mitarbeiter des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes die Anhörung des Betroffenen an. Der Bußgeldbescheid wurde am 20.11.2019 erlassen und durch Niederlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten am 22.11.2019 unter der Anschrift in A zugestellt. Der Betroffene war seit 01.08.2019 mit Hauptwohnsitz in F und in A mit einer Nebenwohnung gemeldet.

Die Verteidigerin hat mit am 06.12.2019 beim bayerischen Polizeiverwaltungsamt eingegangenem Schreiben gegen den Bußgeldbescheid vom 20.11.2019 „namens und in Vollmacht des Mandanten“ Einspruch eingelegt, ohne eine schriftliche Verteidigervollmacht vorzulegen. Die Akten wurden am 11.02.2020 dem Amtsgericht vorgelegt, wo dann am 08.04.2020 und am 17.04.2020 Termine zur Hauptverhandlung anberaumt worden sind. Eine von der Verteidigerin vorgelegte schriftliche Strafprozessvollmacht wurde vom Betroffenen am 20.04.2020 unterzeichnet. Nach Vortrag der Verteidigerin blieb der in A zugestellte Bußgeldbescheid ungeöffnet und ist dem Betroffenen zu keinem Zeitpunkt bekannt gegeben worden. Sie habe dem Betroffenen den Bußgeldbescheid auch nicht in Textform übermittelt.

2. Das Verfahren ist wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen (§ 260 Abs. 3 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG), weil bereits vor Urteilsverkündung Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 Satz 1 OWiG) eingetreten war.

…….

c) Die Verjährungsfrist ist hingegen nicht nach § 26 Abs. 3 Halbsatz 2 StVG auf sechs Monate verlängert und auch nicht nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG erneut unterbrochen worden durch den Erlass des Bußgeldbescheides am 20.11.2019; denn der Bußgeldbescheid ist nicht innerhalb von zwei Wochen ab Erlass wirksam zugestellt worden. Sowohl für die Verlängerung der Frist auf sechs Monate als auch für die Unterbrechung der Verjährung nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG ist nicht nur ein wirksamer Bußgeldbescheid, sondern auch dessen wirksame Zustellung erforderlich (vgl. BGHSt 45, 261, 263; OLG Bamberg NJW 2006, 1078; OLG Celle ZfSch 2011, 647).

aa) Eine wirksame Zustellung an den Betroffenen ist unter der Anschrift in A nicht erfolgt. Nach § 51 Abs. 1 OWiG, Art. 3 Abs. 2 Satz 1 BayVwZVG gelten für die Zustellung eines Bußgeldbescheides durch die Post mittels Zustellungsurkunde die Vorschriften der §§ 177182 ZPO entsprechend. Nach §§ 178 Abs. 1, 180 Satz 1 ZPO erfordert eine Ersatzzustellung durch Niederlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten, dass der Betroffene dort tatsächlich wohnhaft ist. Für den Begriff der Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschriften kommt es auf das tatsächliche Wohnen an, nämlich darauf, ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt und dort auch schläft bzw. dort seinen Lebensmittelpunkt hat und den er regelmäßig aufsucht, ohne dass der melderechtliche Status ausschlaggebend ist (vgl. BGH NJW-RR 1994, 564; BeckOK/Dörndorfer ZPO [Stand: 01.09.2020] § 178 Rn. 3). Dies war für die Wohnung in A zum Zeitpunkt der Zustellung nicht der Fall. Der Betroffene trägt nachvollziehbar und durch die eidesstattliche Versicherung seines Vaters bestätigt vor, dass er sich seit 01.08.2019 nicht mehr in A aufgehalten hat. Er war seit diesem Zeitpunkt tatsächlich mit Hauptwohnsitz in F gemeldet. Auch die im Freibeweisverfahren erholte dienstliche Stellungnahme eines Beamten des Polizeipostens A hat keine gegenteiligen Erkenntnisse erbracht. Zwar kann unter Umständen eine Ersatzzustellung unter dem Nebenwohnsitz erfolgen. Dies setzt aber voraus, dass der Betroffene entweder den Anschein gesetzt hat, dort tatsächlich aufhältlich zu sein oder sich tatsächlich dort aufgehalten hat (vgl. VGH München, Beschluss vom 23.08.1999 – 7 ZB 99.1380 = BayVBl 2000, 403 = BeckRS 1999, 22873); BeckOK/Dörndorfer a.a.O. § 178 Rn. 4). Beides kann hier nicht nachgewiesen werden. Der Zugang von Briefsendungen kann nur durch positive Beweisanzeichen festgestellt werden (vgl. KG NZV 2002,200; OLG Celle a.a.O.).

bb) Eine Heilung dieses Zustellungsmangels ist nicht eingetreten, § 51 Abs. 1 OWiG i.V.m. Art. 9 BayVwZVG, da kein Zugang bei einem tatsächlich Empfangsberechtigten festgestellt werden kann. Der Betroffene bzw. sein Vater versichern und versuchen, dies anhand eines Lichtbildes zu belegen, dass der Bußgeldbescheid vom Betroffenen zu keinem Zeitpunkt aus dem Kuvert genommen worden ist, auf welchem das Zustellungsdatum vermerkt ist. Seine Verteidigerin, die den Bußgeldbescheid gemäß § 51 Abs. 3 Satz 3 OWiG formlos in Abschrift erhalten hat und deshalb bei Einspruchseinlegung auch das Datum des Bußgeldbescheides kannte, trägt vor, dass sie dem Betroffenen zu keinem Zeitpunkt den Bußgeldbescheid in Textform übermittelt habe. Für eine Heilung des Zustellungsmangels ist zwar nicht der Zugang des Originals des Schriftstücks erforderlich, sondern es genügen vielmehr auch die Übersendung einer Kopie oder eines Scans. Andere Formen der Übermittlung führen aber wegen der Fehleranfälligkeiten derartiger Übermittlungswege grundsätzlich nicht zur Heilung eines Zustellungsmangels (vgl. BGH, Beschluss vom 12.03.2020 – I ZB 64/19 = MDR 2020, 750 = WRP 2020, 740 = DGVZ 2020, 121 = GRUR 2020, 776 = ZMR 2020, 803). Die Verteidigerin hat vorliegend gemäß § 51 Abs. 3 Satz 3 OWiG lediglich formlos eine Abschrift des Bußgeldbescheides erhalten. Schon von daher fehlt bezogen auf die Verteidigerin der Zustellungswille der Verwaltungsbehörde. Es kann vorliegend auch dahinstehen, ob es für die Heilung eines Zustellungsmangels genügt, wenn die Verteidigerin anstelle des Betroffenen vom Inhalt des Bußgeldbescheides Kenntnis erlangt hat (vgl. zum Fall der Kenntniserlangung des Betroffenen bei missglückter Zustellung an den Verteidiger OLG Hamm, Beschluss vom 08.08.2017 – 3 RBs 106/17 bei juris). Die Heilung nach Art. 9 BayVwZVG i.V.m. § 189 2. Alt. BGB setzt voraus, dass der Bußgeldbescheid (in Textform) einem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Der Wahlverteidiger gilt aber nur dann als empfangsberechtigt, wenn zum Zeitpunkt der Zustellung seine Vollmacht bereits zu den Akten gelangt ist (vgl. KK/Lampe OWiG 5. Aufl. § 51 Rn. 84 m.w.N.). Eine Abschrift der Verteidigervollmacht ist vorliegend aber erst am 23.04.2020 dem Amtsgericht überlassen worden. Demnach war die Verteidigerin vorliegend bei formloser Übersendung des Bußgeldbescheides (noch) nicht empfangsberechtigt. Es bestehen vorliegend auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Verteidigerin zum Zeitpunkt der Übersendung des Bußgeldbescheides bereits rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erteilt worden war.“

Zustellung II: Tatsächliche Zustellung per WhatsApp, oder: Mütterliche Fürsorge

entnommen wikimedia.org
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Die zweite Entscheidung kommt vom AG Trier. Das hat im AG Trier, Beschl. v. 27.11.2020 – 35a OWi 52/20 – zu den den Voraussetzungen einer tatsächlichen Zustellung im Sinne des § 189 ZPO Stellung bezogen.

Im entschiedenen Fall war dem Betroffenen, der an der Zustellungsadresse nicht mehr wohnte, von seiner Mutter per WhatsApp ein Foto des Bußgeldbescheides, welches den Inhalt des Bußgelbescheides vom Adressfeld bis zu dem Satz „Die Geldbuße wird wegen vorsätzlicher Tatbegehung erhöht“ abbildete, übersandt worden. Das AG sagt: Für einen tatsächlichen Zugang nicht ausreichend:

„Der Bußgeldbescheid vom 24.6.2020 wurde dem Betroffenen nicht am 30.07.2020 ordnungsgemäß zugestellt. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Bußgeldbescheid am 30.07.2020 durch in den zur Wohnung mit der Anschrift pp2 gehörenden Briefkasten eingelegt. Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist nur möglich, wenn die Wohnung tatsächlich vom Zustellungsadressaten bewohnt wird. Wohnung i. S. d. § 178 ZPO sind hierbei die Räume, die der Empfänger tatsächlich bewohnt, in den er also hauptsächlich lebt und wo am ehesten mit einer Zustellung gerechnet werden kann. Die Eigenschaft als Wohnung geht erst verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustandsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an den neuen Aufenthaltsort verlagert (vgl. BGH, NJW 1978, 1885). Ob das der Fall ist, lässt sich nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen, wobei der Zweck der Zustellungsvorschriften, dem Empfänger rechtliches Gehör zu gewähren, zu berücksichtigen ist. Geeignete Gesichtspunkte für diese Prüfung können die Dauer der Abwesenheit, der Kontakt zu den in der Wohnung verbliebenen Personen sowie die Absicht und die Möglichkeit der Rückkehr sein (BGH, NJW 1978, 1858).

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien hat der Betroffene ausweislich des Protokolls zur Wohnungsübergabe vom 28.7.2020 einen neuen Wohnsitz an der Anschrift pp1 begründet und seinen alten Wohnsitz an der Anschrift pp2 aufgegeben.

Entgegen der ursprünglichen Auffassung des Amtsgerichts gilt der Bußgeldbescheid nicht durch Übermittlung eines Fotos der oberen Hälfte des Bescheides per WhatsApp an den Betroffenen als zugestellt.

Der Bußgeldbescheid wurde dem Betroffenen ausweislich der Postzustellungsurkunde am 30.07.2020 durch Niederlegung des Schriftstückes in den zur Wohnung mit der Anschrift pp2 gehörenden Briefkasten zugestellt. Auch wenn der Betroffene bereits zum Zeitpunkt der Zustellung seinen Wohnsitz bereits in pp1 und die Wohnung in pp2 aufgegeben hatte, hatte der Betroffene spätestens am 08.08.2020 Kenntnis vom Buß-geldbescheid, weil seine Mutter die obere Hälfte abfotografierte und dem Betroffenen per Whats-App übermittelt und er eine E-Mail bzgl. Des Bescheides an die Bußgeldbehörde sendete. Der Bußgeldbescheid gilt gemäß § 189 ZPO als am 08.08.2020 zugestellt. Nach § 189 ZPO gilt der Bescheid bei Zustellungsmängeln in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem der Bußgeldbescheid dem Betroffenen tatsächlich zugegangen ist. Der Zustellungsadressat muss das zuzustellende Dokument (OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 09651) tatsächlich erhalten haben, so dass er vom Inhalt Kenntnis nehmen konnte (BGH NJW 2007, 1605). Das ist dann der Fall, wenn er das Schriftstück in die Hand bekommen hat (BGH NZG 2020, 70 BFH NJW 2014, 2524). Die bloße (mündliche) Unterrichtung über den Inhalt des Schriftstücks reicht nicht (BGH BeckRS 2020, 6358 NJW 1992, 2099), auch nicht die durch Akteneinsicht erlangte Kenntnis (BayObLG NJW 2004, 3722). Nicht erforderlich ist der Zugang des zuzustellenden Originals. Die Übermittlung einer (elektronischen) Kopie, z.B. Scan, Fotokopie, Telefax, genügt (BGH BeckRS 2020, 6358). Die Übermittlung des oberen Teils des Bußgeldbescheides per WhatsApp genügt insoweit nicht den Voraussetzungen einer tatsächlichen Zustellung im Sinne des § 189 ZPO.2

Manchmal kann mütterliche Fürsorge auch über das Ziel hinausschießen. Allerdings frage ich mich auch, wie die Info überhaupt ins Verfahren gekommen ist…..

OWi I: Verjährungsunterbrechung durch Zustellung?, oder: Rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht?

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Heute am Donnerstag drei OWi-Entscheidungen.

Und ich mache den Opener mit dem „schönen“ OLG Karlsruhe, Beschl. v.29.10.2020 – 2 Rb 35 Ss 618/20, den mir der Kollege Rinklin gestern geschickt hat. Problematik ist der Dauerbrenner: „Zustellung“ des Bußgeldbescheides an den Verteidiger. Und das OLG – offenbar ein RiAG, der als Erprobungsrichter beim OLG ist, macht es schulbuchmäßig.

„Die gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Das Verfahren ist unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen eines Verfahrenshindemisses einzustellen (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 206a Abs. 1 StPO). Der Verfolgung der Tat steht deren Verjährung entgegen (§ 31 Abs. 1 S. 1 OWiG).

1. Die dreimonatige Verjährungsfrist aus § 26 Abs. 3 Hs. 1 StVG, die am 12. Januar 2020 —dem Tattag — zu laufen begonnen hatte (§ 33 Abs. 3 OWiG), wurde nur durch die Anordnung der Anhörung des Betroffenen am 17. Februar 2020 gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 OWiG unterbrochen. Damit trat mit Ablauf des 16. Mai 2020 (zur Fristberechnung siehe KK-OWiG/Ellbogen, 5. Aufl. 2018, § 31 Rn. 35 f.) Verjährung ein, so dass der Eingang der Akten beim Amtsgericht am 1. Juli 2020 keine erneute Unterbrechung der Verjährung (§ 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG) bewirken konnte.

2. Die Verjährungsfrist war nicht gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG unterbrochen worden. Eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheids vom 28. April 2020, die zwingende Voraussetzung für eine Unterbrechung der Verjährung nach dieser Vorschrift ist, lässt sich nicht feststellen.

a) Es ist nicht nachweisbar, dass die von der Bußgeldbehörde veranlasste Zustellung des Bußgeldbescheids an den Betroffenen (§ 51 Abs. 1 OWiG, § 3 LVwZG) ordnungsgemäß bewirkt wurde, da die Postzustellungsurkunde nicht in Rücklauf gelangt ist.

b) Der Zustellungsmangel wurde nicht gemäß § 51 Abs. 1 OWiG, § 9 LVwZG geheilt.

aa) Es ist nicht feststellbar, dass dem Betroffenen das zuzustellende Schriftstück tatsächlich zugegangen ist. Aus dem Umstand, dass der Verteidiger des Betroffenen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hat, lässt sich dies nicht ableiten, da die Bußgeldbehörde — wie von § 51 Abs. 3 S. 3 OWiG vorgeschrieben — zugleich formlos eine Abschrift des Bußgeldbescheids an den Verteidiger übersandt hatte.

Es ist zwar durchaus wahrscheinlich, dass der Betroffene — sollte ihn die Zustellung tatsächlich nicht erreicht haben — von seinem Verteidiger zumindest eine Kopie der an diesen übersandten Abschrift des Bußgeldbescheids erhalten hat. Der sichere Nachweis eines solchen Zugangs, wie er für eine Heilung erforderlich wäre, ist jedoch nicht zu führen, so dass es keiner Entscheidung bedarf, ob auf diese Weisung eine Heilung überhaupt hätte bewirkt werden können (vgl. etwa NK-VwVfG/Thomas Smollich, 2. Aufl., VwZG, § 8 Rn. 6 m.w.N.; siehe auch — mit Überblick zum Meinungsstand — BGH, Beschluss vom 12. März 2020 — I ZB 64/19, BeckRS 2020, 6358 Rn. 21 ff., zu § 189 ZPO, dem die Vorschrift des § 9 LVwZG weitgehend angepasst wurde). Die bloße mündliche Überlieferung oder die schriftliche Mitteilung des Inhalts des Bußgeldbescheids genügen nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut und dem Gesetzeszweck nicht, um eine Heilung zu bewirken (vgl. BGH a.a.O. Rn. 25).

bb) Von einer Heilung des Zustellungsmangels kann auch nicht deshalb ausgegangen werden, weil aufgrund der Einspruchseinlegung jedenfalls feststeht, dass entweder der Betroffene den Bußgeldbescheid oder der Verteidiger eine Abschrift desselben erhalten hat. Mit dieser Erwägung könnte eine Heilung des Zustellungsmangels nur dann angenommen werden, wenn der tatsächliche Zugang der Abschrift des Bußgeldbescheids beim Verteidiger die Heilung der fehlerhaften Zustellung an den Betroffenen gemäß § 51 Abs. 1 OWiG, § 9 LVwZG hätte bewirken können. Dies ist nicht der Fall.

Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob eine Heilung überhaupt dadurch eintreten kann, dass eine Abschrift des zuzustellenden Schriftstücks einer anderen Person als derjenigen, an die die Zustellung gerichtet war, tatsächlich zugeht (so OLG Hamm, Beschluss vom 8. August 2017 —3 RBs 106/17, juris Rn. 28 f.; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29. April 2009 — Ss (Z) 205/2009 (37/09), juris Rn. 10; a.A. OLG Celle, Beschluss vom 30. August 2011— 311 SsRs 126/11, juris, Rn. 17 f.; OLG Celle, Beschluss vom 18. August 2015 — 2 Ss (OWi) 240/15, juris, Rn. 12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 10. Oktober 2013 — 4a Ss 428/13, juris Rn. 11). Denn auch wenn man dies bejahen würde, käme als andere Person nur eine solche in Betracht, an die die Zustellung nach dem Gesetz hätte gerichtet werden können (OLG Hamm a.a.O. Rn. 28). Eine solche Person war der Verteidiger nicht.

(1) An den gewählten Verteidiger kann gemäß § 53 Abs. 3 S. 1 OWiG — kraft gesetzlich fingierter Zustellungsvollmacht — nur dann wirksam zugestellt werden, wenn sich woran es hier fehlt —eine Urkunde über die Bevollmächtigung als Verteidiger bei den Akten befindet (vgl. BGH, Be-schluss vom 24. Oktober 1995 — 1 StR 474195, juris Rn. 4 ff.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. März 1996 — 3 Ss 11196, juris Rn. 3 f.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Dezember 1987 —
3 Ss 599/87, juris Rn. 5 f.). Daran vermag das Auftreten des Verteidigers gegenüber der Bußgeld-behörde ebenso wenig etwas zu ändern wie der Umstand, dass der Verteidiger mit Schreiben vom 6. März 2020, mit dem er seine Verteidigung angezeigt hat, eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert hat (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 29. April 2009 — Ss (Z) 205/2009 (37/09), juris Rn. 10; OLG Karlsruhe a.a.O. Rn. 3).

(2) Es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich zum Empfang von Zustellungen ermächtigt war.

(a) In der Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass eine wirksame Zustellung an den Verteidiger nicht nur aufgrund der durch § 53 Abs. 3 S. 1 OWiG begründeten gesetzlichen Zustellungsvollmacht, sondern auch aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht erfolgen kann (vgl. etwa Senat, Beschluss vom 8. Mai 2015 — 2 (7) Ss Bs 467/15, juris Rn. 12; BGH, Be-schluss vom 18. Februar 1997 —1 StR 772/96, juris BayObLG, Beschluss vom 14. Januar 2004 — 2St RR 188/2003, juris Rn. 5 f. KG Berlin, Beschluss vom 17. Juni 2016 — 3 Ws (B) 217/16, juris Rn. 18 OLG Celle, Beschluss vom 27. März 2019 — 2 Ss (0Wi) 101/19, juris Rn. 8). Die Erteilung der rechtsgeschäftlichen Vollmacht ist an keine Form gebunden (§ 167 Abs. 2 BGB; vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 13. Mai 2013 — 1 Ss (0W1) 83/13, juris Rn. 21). Die Feststellung, ob zum Zeitpunkt der Zustellung an den Verteidiger eine ihm rechtsgeschäftlich erteilte Zustellungsvollmacht vorlag, beurteilt sich im Einzelfall nach den Gesamtumständen und dem Auftreten des Rechtsanwaltes im Verfahren (KG Berlin a.a.O. OLG Celle a.a.O.).

(b) Hier liegen keine Umstände vor, die mit der erforderlichen Sicherheit darauf schließen lassen, dass der Verteidiger zum Zeitpunkt des (etwaigen) Erhalts der Abschrift des Bußgeldbescheids zur Entgegennahme von Zustellungen für den Betroffenen ermächtigt war.

Aus dem Verhalten des Verteidigers kann nicht auf eine entsprechende Bevollmächtigung geschlossen werden. Der Verteidiger hatte in seinem Schriftsatz vom 6. März 2020 lediglich die Verteidigung des Betroffenen angezeigt und eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung anwaltlich versichert. Hieraus ergibt sich indes nicht die Erklärung, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt ist, denn nach außen-erkennbar ist aufgrund der anwaltlichen Versicherung nur die Bevollmächtigung hinsichtlich der vom Verteidiger vorgenommenen Verteidigungshandlungen, während eine Zustellungsvollmacht passiven Charakter hat (vgl. OLG Gelle a.a.O. Rn. 10). Ebenso verhält es sich, soweit der Verteidiger mit Schriftsatz vom 6. Mai 2020 „namens und in Vollmacht des Betroffenen“ Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hat und er in der Hauptverhandlung — wenn auch ohne nachgewiesene Vertretungsvoll-macht nach § 73 Abs. 3 OWiG — als Vertreter des von der Verpflichtung zum persönlichen Er-scheinen entbundenen Betroffenen aufgetreten ist. Soweit das vom Verteidiger unterzeichnete Empfangsbekenntnis über die Zustellung der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 30. September 2020 den Zusatz: „Ich bin zur Entgegennahme legitimiert und habe heute erhalten° enthielt, reicht diese ausdrückliche Erklärung zwar zum Nachweis einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht aus (vgl. Senat a.a.O.; BayObLG a.a.O.). Diese Erklärung belegt jedoch nicht, dass die Zustellungsvollmacht bereits zum Zeitpunkt der Zustellung des Bußgeldbescheids bestand. Das Empfangsbekenntnis betreffend die Ladung zur-Hauptverhandlung, das zeitlich näher an der Bußgeldentscheidung liegt und denselben Zusatz enthält, ist von vornherein ohne Bedeutung, weil die Ladung an den Verteidiger als solchen gerichtet war, während er die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft als Vertreter des Betroffenen entgegengenommen hat (vgl. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, § 349 Abs. 3 S. 1 StPO).

3. Die Verjährungsfrist war durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 28. April 2020 auch nicht gemäß § 26 Abs. 3 Hs. 2 StVG auf sechs Monate verlängert worden mit der Folge, dass die Verjährung durch den Eingang der Akten beim Amtsgericht (§ 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG) noch rechtzeitig unterbrochen worden wäre. Denn der Eintritt der Verlängerung der Verjährungsfrist setzt voraus, dass der Bußgeldbescheid nicht nur erlassen, sondern auch zugestellt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 1999 — 4 StR 453/99, juris Rn. 10 f. = BGHSt 45, 261 ff.; OLG Bamberg NJW 2006, 1078; Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 33 Rn. 35a m.w.N.).“

Mal wieder eine „schöne“ Antwort auf die Frage, warum man als Verteidiger keine Vollmacht vorlegen soll.

BVerfG II: Rechtliches Gehör/effektiver Rechtsschutz, oder: Wirksamkeit der Zustellung und Pflichtverteidiger

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In der zweiten Entscheidung des Tages behandelt das BVerfG noch einmal den Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiver Rechtsschutz. Zugrunde liegt dem BVerfG, Beschl. v. 05.10.2020 – 2 BvR 554/20 – ein Strafbefehlsverfahren. Das AG hat den Einspruch des Beschuldigten als unzulässig, weil verspätet verworfen. Das beanstandet das BVerFG ebenso wie die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers. Hintergrund/Grundlage der Entscheidung: Es bestanden erhebliche Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Zustellung:

„….dd) Hieran gemessen kann den angegriffenen Entscheidungen nicht entnommen werden, dass sich die Fachgerichte eine ausreichende Überzeugung von der Wirksamkeit der Zustellung verschafft haben. Die Zustellung des Strafbefehls an den Beschwerdeführer erfolgte am 21. September 2019 durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten, weshalb zwar keine Zweifel am Zugang des Schriftstücks als solchem bestanden. Allerdings hätten sich für die Fachgerichte hier infolge des Vortrags des Betreuers und des Verteidigers des Beschwerdeführers sowie aufgrund der Sachverständigengutachten Bedenken an der Wirksamkeit der Zustellung aufdrängen und zu einer Auseinandersetzung hiermit führen müssen.

(1) Das Amtsgericht hat im angegriffenen Beschluss zur Frage der Zustellung lediglich darauf hingewiesen, der Beschwerdeführer habe erst ab dem 16. Oktober 2019 unter Betreuung gestanden. Es hat damit erkennbar ausschließlich darauf abgestellt, dass die Zustellung an den Beschwerdeführer persönlich gerichtet werden konnte, da die Betreuung erst zu einem späteren Zeitpunkt eingerichtet wurde. Mit dem Vorbringen des Verteidigers im Schriftsatz vom 19. November 2019, der Beschwerdeführer sei infolge seiner Erkrankung „nicht prozessfähig“, hat sich das Amtsgericht indes nicht befasst. Der Umstand, dass die Betreuung zwar angeregt, aber durch das Betreuungsgericht noch nicht umgesetzt worden war, war jedenfalls ungeeignet, eine Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Zustellung zu belegen.

Eine Prüfung, ob der Beschwerdeführer am 21. September 2019 in der Lage war, eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung zu treffen und die von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte sachgerecht wahrzunehmen, hat das Amtsgericht Augsburg in seinem Beschluss vom 22. Januar 2020 nicht vorgenommen. Die Schilderung des Verteidigers im Einspruchsschriftsatz und im Sachverständigengutachten vom 4. September 2019, wonach der Beschwerdeführer bei der Exploration für ein Betreuungsverfahren Ende August 2019 in hochgradig psychotischem Zustand infolge einer unbehandelten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis angetroffen worden sei und sich in einem die Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung befunden habe, hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, die Verhandlungsfähigkeit im Zeitpunkt der nur drei Wochen später erfolgten Zustellung zu überprüfen. Hierfür bestand umso mehr Anlass, als der Zustand des Beschwerdeführers Mitte Oktober 2019 nicht nur zur Einrichtung einer Betreuung, sondern auch zu seiner geschlossenen Unterbringung führte. Auch das Sachverständigengutachten stellt plastisch dar, in welchem Zustand sich der Beschwerdeführer in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Zustellungstermin befand. Er war hiernach nicht in der Lage, seine Lebensgrundlagen zu sichern oder auch nur Tätigkeiten wie die Entgegennahme und das Öffnen der Post selbst zu erledigen. Dass der unbehandelte und krankheitsuneinsichtige Beschwerdeführer im September 2019 in der Lage gewesen sein soll, die Bedeutung der Zustellung und des Strafbefehlsverfahrens zu erfassen, Konsequenzen hieraus zu ziehen und – gegebenenfalls unter Rückgriff auf Hilfspersonen – zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, erscheint hiernach unwahrscheinlich. Die geistigen und psychischen Einschränkungen des Beschwerdeführers waren in diesem Zeitpunkt auch nicht durch die Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Hilfen ausgeglichen. Der Beschwerdeführer lebte Ende September 2019 unbetreut in seiner Wohnung. Anwaltlich beraten war er nicht. Daher lagen im vorliegenden Verfahren wesentliche Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Beschwerdeführer die zur Verteidigung erforderlichen Fähigkeiten fehlten, er verhandlungsunfähig und die Zustellung des Strafbefehls damit unwirksam war, sodass die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt werden konnte.

Für eine Verwerfung des Einspruchs als unzulässig, weil verspätet, war hiernach kein Raum. Die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer insofern in seinen grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs.1 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesen Verfassungsverstößen.

(2) Das Landgericht Augsburg hat die Verfassungsverstöße des Amtsgerichts durch seine Beschwerdeentscheidung fortgesetzt. Es hat die Bedeutung der Verhandlungsfähigkeit für die Wirksamkeit der Zustellung verkannt. Das Landgericht hat sich zur Begründung seiner Entscheidung die Ausführungen des Amtsgerichts Augsburg zur Verwerfung des Strafbefehls in seinem Beschluss vom 25. Februar 2020 – ohne weitere Erwägungen – zu eigen gemacht. Auch im Beschluss über die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wird die Wirksamkeit der Zustellung vom Gericht nicht aufgegriffen. Soweit sich das Gericht mit dem Begriff der Verhandlungsfähigkeit befasst, geschieht dies ausschließlich mit Blick auf die für den Wiedereinsetzungsantrag erforderliche unverschuldete Fristversäumung. Eine konkrete Erörterung der individuellen Situation des Beschwerdeführers, die durch das zur Strafakte gelangte psychiatrische Betreuungsgutachten vom 4. September 2019 belegt und im fachgerichtlichen Verfahren vom Verteidiger vorgetragen wurde, hat auch das Landgericht nicht vorgenommen. Die pauschale Einschätzung des Gerichts, wonach der Beschwerdeführer nicht verhandlungsunfähig gewesen sei, erweist sich deshalb als nicht tragfähig und wird den Grundrechten des Beschwerdeführers nicht gerecht.

2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich auch im Hinblick auf die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers als begründet. Die Entscheidungen der Fachgerichte, mit denen eine Bestellung des Bevollmächtigten zum Pflichtverteidiger abgelehnt wurde, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes). Die Gerichte waren hier von Verfassung wegen verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das fachgerichtliche Verfahren einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers (§§ 140 ff. StPO) stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Die Verfassung selbst will sicherstellen, dass der Beschuldigte auf den Gang und das Ergebnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einfluss nehmen kann. Ihm ist von Verfassung wegen jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn es nach der konkreten Fallgestaltung, insbesondere bei Besonderheiten und Schwierigkeiten im persönlichen Bereich, als evident erscheint, dass er sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann (vgl. hierzu BVerfGE 63, 380 <391>; 70, 297 <323>). Dass diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers vorlagen, bedarf nach dem Vorstehenden keiner näheren Erläuterung. Der Beschwerdeführer war infolge seiner Erkrankung im fachgerichtlichen Verfahren ersichtlich nicht in der Lage, die Besonderheiten des Sachverhalts und des Verfahrensgangs zu erfassen und durch geeignetes Vorbringen zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.“