Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch dem OLG nicht

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Ich hatte im September über den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392/23 – berichtet (vgl. hier Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht). Dazu liegt jetzt die Beschwerdeentscheidung vor. Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2023 – 1 Ws 233/23 – die Beschwerde der StA gegen die Aufhebung des haftbefehls verworfen:

„Gemäß § 112 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO darf gegen den Angeschuldigten Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn er dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechts-ordnung schwerwiegend beeinträchtigende dem Katalog zu entnehmende Straftat begangen zu haben und bestimmte Tatsachen, die Gefahr begründen, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde. Gleichzeitig muss die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein.

Die Kammer hat in ihrer Begründung ausgeführt, dass es bereits an einer Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO fehlen dürfte, da § 30 a Abs. 2 BtMG in der abschließenden Aufzählung des Katalogs nicht aufgeführt sei und sich eine Analogie verbiete. Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft unter Benennung der Bundestagsdrucksachen 459/03 vom 2. Juli 2023 und 24/11 vom 18. Januar 2011 eingewandt, dass die Berichtigung der Zitierweise bzw. die Berichtigung eines redaktionellen Versehens bezüglich § 30 a Abs. 2 BtMG bereits angestrebt wurde und vor dem Hintergrund der nachträglichen Einführung und des Wortlautes „ebenso bestraft“ eine Gleichstellung mit § 30 a Abs. 1 BtMG anzunehmen sei.

Ob eine entsprechende Anwendung des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO überhaupt in Betracht käme und der Straftatbestand des § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG bei entsprechender Anwendung eine Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO darstelle, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da jedenfalls, was die Kammer auch erkannt hat, das Grunddelikt des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG im dringenden Tatverdacht impliziert ist.

Der Haftbefehl war allerdings aufzuheben, weil die hier wiederholt begangenen Anlasstaten entgegen der Ausführungen der Staatsanwaltschaft zu keiner schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung geführt haben. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung liegt dann vor, wenn die Anlasstat einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt auf-weist (OLG Hamm, Beschluss vom 1. April 2010 Az.: 3 Ws 161/10) und dadurch geeignet ist, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in Sicherheit und Rechtsfrieden zu beeinträchtigen (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Februar 2010 – III-2 Ws 18/10). Es muss sich daher um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat (BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 Az.: 2 BvL 4/73). Daher kann nicht ausschließlich auf die Straferwartung, welche bei den Katalogtaten des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits die generelle schwerwiegende Natur begründet, abgestellt werden. Vielmehr sind auch die Umstände der Tat im Einzelfall heranzuziehen. Der Haftgrund der Wiederholungs-gefahr dient nicht Sicherung des Strafverfahrens, sondern dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, weswegen das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit dem Freiheitsanspruch des bislang nur Angeschuldigten überwiegen muss.

Dem Angeschuldigten wird mit der vorliegenden Anklage zum einen vorgeworfen, im Schlafzimmer seiner Wohnung in Kiel am 13. Juli 2023 insgesamt 8,21 g Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu den Betäubungsmitteln ein Klappmesser -im Fernseher-regal-, eine Machete -auf dem Kleiderschrank- und ein Baseballschläger -zwischen Kleiderschrank und Regal, in dem ein Großteil des Kokains festgestellt werden konnte -vorgehalten zu haben. Des Weiteren wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, am 2. Juli 2023 einem Abnehmer 0,5 g Kokain verbindlich zum Kauf angeboten und am 5. Juli 2023 Verkaufsverhandlungen über den Erwerb von 100 g Marihuana zum Zweck des Weiterverkaufs geführt zu haben. Die Geschäftsanbahnungen sind jeweils über Chat erfolgt. Jede dieser Taten und insbesondere die Tat am 13. Juli 2023 hat nach außen hin keine Wirkung auf die Bevölkerung entfaltet. Es ist durch sie auch kein Schaden angerichtet worden, der nach Art und Umfang geeignet wäre, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in die Sicherheit und den Rechtsfrieden zu beeinträchtigen. Auch, dass der Angeschuldigte bei Tatbegehung wegen einer gleichartigen Tat unter laufender Bewährung stand, vermag daran nichts zu ändern.

Andere Haftgründe sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.“

Haft I: Haftprüfung beim OLG dauert 5 Monate, oder: Berechtigte Klatsche vom BVerfG für das OLG Frankfurt

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Heute dann noch einmal/schon wieder ein Tag mit Haftentscheidungen, und zwar U-Haft und Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.

An der Spitze steht BVerfG, Beschl. v. 21.09.2023 – 2 BvR 825/23 – zu (zu) langen = überlangen  Dauer des Haftprüfungsverfahrens beim OLG nach den §§ 121, 122 StPO. Das BVerfG sagt: Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO verletzt den Beschuldigten in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Beschuldigten ist ein Wirtschaftsstrafverfahren anhängig. Er befindet sich seit dem 30.06.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das OLG Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten. Die Akten gingen am 28.12. 2022 beim OLG ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 9.1.2023 beantragte der Beschuldigte die Aufhebung des Haftbefehls.

Der Beschuldigte hat dann mit Schreiben vom 29.03.2023 beim OLG um Mitteilung gebeten, bis wann mit einer Entscheidung über die U-Haft zu rechnen sei. Das OLG teilte daraufhin mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.03.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.04.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.

Der Beschuldigte hat am 16.6.02033 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Nichtentscheidung des OLG im Haftprüfungsverfahren eingelegt. Das OLG hat mit Beschluss vom 26.06.2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Beschuldigte hat seine Verfassungsbeschwerde mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts bis zum 26.06.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Und der Antrag hatte Erfolg. Das BVerfG hat die verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die Rechtswidrigkeit der überlangen Haft(fortdauer) festgestellt.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

Zur Zulässigkeit verweist es darauf, dass der zwischenzeitlich – endlich – ergangene Haftfortdauerbeschluss des OLG der Zulässigkeit des Feststellungsantrags, auf den der Beschuldigte inzwischen umgestellt hat, nicht entgegenstehe. Der Beschuldigte habe ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt.

In der Sache sieht das BVerfG in der überlangen Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG Frankfurt am Main den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz habe Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren sei außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext

Und dann geht es zur Sache:

„2. Diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26. Juni 2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat.

a) Das Oberlandesgericht hat dadurch in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28. Dezember 2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das Oberlandesgericht gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschwerdeführers am 9. Januar 2023 vergingen bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Haftfortdauer am 26. Juni 2023 mehr als fünf Monate. § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO sieht demgegenüber vor, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weiter vorliegen, spätestens nach drei Monaten zu wiederholen ist. Zwar ruht gemäß § 121 Abs. 3 StPO der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts, sodass dem Beschwerdeführer formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das Oberlandesgericht durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

b) Die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Bei den in der Antwort auf die Sachstandsanfrage des Beschwerdeführers am 30. März 2023 angeführten und im Aktenvermerk vom 13. April 2023 festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handelt es sich sämtlich um solche, die der Beschwerdeführer nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24. März 2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24. März 2023 bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts am 26. Juni 2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das Oberlandesgericht versäumt, dem Recht des Beschwerdeführers auf Durchführung der besonderen Haftprüfung nach § 122 StPO praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.“

In meinen Augen: Das Verhalten/Vorgehen des 1. Strafsenats des OLG Frankfurt am Main ist Ungeheuerlich und dreist und das Ganze ein Armutszeugnis für die (hessische) Justiz, oder besser für die Strafjustiz beim OLG Frankfaurt am Main.

Denn man mag es nicht glauben, wenn man es liest. Da dauert ein Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO beim OLG Frankfurt am Main mehr als fünf Monate, also fast so lange, wie U-Haft ohne besondere Haftprüfung durch das OLG nach der StPO überhaupt dauern darf. Und das versucht man dann damit zu entschuldigen, dass der Berichterstattet länger erkrankt sein. Dem kann man nur entgegenhalten, was das BVerfG – mit wohl gesetzten Worten – auch tut: Das ist dem Beschuldigten völlig egal und die Justiz hat dafür zu sorgen, dass dann eben Ersatz zur Verfügung steht. Und die Vertreterin des erkrankten Berichterstatters geht dann, nachdem sie nach drei Monaten – da stand im Grunde die 9-Monats-Prüfung schon an (!!) – die Sache endlich übernommen hat, erst mal in Urlaub und schiebt eigene – offenbar wichtigere, vielleicht aber auch noch ältere (?) – Haftsachen vor, die eine zeitnahe – nach drei Monaten? – Bearbeitung nicht möglich machen. Und – zum Glück, ich weiß, das klingt zynisch – gibt es dann noch eine Corona-Erkrankung in der Familie, die man auch vorschieben kann. Erst als dann der Beschuldigte bereits Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, bequemt der Senat sich dann im Juni 2023 endlich zu entscheiden; man hat wegen des zeitlichen Zusammentreffens mit der Verfassungsbeschwerde ein wenig den Eindruck in der Hoffnung, dass das BVerfG die dann als erledigt ansieht. Aber mitnichten. Das BVerfG geht von einem fortdauernden Feststellungsinteresse aus und entscheidet zu Gunsten des Beschuldigten. Und man kann dem Beschluss m.E. deutlich anmerken, dass das Verfassungsgericht „not amused“ ist. Und das mit Recht. Denn das Verhalten und die mehr als zögerliche Bearbeitung des Verfahrens durch das OLG Frankfurt am Main ist – mit Verlaub – dreist und ungeheuerlich, wenn man berücksichtigt, dass es um das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten geht. Bei solchem Verhalten muss man sich über die immer weiter zunehmende mangelnde Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen nicht wundern.

Der Zorn und das Unverständnis richten sich aber nicht nur gegen den lethargischen 1. Strafsenat des OLG Frankfurt am Main, sondern auch gegen die Verwaltung des OLG, die „ihren Laden offenbar nicht im Griff hat“ und auch gegen das hessische Justizministerium, das solche Verfahrensabläufe, wenn man die Vorgaben der StPO ernst nimmt bzw. ernst nehmen würde, zu verhindern hat/hätte. In meinen Augen ein Versagen der Justiz auf ganzer Linie.

Haft III: Überlanger Vollzug von Organisationshaft, oder: Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit

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Und als dritte Entscheidung dann noch der OLG Bremen, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 89/23 – zur Abwägung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit mit dem Freiheitsrechten und Interessen des Verurteilten bei überlanger Organisationshaft.

Dazu hat das OLG Bremen, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 89/23 – in einem umfangreich begründeten Beschluss Stellung genommen, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, und zwar:

  1. Der überlange Vollzug von Organisationshaft zur Vorbereitung des Vollzugs einer angeordneten Maßregel begründet eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Verurteilten.

  2. Ob eine festgestellte Rechtsverletzung durch einen überlangen Vollzug von Organisationshaft zu einer Entlassung aus der Haft zu führen hat, ist anhand einer Abwägung zu beurteilen, für die es maßgeblich ankommt einerseits auf die Gefährlichkeit des Verurteilten und die dadurch tangierten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit sowie andererseits auf Ausmaß und Intensität der Rechtsgutsverletzung durch die verzögerte Sachbehandlung und überlange Dauer der Organisationshaft.

  3. Die zuständige Strafvollstreckungsbehörde hat grundsätzlich bereits ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Verurteilung Bemühungen um die Aufnahme des Verurteilten aus der Organisationshaft in den Maßregelvollzug einzuleiten und es ist nicht das Vorliegen der Akten oder der schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten.

  4. Die Regelung des § 121 StPO hat keine auch nur indizielle Bedeutung für die Frage, ob als Ergebnis dieser Abwägungsentscheidung jedenfalls nach einem sechsmonatigen Vollzug von Organisationshaft eine Entlassung aus der Haft zu erfolgen hat.

Haft II: Langzeitbesuch der Ehefrau im Strafvollzug, oder: Ablehnung wegen drohenden Missbrauchs?

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Als zweite Haft-Entscheidung dann etwas aus dem Vollzugsrecht.

Gestritten wird/wurde um einen Langzeitbesuch der Ehefrau des Verurteilten. Der Verurteilte verbüßte zwei Gesamtfreiheitsstrafen wegen Betruges bzw. wegen versuchter Hehlerei vom 17. März 2020. Die Anstalt hat einen Antrag des Gefangenen auf Gewährung von Langzeitbesuch seiner Ehefrau ab mit dern Begründung abgelehnt, dass der Antragsteller für die Zulassung von Langzeitbesuch nicht geeignet sei. Der Antragsteller unterliege einer Cannabisabhängigkeit i.S.v. ICD-10 F12.2. Daneben bestehe ein gegenwärtig abstinenter Alkoholmissbrauch. Des Weiteren verwies sie auf ein im Jahr 2019 zur Frage der Voraussetzungen nach §§ 20, 21 und 64 StGB eingeholtes psychiatrisches Sachverständigengutachten.

Der dagegen eingelegte Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte bei der StVK keinen Erfolg. Die Rechtsbeschwerde war dann aber beim OLG mit dem OLG Celle, Beschl. v. 19.09.2023 – 1 Ws 228/23 (StrVollz) – erfolgreich:

„…. Denn die Entscheidung der Antragsgegnerin auf Versagung von Vollzugslockerungen war ermessensfehlerhaft.

1. Das Besuchsrecht eines Gefangenen ist in § 25 NJVollzG geregelt. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift darf der Gefangene regelmäßig mindestens zwei Stunden im Monat Besuch empfangen. Darüber hinaus sollen gemäß § 25 Abs. 2 NJVollzG Besuche zugelassen werden, wenn sie die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 NJVollzG fördern oder persönlichen, rechtlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten dienen, die nicht von der oder dem Gefangenen schriftlich erledigt, durch Dritte wahrgenommen oder bis zur Entlassung der oder des Gefangenen aufgeschoben werden können. Gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 NJVollzG können auch mehrstündige unbeaufsichtigte Besuche (Langzeitbesuche) von Angehörigen im Sinne des Strafgesetzbuchs sowie von Personen, die einen günstigen Einfluss erwarten lassen, zugelassen werden, soweit die oder der Gefangene dafür geeignet ist. Wegen des besonderen Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG werden Langzeitbesuche von Angehörigen iSd § 11 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b StGB nicht an die Erwartung eines günstigen Einflusses geknüpft, entscheidend und ausreichend ist insofern allein die Eignung des Gefangenen (vgl. BeckOK Strafvollzug Nds/Reichenbach, 21. Ed. 1.7.2023, NJVollzG § 25 Rn. 13).

Zutreffend hat die Strafvollstreckungskammer darauf abgestellt, dass anders als nach der noch bis zum 1. Juli 2022 geltenden Rechtslage das Ermessen der Vollzugsbehörde bei der Bewilligung von Langezeitbesuchen nicht mehr gebunden war (vgl. zur damaligen Rechtslage OLG Celle, Beschluss vom 11. Juni 2020 – 3 Ws 103/20 (StrVollz) –, juris). Vielmehr wollte der Gesetzgeber durch die Änderung der bisherigen Soll- in eine Kann-Vorschrift eine Besuchsreduzierung bei Langzeitbesuchen erreichen (NdsLT-Drs. 18/11236, 2; BeckOK Strafvollzug Nds/Reichenbach, 21. Ed. 1.7.2023, NJVollzG § 25 Rn. 14.1).

Gemessen daran bestand zwar kein Rechtsanspruch des Gefangenen auf Zulassung zum Langzeitbesuch. Dort, wo eine Justizvollzugsanstalt – wie im vorliegenden Fall – die entsprechenden Räumlichkeiten vorhält und Langzeitbesuche grundsätzlich zulässt, steht die Entscheidung über die Bewilligung im Einzelfall im Ermessen des Anstaltsleiters. Dementsprechend steht dem Gefangenen ein Anspruch auf eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung zu (vgl. OLG Celle Beschl. v. 29.5.2008 – 1 Ws 220/08, BeckRS 2008, 20094, beck-online).

Neben der gegenwärtigen Ausgestaltung des § 25 Abs. 2 NJVollzG als Ermessensvorschrift enthält die gesetzliche Regelung einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraum auf der Tatbestandsseite (Beurteilungsspielraum) zur Frage der grundsätzlichen Eignung des Gefangenen (vgl. Arloth/Kräh StVollzG, § 25 NJVollzG Rn. 1). Hiernach war die Prüfung darauf zu beschränken, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung einen rechtlich zutreffend ausgelegten Rechtsbegriff zugrunde gelegt und ob sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat.

2. Den vorstehenden Rechtsgrundsätzen werden die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und die mündliche Ablehnung der Antragsgegnerin vom 16. März 2023 nicht gerecht. Die dort angeführten Erwägungen tragen die Ablehnung von Langzeitbesuch bereits wegen zu Unrecht festgestellter fehlender Eignung des Antragstellers nicht.

So vermag zwar ein begründeter Verdacht, dass der Besucher und der Gefangene in gemeinsame kriminelle Aktivitäten verstrickt sind oder dass sie – etwa anlässlich von Langzeitbesuchen Rauschmittel konsumieren bzw. diesen unüberwachten Besuch für das Einbringen von verbotenen Substanzen ausnutzen könnten, eine fehlende Geeignetheit zu begründen (vgl. BeckOK Strafvollzug Nds/Reichenbach, 21. Ed. 1.7.2023, NJVollzG § 25

Rn. 9; OLG Hamm NStZ 1995, 380, 381 beck-online). Voraussetzung ist aber stets, dass aufgrund konkreter Tatsachen die Gefahr besteht, dass der Langzeitbesuch zu unerlaubten Absprachen missbraucht wird (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 9. September 2004 – 3 Vollz (Ws) 47/04 –, juris).

An solchen tatsachenfundierten Erkenntnissen fehlte es im zugrundeliegenden Fall jedoch, sodass die Antragsgegnerin die Anforderungen an die Geeignetheit überspannt hat. Vielmehr stützte sich die Entscheidung der Antragsgegnerin allein auf die nicht vollständig aufgearbeitete Suchterkrankung, die mitursächlich für die bisherigen Straftaten des Antragstellers gewesen ist. Anhaltspunkte für einen aktuellen Betäubungsmittelkonsum während der Inhaftierung etwa in Form von positiven Urinkontrollen oder Kontakten zum dortigen Betäubungsmittelumfeld waren nicht zutage getreten. Auch bei den bereits mehrfach erfolgten Besuchskontakten durch die Ehefrau des Antragstellers konnten keinerlei Verstöße festgestellt werden.

Bei der Entscheidung der fehlenden Eignung hat die Antragsgegnerin mithin den straftatursächlichen Faktoren gegenüber seinem bisherigen beanstandungsfreien Verhalten im Vollzug und seiner dortigen Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur nicht widerlegbaren Abstinenz sowie fehlenden Anzeichen für einen aktuellen Suchtdruck mit der möglichen Gefahr einer Einwirkung auf Dritte, insbesondere seine Ehefrau ein zu hohes Gewicht beigemessen. Die Versagung einer Eignung für Langzeitbesuche unter Hinweis auf die noch nicht abgeschlossene Suchtmitteltherapie erweist sich daher unter den gegebenen Umständen als rechtswidrig.“

Haft I: Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Exhibitionistische Handlungen vor Kindern

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute dann Haftentscheidungen.

Ich starte mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 18.04.2023 – 1 Ws 209/23, der leider erst jetzt übersandt worden ist. In der Entscheidung nimmt das OLG zu den Voraussetzungen für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach Vornahme exhibitionistischer Handlungen vor Kindern Stellung. Dazu gibt es bereits OLG-Rechtsprechung, das OLG Bamberg sieht es ein wenig anders als die bisher vorliegenden Entscheidungen:

„2. Bei dem Beschuldigten besteht auch nach Auffassung des Senats der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO.

a) Nach § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO besteht dieser Haftgrund, wenn neben dem dringenden Tatverdacht einer der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO genannten Katalogtaten bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass ein Beschuldigter vor rechtskräftiger Aburteilung weitere Straftaten der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO bezeichneten Art begehen oder solche Straftaten fortsetzen werde und die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 StPO im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, welche kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme präventiv-polizeilicher Natur zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten des Beschuldigten darstellt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfGE 19, 342; 35, 185). Aus verfassungsrechtlichen Gründen sind aber an die Wiederholungsgefahr strenge Anforderungen zu stellen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Vorstrafen des Beschuldigten, die Abstände zwischen den Straftaten, die äußeren Umstände, in denen er sich bei Begehung der Taten befunden hat, seine Persönlichkeitsstruktur und sein soziales Umfeld (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 112a Rn.13 f. m.w.N.). Die insoweit festzustellenden bestimmten Tatsachen müssen eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die Besorgnis begründet ist, er werde weitere gleichartige Taten wie die Anlasstaten vor seiner Verurteilung wegen der Anlasstaten begehen (KK-StPO/Graf112a Rn. 19).

b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Gründe des Haftbefehls des Amtsgerichts vom 26.01.2023, dessen Nichtabhilfeentscheidung mit Beschluss vom 23.02.2023 sowie die Gründe der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts vom 08.03.2023 und dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 28.03.2023 und schließlich auch auf die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg in ihrer Zuschrift vom 03.04.2023. Die Ausführungen der Verteidigung in den Schriftsätzen vom 16.02.2023, 28.02.2023, 16.03.2023 und 11.04.2023 rechtfertigen auch nach Ansicht des Senats keine andere Entscheidung.

Zu Recht haben die Vorinstanzen auf die Vorahndungen des Beschuldigten wegen einer exhibitionistischen Tat am 27.03.2022 und wegen einer exhibitionistischen Tat am 24.04.2022 sowie auf eine weitere exhibitionistische Tat am 10.11.2022 in der […] Therme in S abgestellt. Zur Überzeugung des Senats ist der Beschuldigte aufgrund der polizeilichen Ermittlungen dringend verdächtig, am 10.11.2022 in der […] Therme, nachdem er Blickkontakt mit einer Besucherin aufgenommen hatte, in einer Entfernung ca. 2 m gezielt an seinem entblößten Glied manipuliert zu haben.

Dagegen kann den weiteren im Aktenvermerk des KHK vom 18.01.2023 geschilderten Tatvorwürfen vom 13.10.2022 und 07.11.2022 – jedenfalls derzeit – keine indizielle Bedeutung beigemessen werden, weil die knappen Tatschilderungen keinen Rückschluss auf das Vorhandensein eines dringenden Tatverdachts und damit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Wiederholung der Anlasstaten erlauben.

Bei den Taten vom 27.03.2022, 24.04.2022 und 10.11.2022 handelt es sich zwar jeweils um exhibitionistische Handlungen i.S.v. § 183 StGB und damit nicht um Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, so dass aus ihnen allein nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die erforderliche starke Neigung gezogen werden können. Sie erlauben aber Rückschlüsse auf die Entwicklung des Beschuldigten im Jahr 2022, die in dem dringenden Tatverdacht der Anlasstaten gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB am 21.12.2022 gipfelten. Aus dieser Entwicklung und den Anlasstaten vom 21.12.2022, Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, ergibt sich jedoch zur Überzeugung des Senats die Gefahr, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Taten gegenüber Kindern nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB begehen wird. Denn bereits die erstmalige bzw. sogar einmalige Begehung einer Sexualtat und insbesondere einer Katalogtat deutet bei einem erwachsenen Täter auf einen Persönlichkeitsdefekt hin, der künftige Verfehlungen ähnlicher Art befürchten lässt (KK-StPO/Graf a.a.O. Rn. 7; MüKoStPO/Böhm 2. Aufl. 2023 § 112a Rn. 48).

Dabei ist sich der Senat bewusst, dass dieser Schluss nicht zwingend ist und die Wiederholungsgefahr durch die einmalige Verwirklichung einer Katalogtat nicht immer automatisch indiziert wird, sondern durch hinzutreten weiterer Umstände relativiert sein kann (vgl. z.B. OLG Koblenz BeckRS 2014, 11571; OLG Jena BeckRS 2015, 113; BeckOK-StPO/Krauß [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 112a Rn. 13 m.w.N.). Solche Umstände sind hier nicht ersichtlich. Im Gegenteil deutet die Entwicklung des Beschuldigten im Bereich der Sexualdelikte gerade darauf hin, dass beim ihm ein entsprechender Persönlichkeitsdefekt vorliegt. Zwar ist dem Beschuldigten angesichts der bestehenden Ungenauigkeiten hinsichtlich der Tatörtlichkeit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass er sich bewusst in unmittelbarer Nähe der Schule aufgestellt hat, um die Begegnung mit den Kindern sicherzustellen. Zutreffend hat das Landgericht allerdings darauf hingewiesen, dass die Anlasstaten sich nicht lediglich als zufälliges Ereignis darstellten, zumal der Beschuldigte nach dem Erkennen der Kinder bewusst die Autotür geöffnet und an seinem entblößten Glied manipuliert hat. Selbst wenn das Zusammentreffen mit den Kindern zufallsbedingt erfolgt sein sollte, hat der Beschuldigte gerade durch die Anlasstaten gezeigt, dass sich seine innere Neigung jedenfalls nunmehr auch auf Kinder bezieht. Hinzu kommt, dass auch der Gesetzgeber bei Einführung der Verschärfungen im Sexualstrafrecht davon ausgegangen ist, dass bereits die erstmalige Verwirklichung dieser Delikte aufgrund der damit zum Ausdruck kommenden Persönlichkeitsdisposition der Täter geeignet ist, die hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederholung und Fortsetzung zu bedingen (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52d).

Nach alledem drohen von Seiten des Beschuldigten nach Auffassung des Senats jedenfalls weitere Straftaten nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB und damit gleichartige Taten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO.

c) Diese drohenden Straftaten sind auch erheblich i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO. Zutreffend ist, dass bei Sexualstraftaten der Begriff der erheblichen Straftat und damit der erforderliche Schweregrad über die für den Begriff der sexuellen Handlungen nach § 184h Nr. 2 StGB vorausgesetzte Erheblichkeit hinausgeht. Nach allgemeinen Grundsätzen liegt eine Straftat von erheblicher Bedeutung vor, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen (MüKoStPO/Böhma.O. § 112a Rn. 52a; KK-StPO/Graf a.a.O. § 112a Rn. 18). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Aufgrund der Neufassung des § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB sind die dort geschilderten Handlungen mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren strafbewehrt und damit im Gegensatz zu der früheren Regelung in § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) mit einer Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren nunmehr ohne weiteres als erhebliche Straftaten anzusehen, ohne dass es einer weiteren Begründung bedarf. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage bedarf es einer näheren Begründung nunmehr dann, wenn das Merkmal der Erheblichkeit ausnahmsweise entfällt (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52e und 52f).

d) Vor diesem Hintergrund geht der Hinweis der Verteidigung auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.01.2020 – 2 Ws 1/20 = BeckRS 2020, 1561) fehl. Die Entscheidung des OLG Karlsruhe und vergleichbare Entscheidungen weiterer Gerichte (vgl. z.B. OLG Bremen, Beschl. v. 11.5.2020 – 1 Ws 44/20 = BeckRS 2020, 12058; BGH, Urt. v. 10.01.2019 – 1 StR 463/18 = BeckRS 2019, 2164), die zu der Erkenntnis gelangten, dass exhibitionistische Handlungen vor Kindern nicht stets als erhebliche Straftaten anzusehen seien, ergingen zu § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) und waren ersichtlich dadurch geprägt, dass diese Straftaten aufgrund der geringeren Strafdrohung nicht ohne nähere Begründung als Straftaten der mittleren Kriminalität angesehen werden konnten. Soweit das OLG Karlsruhe (a.a.O.) und ihm folgend das OLG Bremen auf die vorgenannte Entscheidung des BGH (a.a.O.) Bezug nehmen, vermag der Hinweis auch deshalb nicht zu überzeugen, weil es bei der Entscheidung des BGH nicht um die Beurteilung der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ging, sondern um eine Unterbringung nach § 63 StGB und die Frage, ob vom Täter erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Auch wenn dort regelmäßig Taten gefordert werden, die mindestens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen, müssen angesichts des äußerst belastenden Charakters der Maßregel nach § 63 StGB Taten drohen, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (Fischera.O. § 63 Rn. 26, 27). Eine solche Situation ist aber bei der Beurteilung der Frage der Erheblichkeit nach § 112a StPO nicht gegeben. Insbesondere ist bei der Prüfung des § 112a Satz 1 Nr. 1 StPO weder bei der Prüfung der Anlasstaten noch bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr gerade nicht erforderlich, dass eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat vorliegt bzw. droht.

Auch der Hinweis auf § 183 Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2 StGB führt jedenfalls derzeit nicht weiter. Zwar ermöglicht diese Vorschrift eine Strafaussetzung zur Bewährung auch bei einer ungünstigen Prognose und damit bei Wiederholungsgefahr. Voraussetzung dafür ist aber, dass nach einer Heilbehandlung (ggf. auch erst nach längerer Zeit) ein Behandlungserfolg erwartet werden kann. Diese Beurteilung kann regelmäßig erst im Rahmen der Hauptverhandlung nach Durchführung der Beweisaufnahme unter Beteiligung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 StPO erfolgen. Der geltend gemachte Wertungswiderspruch käme allenfalls in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer Bewährungsaussetzung bereits jetzt vorliegen würden. Dies ist allerdings nicht der Fall.

e) Mit zutreffenden Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, ist das Landgericht auch zu dem Ergebnis gelangt, dass vorliegend das Merkmal der Erheblichkeit nicht ausnahmsweise entfällt. Weder ist von einer besonders geringen Intensität künftiger Übergriffe auszugehen noch sind sonstige besondere Umstände ersichtlich. Das Verhalten des Beschuldigten geht auch nach Auffassung des Senats deutlich über das bloße kurze Herzeigen des entblößten Gliedes mit baldigem Entfernen des Täters hinaus. Auch ist das Verhalten nicht mit einem schlichten Onanieren bzw. der Vornahme von Manipulationen am entblößten Glied in Kenntnis des Umstandes, dass dies von einem Kind wahrgenommen wird, vergleichbar. Im Gegenteil, der Beschuldigte hat hier bewusst gewartet, bis die geschädigten Kinder in die Nähe seines Autos gekommen waren und hat diese dann durch das bewusste kurzfristige Öffnen der Fahrertür, in die für sie äußerst unangenehme Situation gebracht. Zu Recht haben sowohl das Amtsgericht als auch die Beschwerdekammer aus der Entwicklung der Sexualstraftaten, wegen denen der Beschuldigte bereits verurteilt wurde, und wegen des gezielten Vorgehens bei den Anlasstaten vom 21.12.2022 den Schluss gezogen, dass der Beschuldigte in Zukunft noch aktiver und mit ähnlichem Ansinnen (Frage nach Oralverkehr bzw. einem „Fick“) auf Kinder zugeht.

Unabhängig davon, dass im Fall des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO im Gegensatz zu den Fällen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO eine konkrete Straferwartung keine Rolle spielt, ergeben sich weder hinsichtlich der Anlasstaten noch hinsichtlich der drohenden Taten Anhaltspunkte, dass das Verhalten eher im untersten Bereich des Strafrahmens anzusiedeln ist.“

Sorry für die Länge, aber die Bayern schreiben nun mal (immer) so viel. 🙂