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Haft II: Langzeitbesuch der Ehefrau im Strafvollzug, oder: Ablehnung wegen drohenden Missbrauchs?

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Als zweite Haft-Entscheidung dann etwas aus dem Vollzugsrecht.

Gestritten wird/wurde um einen Langzeitbesuch der Ehefrau des Verurteilten. Der Verurteilte verbüßte zwei Gesamtfreiheitsstrafen wegen Betruges bzw. wegen versuchter Hehlerei vom 17. März 2020. Die Anstalt hat einen Antrag des Gefangenen auf Gewährung von Langzeitbesuch seiner Ehefrau ab mit dern Begründung abgelehnt, dass der Antragsteller für die Zulassung von Langzeitbesuch nicht geeignet sei. Der Antragsteller unterliege einer Cannabisabhängigkeit i.S.v. ICD-10 F12.2. Daneben bestehe ein gegenwärtig abstinenter Alkoholmissbrauch. Des Weiteren verwies sie auf ein im Jahr 2019 zur Frage der Voraussetzungen nach §§ 20, 21 und 64 StGB eingeholtes psychiatrisches Sachverständigengutachten.

Der dagegen eingelegte Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte bei der StVK keinen Erfolg. Die Rechtsbeschwerde war dann aber beim OLG mit dem OLG Celle, Beschl. v. 19.09.2023 – 1 Ws 228/23 (StrVollz) – erfolgreich:

„…. Denn die Entscheidung der Antragsgegnerin auf Versagung von Vollzugslockerungen war ermessensfehlerhaft.

1. Das Besuchsrecht eines Gefangenen ist in § 25 NJVollzG geregelt. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift darf der Gefangene regelmäßig mindestens zwei Stunden im Monat Besuch empfangen. Darüber hinaus sollen gemäß § 25 Abs. 2 NJVollzG Besuche zugelassen werden, wenn sie die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 NJVollzG fördern oder persönlichen, rechtlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten dienen, die nicht von der oder dem Gefangenen schriftlich erledigt, durch Dritte wahrgenommen oder bis zur Entlassung der oder des Gefangenen aufgeschoben werden können. Gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 NJVollzG können auch mehrstündige unbeaufsichtigte Besuche (Langzeitbesuche) von Angehörigen im Sinne des Strafgesetzbuchs sowie von Personen, die einen günstigen Einfluss erwarten lassen, zugelassen werden, soweit die oder der Gefangene dafür geeignet ist. Wegen des besonderen Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG werden Langzeitbesuche von Angehörigen iSd § 11 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b StGB nicht an die Erwartung eines günstigen Einflusses geknüpft, entscheidend und ausreichend ist insofern allein die Eignung des Gefangenen (vgl. BeckOK Strafvollzug Nds/Reichenbach, 21. Ed. 1.7.2023, NJVollzG § 25 Rn. 13).

Zutreffend hat die Strafvollstreckungskammer darauf abgestellt, dass anders als nach der noch bis zum 1. Juli 2022 geltenden Rechtslage das Ermessen der Vollzugsbehörde bei der Bewilligung von Langezeitbesuchen nicht mehr gebunden war (vgl. zur damaligen Rechtslage OLG Celle, Beschluss vom 11. Juni 2020 – 3 Ws 103/20 (StrVollz) –, juris). Vielmehr wollte der Gesetzgeber durch die Änderung der bisherigen Soll- in eine Kann-Vorschrift eine Besuchsreduzierung bei Langzeitbesuchen erreichen (NdsLT-Drs. 18/11236, 2; BeckOK Strafvollzug Nds/Reichenbach, 21. Ed. 1.7.2023, NJVollzG § 25 Rn. 14.1).

Gemessen daran bestand zwar kein Rechtsanspruch des Gefangenen auf Zulassung zum Langzeitbesuch. Dort, wo eine Justizvollzugsanstalt – wie im vorliegenden Fall – die entsprechenden Räumlichkeiten vorhält und Langzeitbesuche grundsätzlich zulässt, steht die Entscheidung über die Bewilligung im Einzelfall im Ermessen des Anstaltsleiters. Dementsprechend steht dem Gefangenen ein Anspruch auf eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung zu (vgl. OLG Celle Beschl. v. 29.5.2008 – 1 Ws 220/08, BeckRS 2008, 20094, beck-online).

Neben der gegenwärtigen Ausgestaltung des § 25 Abs. 2 NJVollzG als Ermessensvorschrift enthält die gesetzliche Regelung einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Entscheidungsspielraum auf der Tatbestandsseite (Beurteilungsspielraum) zur Frage der grundsätzlichen Eignung des Gefangenen (vgl. Arloth/Kräh StVollzG, § 25 NJVollzG Rn. 1). Hiernach war die Prüfung darauf zu beschränken, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie ihrer Entscheidung einen rechtlich zutreffend ausgelegten Rechtsbegriff zugrunde gelegt und ob sie dabei die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums eingehalten hat.

2. Den vorstehenden Rechtsgrundsätzen werden die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und die mündliche Ablehnung der Antragsgegnerin vom 16. März 2023 nicht gerecht. Die dort angeführten Erwägungen tragen die Ablehnung von Langzeitbesuch bereits wegen zu Unrecht festgestellter fehlender Eignung des Antragstellers nicht.

So vermag zwar ein begründeter Verdacht, dass der Besucher und der Gefangene in gemeinsame kriminelle Aktivitäten verstrickt sind oder dass sie – etwa anlässlich von Langzeitbesuchen Rauschmittel konsumieren bzw. diesen unüberwachten Besuch für das Einbringen von verbotenen Substanzen ausnutzen könnten, eine fehlende Geeignetheit zu begründen (vgl. BeckOK Strafvollzug Nds/Reichenbach, 21. Ed. 1.7.2023, NJVollzG § 25

Rn. 9; OLG Hamm NStZ 1995, 380, 381 beck-online). Voraussetzung ist aber stets, dass aufgrund konkreter Tatsachen die Gefahr besteht, dass der Langzeitbesuch zu unerlaubten Absprachen missbraucht wird (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 9. September 2004 – 3 Vollz (Ws) 47/04 –, juris).

An solchen tatsachenfundierten Erkenntnissen fehlte es im zugrundeliegenden Fall jedoch, sodass die Antragsgegnerin die Anforderungen an die Geeignetheit überspannt hat. Vielmehr stützte sich die Entscheidung der Antragsgegnerin allein auf die nicht vollständig aufgearbeitete Suchterkrankung, die mitursächlich für die bisherigen Straftaten des Antragstellers gewesen ist. Anhaltspunkte für einen aktuellen Betäubungsmittelkonsum während der Inhaftierung etwa in Form von positiven Urinkontrollen oder Kontakten zum dortigen Betäubungsmittelumfeld waren nicht zutage getreten. Auch bei den bereits mehrfach erfolgten Besuchskontakten durch die Ehefrau des Antragstellers konnten keinerlei Verstöße festgestellt werden.

Bei der Entscheidung der fehlenden Eignung hat die Antragsgegnerin mithin den straftatursächlichen Faktoren gegenüber seinem bisherigen beanstandungsfreien Verhalten im Vollzug und seiner dortigen Persönlichkeitsentwicklung bis hin zur nicht widerlegbaren Abstinenz sowie fehlenden Anzeichen für einen aktuellen Suchtdruck mit der möglichen Gefahr einer Einwirkung auf Dritte, insbesondere seine Ehefrau ein zu hohes Gewicht beigemessen. Die Versagung einer Eignung für Langzeitbesuche unter Hinweis auf die noch nicht abgeschlossene Suchtmitteltherapie erweist sich daher unter den gegebenen Umständen als rechtswidrig.“

Haft I: Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Exhibitionistische Handlungen vor Kindern

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute dann Haftentscheidungen.

Ich starte mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 18.04.2023 – 1 Ws 209/23, der leider erst jetzt übersandt worden ist. In der Entscheidung nimmt das OLG zu den Voraussetzungen für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach Vornahme exhibitionistischer Handlungen vor Kindern Stellung. Dazu gibt es bereits OLG-Rechtsprechung, das OLG Bamberg sieht es ein wenig anders als die bisher vorliegenden Entscheidungen:

„2. Bei dem Beschuldigten besteht auch nach Auffassung des Senats der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO.

a) Nach § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO besteht dieser Haftgrund, wenn neben dem dringenden Tatverdacht einer der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO genannten Katalogtaten bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass ein Beschuldigter vor rechtskräftiger Aburteilung weitere Straftaten der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO bezeichneten Art begehen oder solche Straftaten fortsetzen werde und die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 StPO im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, welche kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme präventiv-polizeilicher Natur zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten des Beschuldigten darstellt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfGE 19, 342; 35, 185). Aus verfassungsrechtlichen Gründen sind aber an die Wiederholungsgefahr strenge Anforderungen zu stellen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Vorstrafen des Beschuldigten, die Abstände zwischen den Straftaten, die äußeren Umstände, in denen er sich bei Begehung der Taten befunden hat, seine Persönlichkeitsstruktur und sein soziales Umfeld (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 112a Rn.13 f. m.w.N.). Die insoweit festzustellenden bestimmten Tatsachen müssen eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die Besorgnis begründet ist, er werde weitere gleichartige Taten wie die Anlasstaten vor seiner Verurteilung wegen der Anlasstaten begehen (KK-StPO/Graf112a Rn. 19).

b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Gründe des Haftbefehls des Amtsgerichts vom 26.01.2023, dessen Nichtabhilfeentscheidung mit Beschluss vom 23.02.2023 sowie die Gründe der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts vom 08.03.2023 und dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 28.03.2023 und schließlich auch auf die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg in ihrer Zuschrift vom 03.04.2023. Die Ausführungen der Verteidigung in den Schriftsätzen vom 16.02.2023, 28.02.2023, 16.03.2023 und 11.04.2023 rechtfertigen auch nach Ansicht des Senats keine andere Entscheidung.

Zu Recht haben die Vorinstanzen auf die Vorahndungen des Beschuldigten wegen einer exhibitionistischen Tat am 27.03.2022 und wegen einer exhibitionistischen Tat am 24.04.2022 sowie auf eine weitere exhibitionistische Tat am 10.11.2022 in der […] Therme in S abgestellt. Zur Überzeugung des Senats ist der Beschuldigte aufgrund der polizeilichen Ermittlungen dringend verdächtig, am 10.11.2022 in der […] Therme, nachdem er Blickkontakt mit einer Besucherin aufgenommen hatte, in einer Entfernung ca. 2 m gezielt an seinem entblößten Glied manipuliert zu haben.

Dagegen kann den weiteren im Aktenvermerk des KHK vom 18.01.2023 geschilderten Tatvorwürfen vom 13.10.2022 und 07.11.2022 – jedenfalls derzeit – keine indizielle Bedeutung beigemessen werden, weil die knappen Tatschilderungen keinen Rückschluss auf das Vorhandensein eines dringenden Tatverdachts und damit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Wiederholung der Anlasstaten erlauben.

Bei den Taten vom 27.03.2022, 24.04.2022 und 10.11.2022 handelt es sich zwar jeweils um exhibitionistische Handlungen i.S.v. § 183 StGB und damit nicht um Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, so dass aus ihnen allein nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die erforderliche starke Neigung gezogen werden können. Sie erlauben aber Rückschlüsse auf die Entwicklung des Beschuldigten im Jahr 2022, die in dem dringenden Tatverdacht der Anlasstaten gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB am 21.12.2022 gipfelten. Aus dieser Entwicklung und den Anlasstaten vom 21.12.2022, Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, ergibt sich jedoch zur Überzeugung des Senats die Gefahr, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Taten gegenüber Kindern nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB begehen wird. Denn bereits die erstmalige bzw. sogar einmalige Begehung einer Sexualtat und insbesondere einer Katalogtat deutet bei einem erwachsenen Täter auf einen Persönlichkeitsdefekt hin, der künftige Verfehlungen ähnlicher Art befürchten lässt (KK-StPO/Graf a.a.O. Rn. 7; MüKoStPO/Böhm 2. Aufl. 2023 § 112a Rn. 48).

Dabei ist sich der Senat bewusst, dass dieser Schluss nicht zwingend ist und die Wiederholungsgefahr durch die einmalige Verwirklichung einer Katalogtat nicht immer automatisch indiziert wird, sondern durch hinzutreten weiterer Umstände relativiert sein kann (vgl. z.B. OLG Koblenz BeckRS 2014, 11571; OLG Jena BeckRS 2015, 113; BeckOK-StPO/Krauß [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 112a Rn. 13 m.w.N.). Solche Umstände sind hier nicht ersichtlich. Im Gegenteil deutet die Entwicklung des Beschuldigten im Bereich der Sexualdelikte gerade darauf hin, dass beim ihm ein entsprechender Persönlichkeitsdefekt vorliegt. Zwar ist dem Beschuldigten angesichts der bestehenden Ungenauigkeiten hinsichtlich der Tatörtlichkeit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass er sich bewusst in unmittelbarer Nähe der Schule aufgestellt hat, um die Begegnung mit den Kindern sicherzustellen. Zutreffend hat das Landgericht allerdings darauf hingewiesen, dass die Anlasstaten sich nicht lediglich als zufälliges Ereignis darstellten, zumal der Beschuldigte nach dem Erkennen der Kinder bewusst die Autotür geöffnet und an seinem entblößten Glied manipuliert hat. Selbst wenn das Zusammentreffen mit den Kindern zufallsbedingt erfolgt sein sollte, hat der Beschuldigte gerade durch die Anlasstaten gezeigt, dass sich seine innere Neigung jedenfalls nunmehr auch auf Kinder bezieht. Hinzu kommt, dass auch der Gesetzgeber bei Einführung der Verschärfungen im Sexualstrafrecht davon ausgegangen ist, dass bereits die erstmalige Verwirklichung dieser Delikte aufgrund der damit zum Ausdruck kommenden Persönlichkeitsdisposition der Täter geeignet ist, die hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederholung und Fortsetzung zu bedingen (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52d).

Nach alledem drohen von Seiten des Beschuldigten nach Auffassung des Senats jedenfalls weitere Straftaten nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB und damit gleichartige Taten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO.

c) Diese drohenden Straftaten sind auch erheblich i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO. Zutreffend ist, dass bei Sexualstraftaten der Begriff der erheblichen Straftat und damit der erforderliche Schweregrad über die für den Begriff der sexuellen Handlungen nach § 184h Nr. 2 StGB vorausgesetzte Erheblichkeit hinausgeht. Nach allgemeinen Grundsätzen liegt eine Straftat von erheblicher Bedeutung vor, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen (MüKoStPO/Böhma.O. § 112a Rn. 52a; KK-StPO/Graf a.a.O. § 112a Rn. 18). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Aufgrund der Neufassung des § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB sind die dort geschilderten Handlungen mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren strafbewehrt und damit im Gegensatz zu der früheren Regelung in § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) mit einer Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren nunmehr ohne weiteres als erhebliche Straftaten anzusehen, ohne dass es einer weiteren Begründung bedarf. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage bedarf es einer näheren Begründung nunmehr dann, wenn das Merkmal der Erheblichkeit ausnahmsweise entfällt (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52e und 52f).

d) Vor diesem Hintergrund geht der Hinweis der Verteidigung auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.01.2020 – 2 Ws 1/20 = BeckRS 2020, 1561) fehl. Die Entscheidung des OLG Karlsruhe und vergleichbare Entscheidungen weiterer Gerichte (vgl. z.B. OLG Bremen, Beschl. v. 11.5.2020 – 1 Ws 44/20 = BeckRS 2020, 12058; BGH, Urt. v. 10.01.2019 – 1 StR 463/18 = BeckRS 2019, 2164), die zu der Erkenntnis gelangten, dass exhibitionistische Handlungen vor Kindern nicht stets als erhebliche Straftaten anzusehen seien, ergingen zu § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) und waren ersichtlich dadurch geprägt, dass diese Straftaten aufgrund der geringeren Strafdrohung nicht ohne nähere Begründung als Straftaten der mittleren Kriminalität angesehen werden konnten. Soweit das OLG Karlsruhe (a.a.O.) und ihm folgend das OLG Bremen auf die vorgenannte Entscheidung des BGH (a.a.O.) Bezug nehmen, vermag der Hinweis auch deshalb nicht zu überzeugen, weil es bei der Entscheidung des BGH nicht um die Beurteilung der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ging, sondern um eine Unterbringung nach § 63 StGB und die Frage, ob vom Täter erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Auch wenn dort regelmäßig Taten gefordert werden, die mindestens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen, müssen angesichts des äußerst belastenden Charakters der Maßregel nach § 63 StGB Taten drohen, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (Fischera.O. § 63 Rn. 26, 27). Eine solche Situation ist aber bei der Beurteilung der Frage der Erheblichkeit nach § 112a StPO nicht gegeben. Insbesondere ist bei der Prüfung des § 112a Satz 1 Nr. 1 StPO weder bei der Prüfung der Anlasstaten noch bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr gerade nicht erforderlich, dass eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat vorliegt bzw. droht.

Auch der Hinweis auf § 183 Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2 StGB führt jedenfalls derzeit nicht weiter. Zwar ermöglicht diese Vorschrift eine Strafaussetzung zur Bewährung auch bei einer ungünstigen Prognose und damit bei Wiederholungsgefahr. Voraussetzung dafür ist aber, dass nach einer Heilbehandlung (ggf. auch erst nach längerer Zeit) ein Behandlungserfolg erwartet werden kann. Diese Beurteilung kann regelmäßig erst im Rahmen der Hauptverhandlung nach Durchführung der Beweisaufnahme unter Beteiligung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 StPO erfolgen. Der geltend gemachte Wertungswiderspruch käme allenfalls in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer Bewährungsaussetzung bereits jetzt vorliegen würden. Dies ist allerdings nicht der Fall.

e) Mit zutreffenden Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, ist das Landgericht auch zu dem Ergebnis gelangt, dass vorliegend das Merkmal der Erheblichkeit nicht ausnahmsweise entfällt. Weder ist von einer besonders geringen Intensität künftiger Übergriffe auszugehen noch sind sonstige besondere Umstände ersichtlich. Das Verhalten des Beschuldigten geht auch nach Auffassung des Senats deutlich über das bloße kurze Herzeigen des entblößten Gliedes mit baldigem Entfernen des Täters hinaus. Auch ist das Verhalten nicht mit einem schlichten Onanieren bzw. der Vornahme von Manipulationen am entblößten Glied in Kenntnis des Umstandes, dass dies von einem Kind wahrgenommen wird, vergleichbar. Im Gegenteil, der Beschuldigte hat hier bewusst gewartet, bis die geschädigten Kinder in die Nähe seines Autos gekommen waren und hat diese dann durch das bewusste kurzfristige Öffnen der Fahrertür, in die für sie äußerst unangenehme Situation gebracht. Zu Recht haben sowohl das Amtsgericht als auch die Beschwerdekammer aus der Entwicklung der Sexualstraftaten, wegen denen der Beschuldigte bereits verurteilt wurde, und wegen des gezielten Vorgehens bei den Anlasstaten vom 21.12.2022 den Schluss gezogen, dass der Beschuldigte in Zukunft noch aktiver und mit ähnlichem Ansinnen (Frage nach Oralverkehr bzw. einem „Fick“) auf Kinder zugeht.

Unabhängig davon, dass im Fall des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO im Gegensatz zu den Fällen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO eine konkrete Straferwartung keine Rolle spielt, ergeben sich weder hinsichtlich der Anlasstaten noch hinsichtlich der drohenden Taten Anhaltspunkte, dass das Verhalten eher im untersten Bereich des Strafrahmens anzusiedeln ist.“

Sorry für die Länge, aber die Bayern schreiben nun mal (immer) so viel. 🙂

Haft III: Post zur „Einflussnahme zur Verdunkelung“? oder: Das Recht auf freien Briefverkehr

entnommen wikimedia.org
Urheber Fotografie: Frank C. Müller, Baden-Baden

Und zum Tagesschluss stelle ich dann noch den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.07.2023 – 12 Qs 53/23 – vor. Mal etwas zur Brifekontrolle.

Der Inhaftierte wendet sich gegen das Anhalten und die Beschlagnahme eines Briefs, den er aus der Untersuchungshaft heraus an seine frühere Partnerin aufgegeben hat. U-Haft wird aufgrund eines Haftbefehls vollzogen, in dem dem Inhaftierten vorgeworfen wird gegen seine frühere Partnerin, die Zeugin W, eine gefährliche Körperverletzung, eine sexuelle Nötigung und einen Diebstahl begangen zu haben

Am 24.06.2023 gab der Inhaftierte einen Brief an die Zeugin W zur postalischen Beförderung. Der Brief eröffnet mit „Mein Herz“ und endet „in ewiger Liebe, Dein A“. Zwischen beiden Floskeln bringt der Bf. auf einer Briefseite zum Ausdruck, dass er W vermisse und sie liebe. Er bittet sie, ihn nicht hängen zu lassen, auf ihn zu warten und ihm zu schreiben. Dazwischen berichtet er aus seinem Vollzugsalltag und bittet die Zeugin, „unsere kleine Prinzessin“ (die gemeinsame Tochter) ganz fest von ihm zu drücken.

Der Ermittlungsrichter hat das Schreiben auf Antrag der Staatsanwaltschaft, auf die die Ausführung der Beschränkungsanordnungen übertragen war, angehalten und beschlagnahmte es im Original. Zur Begründung führte er aus, das Schreiben befasse sich „in unzulässiger Weise mit dem Gegenstand des Ermittlungsverfahrens, indem zumindest unterschwellig versucht wird, auf das Aussageverhalten von Zeugen Einfluss zu nehmen. Die Weitergabe des Schreibens könnte das Strafverfahren beeinträchtigen.“

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„Die zulässige Beschwerde ist begründet. Für die Beschlagnahme des Briefs fehlt es an einer Rechtsgrundlage.

1. Das Anhalten und die Beschlagnahme des Briefs kann nicht auf § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, Satz 7 StPO gestützt werden, weil die Voraussetzungen der Norm nicht erfüllt sind.

Hier liegt ein richterlicher Beschränkungsbeschluss nach § 119 StPO vom 24. Mai 2023 vor, in dem die Überwachung des Schriftverkehrs angeordnet wird. In dessen Gründen führt der Ermittlungsrichter aus, es bestehe die Gefahr, dass der Bf. Verdunkelungshandlungen durch die Einwirkung auf Zeugen vornehme. Die Abwehr dieser Gefahr mache es erforderlich, die angeordnete Beschränkung zu treffen. Das steht im Ausgangspunkt im Einklang mit dem begrenzten Regelungsregime des § 119 StPO, das nur solche Maßnahmen abdeckt, die den Zweck der Untersuchungshaft betreffen (Herrmann in SSW-StPO, 5. Aufl., § 119 Rn. 53; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 119 Rn. 1, 19). Zweck der Untersuchungshaft ist die Sicherung des Verfahrens. Auch die Briefkontrolle dient diesem Ziel, insbesondere der Verhinderung von Verdunkelungsmaßnahmen; der Briefverkehr darf zur Sicherung dieses Ziels eingeschränkt werden (BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2003 – 2 BvR 2118/01, juris Rn. 29). Danach ist es möglich, den Brief eines Untersuchungsgefangenen anzuhalten, der explizit oder in seiner Gesamtschau dem Zweck dient, eine Zeugin psychisch derart unter Druck zu setzen, dass sie ihr zukünftiges Aussageverhalten ändert (OLG Jena, Beschluss vom 9. März 2011 – 1 Ws 122/11, juris Rn. 11 f.). Die Kammer vermag, anders als der Ermittlungsrichter, hier allerdings nicht zu erkennen, dass von dem beschlagnahmten Brief ein derart starker Druck oder – hier eher – eine derart starke sentimental-einschmeichelnde Einflussnahme ausgeht, dass die Zeugin ihre Aussage ändern könnte, zumal sie selbst das Bestehen eines Verlöbnisses, und damit das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO, gegenüber der Polizei ausdrücklich verneint hat und sie es selbst in der Hand hat, ob sie seinen Inhalt überhaupt zur Kenntnis nimmt.

Ein Verständnis der Einflussnahme zu Verdunkelungszwecken in derart weitem Sinn, dass bereits eine für sich genommen zivilisierte und unverfängliche Kontaktaufnahme hierunter gefasst wird – die der angegriffene Beschluss selbst hinsichtlich der Einflussintensität lediglich als „zumindest unterschwellig“ bezeichnet –, führte letztlich zu einem weitgehenden Kommunikationsverbot, das in § 119 StPO so nicht angelegt ist und das Recht des Bf. auf freien Briefverkehr (Art. 2 Abs. 1, Art. 10 GG) über Gebühr beeinträchtigt.

2. Das Anhalten des Briefs kann nach Lage der Dinge auch nicht auf Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayUVollzG gestützt werden.

Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayUVollzG bestimmt, dass Schreiben durch die Untersuchungshaftanstalt (vgl. Bratke/Krä in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed. 01.04.2023, BayUVollzG Art. 20 Rn. 2) angehalten werden können, wenn die Weitergabe in Kenntnis ihres Inhalts einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklichen würde. Diese Voraussetzungen hätten hier möglicherweise vorgelegen. Denn die Zeugin W hat am 21. April 2023 beim Amtsgericht Nürnberg gegen den Bf. eine sofort vollziehbare einstweilige Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erwirkt, die bis zum 21. Oktober 2023 befristet ist und die dem Bf. zugestellt wurde. Darin wird dem Bf. in Ziff. 1.4 gem. § 1 GewSchG untersagt, mit der Antragstellerin in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen. Zugleich wird der Bf. in dem Beschluss darauf hingewiesen, dass Verstöße gegen die Schutzanordnungen gem. § 4 GewSchG geahndet werden können. Geht der beschlagnahmte Brief der Zeugin also zu, macht sich der Bf. – bei gegebenem Vorsatz (§ 15 StGB, § 4 Satz 1 Nr. 1 GewSchG) – entsprechend strafbar.

Ob die Gewaltschutzanordnung bei der JVA bekannt war (vgl. Nr. 47 Abs. 2 RiStBV), kann die Kammer nach Aktenlage nicht feststellen. Es kann aber auch dahinstehen, denn hier hat der Brief den Machtbereich der JVA bereits verlassen, sodass ein Anhalten des Schreibens auf der genannten Rechtsgrundlage nicht mehr in Betracht kommt. Der Anwendungsbereich des BayUVollzG ist nämlich auf den Vollzug der Untersuchungshaft beschränkt, der – und soweit er – in den Justizvollzugsanstalten vollzogen wird (vgl. Art. 1 Abs. 2 BayUVollzG), was bedingt, dass die Anhaltekompetenz der Anstalt ein Ende findet, sobald der Brief ihren Bereich verlassen hat.

3. Eine sonstige Rechtsgrundlage für das Anhalten und die Beschlagnahme des Briefs ist nicht erkennbar.

III.

Die Kammer bemerkt ergänzend:

1. Die Beschlagnahme einer Kopie des Briefs zu Beweiszwecken kann nicht erfolgen, weil der Bf. ausweislich seiner Beschwerde ausdrücklich einverstanden ist, dass sein Schreiben kopiert und die Kopie zur Akte genommen wird. Eine Beschlagnahme als hoheitlicher Eingriff ist somit nicht erforderlich und wäre daher unverhältnismäßig. Es kann schlicht eine Kopie zur Akte genommen werden.

2. Die Weiterbeförderung des Briefs durch die Staatsanwaltschaft stellt für sich genommen keine Straftat dar. Tauglicher Täter einer Straftat nach § 4 GewSchG ist nur der in der Gewaltschutzanordnung benannte Antragsgegner, an den die Anordnung zugestellt worden ist (BGH, Beschluss vom 20. Juni 2019 – 5 StR 208/19, juris Rn. 11; Beschluss vom 10. Mai 2012 – 4 StR 122/11, juris Rn. 3).

Es liegt aber auch keine Beihilfe zu einer möglichen künftigen Straftat des Bf. nach § 4 GewSchG vor, die mit Zugang des Briefs bei der Zeugin W vollendet würde. Der Bf. hat als Untersuchungsgefangener grundsätzlich einen grundrechtlich unterlegten Anspruch auf Briefverkehr (BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2003 – 2 BvR 2118/01, juris Rn. 25; vgl. auch Art. 18 Abs. 1 BayUVollzG). Das Recht auf Schriftwechsel stellt die wichtigste Möglichkeit eines Untersuchungsgefangenen dar, seine Kontakte außerhalb der Anstalt auch während der Untersuchungshaft zu pflegen (BayLT-Drs. 16/9082, 24). Die Weiterbeförderung des Briefs durch die Staatsanwaltschaft stellt sich, auch vor diesem grundrechtlichen Hintergrund, ihrem sozialen Sinngehalt nach nicht als aktives Tun, sondern als das Unterlassen des Aufhaltens des Briefs dar. Denn der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit (dazu BayObLG, Urteil vom 25. Februar 2022 – 201 StRR 95/21, juris Rn. 24 m.w.N.; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 13 Rn. 5) läge darin, dass der Staatsanwalt es unterlässt, den Brief, der sich bereits auf dem Weg befindet und dabei auch über seinen Schreibtisch geht, an der Weiterbeförderung zu hindern. Seine Beihilfe wäre demnach eine Beihilfe durch Unterlassen. Diese ist aber nicht strafbar, weil es insoweit an einer Garantenpflicht fehlt. Eine allgemeine Verpflichtung von Amtsträgern, Rechtsgutverletzungen oder Straftaten durch Dritte zu unterbinden, gibt es nicht (Fischer, StGB, 70. Aufl., § 13 Rn. 29; Zaczyk in FS Rudolphi, 2004, S. 361, 368 f.; Rudolphi, JR 1987, 336 ff. und JR 1995, 167, 168). Anders als bei Polizeibeamten, denen im Rahmen der ihnen gesetzlich zugewiesenen Gefahrenabwehr auch die Verhütung von Straftaten obliegt (BGH, Urteil vom 29. Oktober 1992 – 4 StR 358/92, juris Rn. 12 ff.; Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 13 Rn. 52), trifft die im Rahmen der Strafverfolgung tätigen Amtsträger eine solche Garantenpflicht im Grundsatz nicht (vgl. BGH, Urteil vom 7. Februar 2022 – 5 StR 542/20, juris Rn. 118 f.; Urteil vom 15. Mai 2018 – 1 StR 159/17, juris Rn. 138). Erforderlich wäre insoweit eine besondere Pflichtenzuweisung im Rahmen ihres Aufgabenbereichs. Daran fehlt es hier. Selbst die ausdifferenzierte Regelung des Art. 20 Abs. 1 BayUVollzG begründet keine gebundene Entscheidung für das Anhalten eines die Strafbarkeit auslösenden Briefs durch die JVA, sondern gewährt dem Anstaltsleiter insoweit ein Ermessen (Bratke/Krä in BeckOK Strafvollzug Bayern, 18. Ed. 01.04.2023, BayUVollzG Art. 20 Rn. 3). Von einer Garantenstellung würde man hier erst bei einer Ermessensreduzierung auf Null ausgehen können (Gaede in NK-StGB, 6. Aufl., § 13 Rn. 64).“

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht

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Und dann als zweite Entscheidung noch einmal etwas zum Haftbefehl bei einem BtM-Delikt. es handelt sich um den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392723. In dem Verfahren wirft die StA dem Angeschuldigten vor, am 13.07.2023 gegen 15:40 Uhr in seinem Zimmer in einer Wohnung in Kiel insgesamt 8,21 Gramm Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu dem Betäubungsmittel ein Klappmesser, eine Machete und einen Baseballschläger vorgehalten zu haben. Bei dem in der Wohnung aufgefundenen Kokain ergab eine kriminaltechnische Untersuchung einen Wirkstoffgehalt von 92,1 %, sodass ein Nettowirkstoffgehalt von Kokain-Hydrochlorid in Höhe von 7,56 Gramm gegeben ist.

Deswegen ergeht Haftbefehl gegen den Angeschuldigten, und zwar auf der Grundlage des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO erlassen. Das LG hat auf die Beschwerde des Angeschuldigten aufgehoben:

„Nach Abwägung aller Gesichtspunkte durch die Kammer ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 14.07.2023 aufzuheben, da die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht gegeben sind.

Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG keine Katalogtat im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist. In § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO ist eine ab-schließende Aufzählung der in Betracht kommenden Anlasstaten enthalten.

Die Annahme eines redaktionellen Versehens des Gesetzgebers ist aus Sicht der Kammer fernliegend, da die Gesetzeshistorie des § 112a StPO, aber auch des § 112 StPO gegen die Annahme eines solchen redaktionellen Versehens sprechen. Der Gesetzgeber hatte zuletzt 2021 die Gelegenheit — bei Einführung des § 112 Abs. 3 StPO — ein etwaiges Redaktionsversehen zu berichtigen. Darüber hinaus gilt, dass die Annahme eines Redaktionsversehens umso fernliegender erscheint, je länger die Norm in Kraft ist. Bei einer Geltung von über 10 Jahren, ohne dass ein solches Redaktionsversehen überhaupt in der Literatur diskutiert worden ist, scheint die Annahme gerade mit Blick auf die verfassungsrechtlich gebotene enge Auslegung und restriktive Anwendung des § 112a StPO fernliegend (BVerfGE 19, 349). Im Übrigen zeigt auch die Quellenlage der einschlägigen Kommentarliteratur, dass dort keinerlei Nachweise sich finden lassen, dass der Gesetzgeber schlicht übersehen hätte, die Katalogtaten des § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO entsprechend um § 30a Abs. 2 BtMG zu erweitern (vgl. MüKo/StP0-Böhm , 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 21ff. m.w.N.).

Im Übrigen bestehen gegen die Annahme eines reinen Redaktionsversehens und damit einer erweiternden Auslegung der Haftgründe verfassungsrechtliche Bedenken, da die Vorschrift des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dazu dient, präventiv die Wiederholung von Straftaten durch den Beschuldigten zu verhindern, sodass insofern von dem Gesetzgeber in § 112a Abs. 1 Nr. 2 schon nur solche Straftaten in den Katalog aufgenommen worden sind die nicht nur schwerwiegend, sondern auch eine gewisse Wiederholungsneigung haben. Damit stellt § 112a StPO als vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsgemeinschaft eine Ausnahme im System der StPO dar (MüKo/StP0-Böhm , 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 3). Demgemäß kommt vorliegend eine erweiternde Auslegung des Kataloges des § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht in Betracht.

Die damit zugrundeliegende Tat nach § 29a Abs. 1 BtMG ist vorliegend jedoch nicht schwerwiegend im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Die Anlasstat muss eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Tat sein. Die Tat muss einen zumindest überdurchschnittlichen Schweregrad aufweisen, wobei insbesondere der Unrechtsgehalt der Tat zu würdigen ist. Dabei gilt, dass jede einzelne konkrete Tat nach ihrem Erscheinungsbild nicht nur den Katalogstraftatbestand verwirklichen muss, sondern auch schwerwiegend sein muss. Die Prüfung bezieht sich daher nicht auf das verwirklichte Gesamtunrecht, sondern muss bezüglich der jeweiligen Einzeltat vorliegen (OLG Frankfurt/M, StV 2000, 209). Das ist dann der Fall, wenn die Straferwartung und die Tat in ihrer Begehung zumindest der mittleren bis oberen Kriminalität zuzuordnen ist (M/G-Schmitt, 66. Aufl. 2023, § 112a Rn. 9).

Das ist vorliegend bei dem aufgefundenen Betäubungsmittel — 7,56 Gramm netto Kokain-Hydrochlorid — nicht der Fall. Insofern braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob bei der Haftprüfung auch der Aspekt der Waffen Berücksichtigung finden kann. Selbst wenn man unterstellt, dass die Waffen — etwa auf Ebene der Strafzumessung bei der Beurteilung der Tatmodalitäten — Berücksichtigung finden würden (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 20.11.2012 — 1 Ws 604/12 = BeckRS 2012, 24189), wäre die Tat immer noch nicht im mittleren bis oberen Bereich der Kriminalität anzusiedeln, da nicht zu erwarten ist, dass hierdurch die Rechtsordnung erheblich beeinträchtigt wird. Insofern ist der Verteidigung zuzustimmen, wenn der Verteidiger ausführt, dass angesichts der aufgefundenen Menge im ehemaligen Kinderzimmer des Angeschuldigten die Rechtsgemeinschaft nicht maßgeblich in ihrem Gefühl und Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung verkürzt wird.

Der Umstand, dass der Angeschuldigte unter einschlägiger laufender Bewährung steht die gegebenenfalls bei einer Verurteilung widerrufen werden könnten, lässt nicht den Schluss zu, dass die Tat hierdurch schwerwiegend wird (MüKo/StP0-Böhm, 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 40, OLG Hamm StV 2011, 291). Mit Blick auf die gebotene enge Auslegung des § 112a StPO und die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Tat in ihrer konkreten Ausprägung zu bewerten, ist es vorliegend nicht zulässig, die drohende Verbüßung der zur Bewährung ausgesetzten Strafe heranzuziehen, um die schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung zu begründen. Selbst wenn man unterstellt, dass die laufenden Bewährungsstrafen widerrufen würden, wäre vorliegend unter Berücksichtigung des minder schweren Falles nach § 30a Abs. 3 BtMG und der nach der Rechtsprechung geltenden Sperrwirkung des § 29a BtMG, welche nur noch eine Strafrahmenuntergrenze nach unten bewirkt (BGH 3 Str 469/19) nicht zu erwarten, dass eine Strafe im mittleren bis oberen Bereich aus-geurteilt werden würde. Hiergegen spricht maßgeblich die aufgefundene Menge, die Abfüllung in Konsumeinheiten und die räumliche Situation des Fundortes in geordneten Wohnverhältnissen im ehemaligen Kinderzimmer des Angeschuldigten.

Die aufgeworfenen Verhältnismäßigkeitserwägungen tragen den Erlass eines Haftbefehls nach § 112a StPO nicht. Die Untersuchungshaft nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dient präventiv der Verhinderung weiterer erheblicher Straftaten des Angeschuldigten. Insofern geht es — wie die Verteidigung zutreffend anmerkt — nicht um Verfahrens- oder Vollstreckungssicherung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Haftgrund nach § 112a StPO hätte erwogen werden müssen, ob die verhängte Untersuchungshaft zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis steht.“

Haft I: Haftbefehl wegen bandenmäßigem BtM-Handel, oder: Abwägung aller Umstände erforderlich

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute drei Entscheidungen aus dem U-Haft-Bereich.

Ich starte mit dem OLG Celle, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 248/23 – zur Fluchtgefahr in einem BtM-Verfahren. Dem Angeschuldigten wird bandenmäßiger Handel unter Nutzung eines kryptierten Mobiltelefons der Firma EncroChat vorgeworfen. Konkret soll er an vier unterschiedlichen Tagen im April 2020 an einen gesondert Verfolgten Zeugen auf einem Parkplatz in I. S. zuvor vereinbarte Betäubungsmittelmengen gegen Bezahlung übergeben haben. Bei den Betäubungsmitteln soll es sich überwiegend um Marihuana im Bereich zwischen zwei und zehn Kilogramm zu einem Verkaufspreis von 4.800 EUR bis 5.400 EUR pro Kilo gehandelt haben. Des Weiteren sollen zwischen 200 g und 350 g Kokain zu 39 EUR pro Gramm und halluzinogene Pilze sowie LSD durch den Angeschuldigten übergeben worden sein. Insgesamt habe er dadurch einen Verkaufserlös von 115.510 EUR erlangt, wobei der weitere Verbleib des Geldes ungeklärt sei.

Deswegen ergeht gegen ihn ein auf Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl, gegen den Haftbeschwerde eingelegt wird. Die hat beim OLG Erfolg:

„Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg……

2. Ungeachtet dessen liegt jedenfalls keine Fluchtgefahr (112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor.

a) Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. (Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe) – dem Strafverfahren entziehen.

Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Vielmehr können die zu erwartenden Rechtsfolgen allein eine Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen. Denn sie sind lediglich der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 112 Rn. 52; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 112 Rn. 23 m.w.N.).

Mithin sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegen diejenigen Tatsachen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen.

Dabei geht die Kammer grundsätzlich zutreffend davon aus, dass je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein müssen. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind unter anderem die Persönlichkeit, die persönlichen Verhältnisse und das Vorleben des Beschuldigten, die Art und Schwere der ihm vorgeworfenen Tat, das Verhalten des Beschuldigten im bisherigen Ermittlungsverfahren wie auch in früheren Strafverfahren, drohende negative finanzielle oder soziale Folgen der vorgeworfenen Tat, aber auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen und die Natur des verfahrensgegenständlichen Tatvorwurfs, soweit diese Rückschlüsse auf das Verhalten des Beschuldigten nahe legt – etwa bei Taten mit regelmäßigen Auslandskontakten oder in Fällen organisierter Kriminalität – zu berücksichtigen (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 112 Rn. 50 m.w.N.).

b) Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs vermag der Senat vorliegend auch in Ansehung der von der Strafkammer hervorgehobenen und für eine Fluchtgefahr sprechenden Umstände – insbesondere die hohe Straferwartung aufgrund der Schwere der zur Last gelegten Taten – ein deutliches Überwiegen der für eine mögliche Flucht des Angeklagten sprechenden Gründe nicht zu erkennen.

So hatte der 32-jährige, bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretene Beschwerdeführer ausweislich der bisherigen Ermittlungsergebnisse ungeachtet seiner zwischenzeitlichen Einbindung in ein kriminelles Betäubungsmittelumfeld seinen Lebensmittelpunkt stets im Bereich K./S. und ist dort offenbar fest verwurzelt. Anhaltspunkte für soziale Bindungen außerhalb seines unmittelbaren Wohnumfeldes, insbesondere Auslandsbeziehungen sind nicht ersichtlich.

Ausweislich des bereits erwähnten Abschlussberichts sprechen die verfahrensgegenständlichen verdeckt geführten Maßnahmen dafür, dass der Beschwerdeführer nach Begehung der angeklagten Taten nicht weiter in den Betäubungsmittelhandel involviert war und sich aus unbekannten Gründen aus diesem zurückgezogen hatte.

Hinzu kommt, dass die vorgeworfenen Taten bereits geraume Zeit zurückliegen und „nur“ einen Zeitraum von einem knappen Monat umfassten. Auch die Nähe des Übergabeortes zum Wohnort des Beschwerdeführers spricht für eine eher lokale Einbindung und gegen weitreichende Kontakte zu einem überörtlichen Betäubungsmittelumfeld.

Die Bekundung des Zeugen H., wonach dem Beschwerdeführer eine hervorgehobene Rolle zugekommen sein soll, beruht allein auf dem Umstand, dass der Beschwerdeführer in den überwiegenden Fällen der vom Zeugen durchgeführten Betäubungsmittelankäufe zugegen gewesen sein soll.

Gegen eine Fluchtgefahr spricht aus Sicht des Senats ferner das bisherige Verhalten im Ermittlungsverfahren. So sind dem Verteidiger des Beschwerdeführers Ende des Jahres 2022 die Ermittlungsakten des zugrundeliegenden Verfahrens als auch des Parallelverfahrens 131 Js 18075/21 übermittelt worden. Trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Akte niedergelegten umfangreichen Ermittlungsergebnisse, insbesondere der Angaben des Zeugen H. im Rahmen seiner Vernehmung vom 24. August 2022, hat der Beschwerdeführer sich weiter an seiner Wohnanschrift aufgehalten, ohne dass Anhaltspunkte für die Vorbereitung einer Flucht zutage getreten sind.

Darüber hinaus war zu beachten, dass der Angeschuldigte über stabile familiäre Bindungen verfügt. Der Angeschuldigte lebt eigenen Angaben zufolge, die mit den diesbezüglichen Ermittlungsergebnissen übereinstimmen, seit dem 4. September 2020 in ehelicher Lebensgemeinschaft, aus welcher eine inzwischen jetzt zwei Monate alte Tochter hervorgegangen ist. Im Rahmen der Durchsuchung ist zudem bestätigt worden, dass der Beschwerdeführer über einen Handwerksbetrieb als Bautischler bzw. –schlosser verfügt.

Soweit die Kammer als Beleg für eine Fluchtgefahr erhebliche Mittel aus den Betäubungsmittelgeschäften und seines Handwerksbetriebs anführt, fehlt es an entsprechenden belastbaren Nachweisen.

Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der ihm vorgeworfenen Taten Verkaufserlöse entgegengenommen haben soll, lässt noch nicht darauf schließen, dass und in welcher Höhe ihm auch ein Gewinn zugeflossen und noch vorhanden ist, zumal die Taten auch schon geraume Zeit zurückliegen. Die Ergebnisse der bei ihm durchgeführten Durchsuchung seiner Wohn- und Betriebsanschrift sprechen eher dafür, dass der Beschwerdeführer aktuell gerade nicht (mehr) über ein erhebliches Vermögen zu verfügen scheint, welches er für die Durchführung einer Flucht einsetzen könnte. Ausweislich des Abschlussberichts verfügt der Beschwerdeführer in Niedersachsen über kein Grundeigentum. Auch die Größe seines Betriebs spricht eher gegen eine erhebliche Einnahmequelle und daraus resultierendes Vermögen.

Bei dieser Sachlage fehlt es nach Auffassung des Senats an zureichenden Anhaltspunkten für die Annahme von Fluchtgefahr. Die Straferwartung allein rechtfertigt eine solche Annahme nicht. Da auch kein anderer Haftgrund ersichtlich ist, war der Haftbefehl des Landgerichts Stade vom 2. August 2023 aufzuheben.“