Archiv für den Monat: Juni 2023

Pflichti II: Pflichtverteidiger im Bußgeldverfahren, oder: Rückwirkende Bestellung bei Haft des Betroffenen

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Die nächste Entscheidung, die ich vorstelle, ist der LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.03.2023 – 5 Qs 9/23. Die hätte heute Morgen auch zu den Beiordnungsgründen gepasst, aber ich will sie als „Solitär“ vorstellen, da es um eine rückwirkende Bestellung im Bußgeldverfahren geht.

Das AG hatte die Bestellung abgelehnt, die Beschwerde hat dann beim LG Erfolg:

„b) Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) über § 46 Abs. 1 OWiG auch im gerichtlichen Verfahren Bußgeldverfahren anwendbar sind. Für das behördliche Verfahren trifft § 60 OWiG eine abweichende Regelung, doch war dieses vorliegend bereits abgeschlossen und das Amtsgericht mit dem Verfahren betraut. Die Tatbestände des § 140 Abs. 1 StPO sind hier somit anzuwenden (vgl. KK-OWiG/Kurz, 5. Aufl., § 60 Rn. 26; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl., § 46 Rn. 40).

Bei Antragsstellung lag ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Auch wenn – wie im vorliegenden Fall – Haft in einer anderen Sache vollstreckt wird, liegt nach zutreffender Ansicht ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22.04.2010 – 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19; LG Mainz, Beschluss vom 11.10.2022 – 1 Qs 39/22, BeckRS 2022, 27767; LG Köln, Beschluss vom 28.12.2010 – 105 Qs 342/10, BeckRS 2011, 25712; BeckOK StPO/Krawczyk, 44. Ed. 1.7.2022, StPO § 140 Rn. 12; a.A.: LG Dresden, Beschluss vom 23.05.2018 – 14 Qs 16/18, BeckRS 2018, 13746; LG Osnabrück, Beschluss vom 06.06.2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), BeckRS 2016, 13008). Weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch Art. 4 Abs. 4 der EU-Richtlinie 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, auf der die Neuregelung der StPO-Normen zu dem Pflichtverteidiger basieren, differenziert danach, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sondern bejaht die notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung. Die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bezweckt es, solche Nachteile zu kompensieren, die der Beschuldigte aufgrund eingeschränkter Freiheit und der damit einhergehenden eingeschränkten Möglichkeit, seine Verteidigung vorzubereiten, erleidet (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 140 Rn. 19). Derartige Nachteile entstehen bei jeder Inhaftierung.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist möglich. Der Antrag auf die Beiordnung des Verteidigers wurde bereits am 30.08.2022, vor Einstellung des Verfahrens am 02.01.2023, gestellt. Während bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung am 10.12.2019 eine Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Verfahrensabschluss bzw. Einstellung des Verfahrens teilweise noch abgelehnt wurde, ist dieser Auffassung nach der Reform der §§ 141, 142 StPO nicht mehr zu folgen (OLG Nürnberg Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193; BeckOK StPO/Krawczyk, 46. Ed. 1.1.2023, § 142 Rn. 30; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 142 Rn. 14; a.A.: OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268). Jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt wurde und die Entscheidung alleine aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der Betroffene keinen Einfluss hatte, führt die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung nicht dazu, dass die Verteidigerbeiordnung unzulässig wird (OLG Bamberg Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711; OLG Nürnberg Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193). So liegt der Fall hier.

Zum Zeitpunkt der Antragsstellung war der Verfahrensausgang für den Betroffenen noch nicht absehbar, die Bestellung war zur Vorbereitung einer etwaigen Hauptverhandlung erforderlich (KK-OWiG/Kurz, 5. Aufl., § 60 Rn. 28).“

Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

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Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

StPO III: Einseitiger Widerruf der Zustellungsvollmacht, oder: Geht das?

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Und dann noch zum Schluss hier noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 24.05.2023 – 12 Qs 38/23. In ihm hat das LG zur (weiteren) Wirksamkeit einer nach § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO erteilte Zustellungsvollmacht Stellung genommen.

Der einer Körperverletzung verdächtige Beschuldigte wurde am 01.02.2022 von der Polizei zur Sache vernommen. Weil er keine feste Wohnadresse im Inland angeben konnte, ordnete der zuständige Staatsanwalt an, der Beschuldigte solle einen Zustellungsbevollmächtigten benennen. Daraufhin unterschrieb der Beschuldigte ein Formular, in dem er dem Polizeibeamten POM S von der Polizeiinspektion F „unwiderruflich … Vollmacht zum Empfang sämtlicher gerichtlicher Mitteilungen, Zustellungen und Ladungen“ erteilte. Auf dem Formular finden sich oberhalb der Unterschrift des Beschuldigten die von ihm handgeschriebenen, durchgestrichenen Worte „unter Vorbehalt“. Am 02.02.2022 ging ein Fax des Beschuldigten bei der Polizeiinspektion F ein. Dieses bestand aus seiner Kopie des Formulars, auf das er – mit seiner Unterschrift versehen – geschrieben hatte: „Hiermit widerrufe ich die Zustellvollmacht“.

Am 01.02.2022 erließ das AG einen Strafbefehl gegen den Beschuldigten. Dieser wurde vom Postboten am 06.09.2022 in der Polizeiinspektion F übergeben. Nach Anbringung des Rechtskraftvermerks leitete die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung ein.

Am 22.02.2023 wurde der Beschuldigte am Flughafen Berlin bei der Ausreise kontrolliert und aufgrund des zwischenzeitlich erlassenen Vollstreckungshaftbefehls angehalten. Nach Zahlung der Geldstrafe konnte er seinen Flug antreten. Am 01.03.2023 ging beim AG der Einspruch der Verteidigerin gegen den Strafbefehl samt Wiedereinsetzungsantrag ein. Der Beschuldigte habe, so die Begründung, von dem gegen ihn erlassenen Strafbefehl keine Kenntnis gehabt dieser sei nicht wirksam zugestellt worden. Das AG hat Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag verworfen. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Beschuldigten. Ohne Erfolg:

„1. Der Strafbefehl wurde am 6. September 2022 wirksam an den Zustellungsbevollmächtigten zugestellt, sodass die Einspruchsfrist zwei Wochen später ablief. Demgemäß hat das Amtsgericht den Einspruch zutreffend als verfristet verworfen.

a) Der Beschuldigte hat – nach entsprechender Anordnung (§ 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 StPO) – POM S wirksam zur Entgegennahme von Zustellungen bevollmächtigt. Unschädlich ist, dass er dabei auf dem Vollmachtformular die Worte „unter Vorbehalt“ angebracht hat. Selbst wenn man der Verteidigung darin folgt, dass diese Bemerkung vom Beschuldigten nicht durchgestrichen, sondern unterstrichen worden sei, entfaltet sie keine Rechtswirkungen, weil Aussage und Gehalt des Vorbehalts unklar blieben und der Vorbehalt angesichts der Unterzeichnung der Vollmacht nach Lage der Dinge ohnehin eine unbeachtliche protestatio facto contraria darstellte.

b) Die Zustellungsvollmacht wurde nicht wirksam widerrufen. Vor Abschluss des Verfahrens kann diese vom Vollmachtgeber nämlich nicht einseitig zum Erlöschen gebracht werden (KG, Beschluss vom 19. September 2011 -1 Ss 361/11, juris Rn. 7; OLG Koblenz, Beschluss vom 1. Juni 2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373, 375; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Juli 1986 – 5 Ss [OWi] 237/86-197/86 I, VRS 71, 369, 370; Claus in SSW-StPO, 5. Aufl., § 37 Rn. 43; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 116a Rn. 6; Lind in LR-StPO, 27. Aufl., § 116a Rn. 29; Graf in KK-StPO, 9. Aufl., § 116a Rn. 9). Der abweichenden Auffassung, die Zustellungsvollmacht bleibe gegenüber dem Gericht (nur) so lange wirksam, bis ihm deren Erlöschen angezeigt worden ist (Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 6), folgt die Kammer nicht. Zwar hat diese Auffassung die Wertung des § 170 BGB für sich, allerdings wird diese dadurch überlagert, dass die Erteilung der Zustellungsvollmacht der Durchführung eines hoheitlichen Verfahrens dient, was leerliefe, wäre die Vollmacht widerruflich.

c) Die Zustellung konnte wirksam in der Dienststelle des Bevollmächtigten ausgeführt werden, denn bei dieser handelt es sich um dessen Geschäftsraum i.S.d. § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO (vgl. Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 71; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 37 Rn. 13). Daher konnte ein an ihn gerichtetes Schriftstück bei Nichtantreffen des Bevollmächtigten an eine dort beschäftigte Person übergeben werden. So war das hier, als der Postbote den Strafbefehl an D aushändigte. Zu Unrecht beruft sich die Verteidigung in dem Zusammenhang auf den Beschluss der Kammer vom 23. August 2021 (12 Qs 57/21, juris). Dort scheiterte die Zustellung daran, dass der benannte Bevollmächtigte bei Zugang des Schriftstücks bereits aus dem Polizeidienst ausgeschieden und sein Nachfolger nicht bevollmächtigt war. Hier geht es dagegen lediglich darum, dass der Bevollmächtigte bei Eintreffen des Postboten gerade nicht auf der Wache anwesend war und deshalb eine Ersatzzustellung vorgenommen wurde.

d) Nach allem wahrte der Einspruch vom 1. März 2023 die zweiwöchige Einlegungsfrist (§ 410 Abs. 1 Satz 1 StPO) nicht, sodass er zu verwerfen war (§ 411 Abs. 1 Satz 1 StPO).

2. Zu Recht hat das Amtsgericht dem Beschuldigten keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gewährt, denn er hat die Frist nicht ohne Verschulden versäumt.

a) Dem Angeklagten obliegt nach der Erteilung der Zustellungsvollmacht, selbst dafür zu sorgen, dass der Bevollmächtigte ihn zuverlässig unterrichten kann. Gegebenenfalls muss er sich beim Bevollmächtigten über den etwaigen Eingang von Schriftstücken informieren (Kammer, Beschluss vom 23. August 2021 – 12 Qs 57/21, juris Rn. 10 m.w.N.). Das hat der Beschuldigte unterlassen. Auf fehlendes Verschulden (§ 44 Satz 1 StPO) kann er sich dabei nicht berufen. Am 1. Februar 2022 hat nämlich eine körperliche Auseinandersetzung des Beschuldigten mit dem Zeugen K stattgefunden, die bei letzterem nicht unerhebliche Verletzungen zur Folge hatte. Der Beschuldigte wurde daraufhin von der Polizei als Beschuldigter belehrt und vernommen, wobei er behauptete, selbst angegriffen worden zu sein. Damit war ihm jedenfalls klar, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden ist. In dieser Situation oblag es ihm, sich nach dessen Fortgang zu erkundigen. Er konnte nicht darauf vertrauen, dass seine – auch von der Verteidigerin vorgetragene – Sichtweise, er habe in Notwehr gehandelt und sei deshalb unschuldig, sich im Verfahrensfortgang durchsetzt, weshalb er auch keinen amtlichen Schriftverkehr zu erwarten hätte. Im Gegenteil, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht haben den Akteninhalt gegen den Beschuldigten gewertet, weshalb der hier angegriffene Strafbefehl erging.

b) Schuldhaft, weil durch schutzwürdiges Vertrauen nicht gedeckt, meinte der Beschuldigte, es werde deshalb keine Post für ihn beim Bevollmächtigten eingehen, weil er die Zustellungsvollmacht widerrufen habe. Gegen das Vertrauen auf die Wirksamkeit seines Widerrufs spricht allerdings schon, dass er die Vollmacht ausdrücklich unwiderruflich erteilt hat und dies auch aus der ihm mitgegebenen Kopie des Formulars, die er für den Widerruf nutzte, ersichtlich war.

c) Schließlich durfte der Beschuldigte nicht darauf vertrauen, er müsse deshalb mit keiner Zustellung rechnen, weil er die Zustellungsvollmacht „unter Vorbehalt“ unterschrieben habe. Unbeschadet der rechtlichen Unbestimmtheit dessen wurde der Beschuldigte nach dem glaubhaften und unwidersprochen gebliebenen Vermerk der polizeilichen Sachbearbeiterin POM´in B ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein solcher Zusatz „nicht geht“, woraufhin der Beschuldigte ihn selbst durchgestrichen habe. Das ist in sich schlüssig. Demgegenüber ist die Behauptung des Beschuldigten, bei dem Strich handele es sich um eine (bekräftigende) Unterstreichung, schon deshalb unplausibel, weil der Strich die Buchstaben augenscheinlich nicht unter-, sondern durchstreicht.

d) Darauf, dass die Ausführungen der Verteidigerin keinerlei Glaubhaftmachung (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO) zur Stützung des Wiedereinsetzungsantrags enthielten, kam es nach alldem nicht mehr an.“

StPO II: Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses, oder: Name des Angeklagten und Aktenzeichen fehlen

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Celle, Beschl. v. 31.01.2023 – 3 Ss 3/23, nimmt das OLG in einem Verfahren wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte u.a. zur Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses des AG und damit zur Verfahrensgrundlage Stellung. Es sieht die insoweit erhobenen Angriffe der Revision als nicht begründet an:

„1. Soweit die Revision die Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses bezweifelt, weil der hierzu verwendete Vordruck nicht vollständig ausgefüllt worden ist, liegt ein Verfahrenshindernis, das zur Aufhebung des Urteils und zur Einstellung des Verfahrens nach § 206a StPO führt, nicht vor.

Die Revision macht jedoch im Ansatz zutreffend geltend, dass das den Eröffnungsbeschluss enthaltende Schriftstück aus sich heraus oder in Verbindung mit anderen Urkunden oder Aktenbestandteilen eindeutig erkennen lassen muss, dass der zuständige Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens tatsächlich beschlossen hat. Hierfür ist die Verwendung von Vordrucken grundsätzlich zulässig. Sie müssen aber eindeutig abgefasst sein; bei einem unvollständig ausgefüllten Vordruck ist der Eröffnungsbeschluss nur dann ordnungsmäßig erlassen, wenn sich die fehlenden Teile aus den ausgefüllten Teilen des Vordruckes, auch z.B. aus einer evtl. anschließenden Terminsverfügung, unzweideutig ergänzen lassen (OLG Hamm, Beschluss vom 11. August 2016 – III-1 RVs 55/16 –, juris). Ein ausgefüllter Vordruck, bei dem weder die Anklage konkretisiert noch der Angeschuldigte bezeichnet ist, enthält in der Regel keinen wirksamen Eröffnungsbeschluss (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16. Januar 2012 – 1 Ss 59/11 –, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 4. März 2009 – 1 Ss 13/09 –, juris). Ein wirksamer Eröffnungsbeschluss liegt nach der Rechtsprechung jedoch vor, wenn dieser den Namen des Angeklagten sowie – mit der Bezeichnung der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft sowie des Js-Aktenzeichens – eine ausreichende Bezeichnung der Anklage enthält, so dass deutlich geworden ist, in welchem Verfahren die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet werden soll (BGH, Beschluss vom 17. September 2019 – 3 StR 229/19 –, juris).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist vorliegend ein wirksamer Eröffnungsbeschluss gegeben, denn der ausgefüllte und von der Amtsrichterin unterschriebene Vordruck bezeichnet die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft, deren Aktenzeichen und das Datum der Anklageschrift. Der Umstand, dass es im ausgefüllten Vordruck lediglich („In pp.“) heißt und diesem der Name des damaligen Angeschuldigten nicht zu entnehmen ist, führt vorliegend nicht zu einer anderen Bewertung. Denn in Fällen, bei denen sich das Verfahren – wie hier – nur gegen einen einzigen Angeklagten richtet und sich aus einer zugleich unterschriebenen Terminsverfügung eindeutig der Wille des Gerichts ergibt, das Hauptverfahren nach Prüfung der Eröffnungsvoraussetzungen gegen diesen Angeklagten eröffnen zu wollen, ist die namentliche Bezeichnung des Angeklagten ausnahmsweise entbehrlich.“

Na ja. Das Strafverfahren als Puzzle. Und: Auch, wenn der Amtsrichter überlastet sein sollte, für eine ordnungsgemäße Verfahrensgrundlage sollte die Zeit reichen.

Die Unvollständigkeit des EÖB muss übrigens nicht ausdrücklich gerügt werden. Dessen Vollständigkeit/Wirksamkeit wird vom Revisionsgericht von Amts wegen geprüft. Aber „erinnern“ kann man natürlich 🙂 .

Wegen der anderen vom OLG angesprochenen Frage – Bemessung des Tagessatzes – komme ich noch einmal auf die Entscheidung zurück.

StPO I: Verlesung von Observationsberichten, oder: Muss ein individueller Urheber erkennbar sein?

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Heute dann ein Tag mit StPO-Entscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BGH, Beschl. v. 04.0.42023 – 3 StR 68/22. Das OLG München hatte die Angeklagten wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland schuldig gesprochen. Dagegen die Revisionen, mit denen die Sach- und Verfahrensrüge erhoben worden ist. Die Revisionen hatten keinen Erfolg. ich stelle hier nur die Ausführungen des BGH zur Verfahrensrüge vor. Mit denen hatte die Angeklagten die auf § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO gestützte Verlesungen von „Observationsberichten, Vermerken und Lichtbildmappen“ beanstandet: Wie gesagt – ohne Erfolg:

„a) Ihnen liegt im Wesentlichen das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde:

Auf Anordnung des Vorsitzenden wurden unter anderem zwölf Observationsberichte als Urkunden zur Beweiserhebung in der Hauptverhandlung verlesen. Zehn Berichte weisen als Urheber eine näher bezeichnete Stelle des Bundeskriminalamtes unter Hinzufügung einer Tagebuchnummer aus, zwei weitere die „Polizeiinspektion Spezialeinheiten N. MEK“. Den Berichten des Bundeskriminalamtes sind in den Strafakten individuell unterzeichnete Vorblätter vorangestellt. Die Verteidiger widersprachen der Erhebung und Verwertung der Urkunden als Beweismittel insbesondere mit der Begründung, zu dem oder den Verfassern der Berichte fänden sich dort keine Angaben. Das Oberlandesgericht führte in mehreren Beschlüssen aus, nach dem Wortlaut des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO genüge es, wenn aus der Urkunde ersichtlich werde, von welcher Behörde die Erklärung stamme.

b) Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, inwieweit im Einzelfall der individuelle Urheber einer Urkunde ersichtlich sein muss, die eine Erklärung der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen enthält und die nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verlesen werden soll; denn bei Annahme eines solchen Erfordernisses ist diesem bei den in Rede stehenden Berichten des Bundeskriminalamtes genügt. Hinsichtlich der beiden Berichte der b. Polizeiinspektion ist jedenfalls auszuschließen, dass das Urteil auf ihnen beruht. Hierzu im Einzelnen:

aa) Der Wortlaut des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verhält sich nicht dazu, ob ein individueller Urheber von in einer Urkunde enthaltenen Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen erkennbar sein muss oder es ausreicht, solche Erklärungen allgemein einer Strafverfolgungsbehörde zuordnen zu können. In systematischer Hinsicht könnte allerdings zu bedenken sein, dass die Vorschrift den Grundsatz der persönlichen Vernehmung nach § 250 StPO einschränkt und danach ein Bezug zu einer bestimmten Person zu verlangen sein könnte (vgl. zum Ausnahmecharakter des § 256 StPO etwa BGH, Beschluss vom 3. September 2019 – 3 StR 291/19, BGHR StPO § 256 Abs. 1 Gutachten 2 Rn. 11, 12; Urteil vom 4. Juli 2019 – 4 StR 508/18, NStZ-RR 2019, 285, 286; zu einer individuellen Zuordnung BGH, Beschluss vom 1. August 2018 – 5 StR 330/18, BGHR StPO § 256 Abs. 1 Nr. 5 Ermittlungsmaßnahmen 4; SSW-StPO/Franke, 5. Aufl., § 256 Rn. 11). Zudem wird für – im Gesetzgebungsverfahren als vergleichbar angesehene (s. BT-Drucks. 15/1508 S. 26) und vom Gesetzeswortlaut ähnlich geregelte – Zeugnisse oder Gutachten öffentlicher Behörden gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO gefordert, dass sich ergibt, von wem die Erklärung für die Behörde abgegeben wurde (vgl. LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 256 Rn. 41; KMR/R. Fischer, StPO, 111. EL, § 256 Rn. 41; BGH, Urteil vom 21. September 2000 – 1 StR 634/99, BGHR StPO § 256 Abs. 1 Behörde 3; Beschluss vom 6. März 2001 – 1 StR 14/01, juris; zum ärztlichen Attest BGH, Beschluss vom 7. August 2019 – 1 StR 57/19, juris Rn. 5 mwN; Urteil vom 10. März 2021 – 6 StR 285/20, NStZ 2021, 507, 508). Für eine Überprüfung, ob die Erklärung tatsächlich von einer Strafverfolgungsbehörde stammt und es sich nicht lediglich um einen Entwurf handelt, kann die Erkennbarkeit des Erklärenden ebenfalls sachdienlich sein.

bb) Auch wenn aus diesen Gründen eine Verlesung nach § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO nur dann zulässig sein sollte, falls die Person des Erklärenden ersichtlich ist, ist diese Anforderung in Bezug auf die Berichte des Bundeskriminalamtes erfüllt. Aus den jeweils – zumeist ausdrücklich „i.A.“ oder „i.V.“ namentlich unterschriebenen – Vorblättern ergibt sich, auf wen die zugehörigen Berichte zurückzuführen sind und dass es sich nicht um einen bloßen Entwurf handelt. So hat der Unterzeichnende jeweils bestätigt, dass die beigefügten Dokumente die im Rahmen der näher dargelegten Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse enthielten (vgl. zu einem angefügten Schreiben – in Bezug auf § 256 Abs. 1 Nr. 3 StPO – BGH, Beschluss vom 18. April 2007 – 2 StR 111/07, StraFo 2007, 331); Detailinformationen zu bestimmten Erkenntnissen, etwa der ermittelnde Beamte, könnten bei Bedarf über die Führungsgruppe erfragt werden.

Darauf, ob die erklärende Person die Erkenntnisse unmittelbar selbst gewonnen hat oder lediglich aufgrund fremder, namentlich durch mehrere Observationsbeamte zusammengetragener Erkenntnisse – gleichsam vom Hörensagen – berichtet, kommt es nicht an (vgl. allgemein zur Verlesung von Observationsberichten BGH, Beschluss vom 8. März 2016 – 3 StR 484/15, BGHR StPO § 256 Abs. 1 Nr. 5 Ermittlungsmaßnahmen 3 Rn. 2; ablehnend SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 256 Rn. 33; Conen in Festschrift Eisenberg, 2019, S. 377, 381 ff.; s. im Übrigen zu Behördenerklärungen LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 256 Rn. 12; zum Zeugen vom Hörensagen etwa BGH, Urteil vom 1. August 1962 – 3 StR 28/62, BGHSt 17, 382, 383 f.). Hierfür spricht bereits die Gesetzesbegründung, die regelmäßig auf gesammelten Erkenntnissen beruhende Schlussberichte lediglich insoweit für nicht verlesbar ansieht, als darin der Inhalt einer Vernehmung wiedergegeben wird (BT-Drucks. 15/1508 S. 26).

cc) Die mit dem jeweiligen Vorblatt zu den Akten gelangten Observationsberichte durften unabhängig davon als Beweismittel genutzt werden, ob die vorangestellten Schreiben selbst verlesen wurden. Die Verlesung von Urkunden kann nach Maßgabe der Aufklärungspflicht auf die für die Entscheidung bedeutsamen, aus sich heraus verständlichen Teile beschränkt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 – GSSt 1/10, BGHSt 56, 109 Rn. 34; Urteil vom 8. März 1960 – 5 StR 17/60, GA 1960, 277; KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 249 Rn. 28; MüKoStPO/Kreicker, § 249 Rn. 43). In diesem Sinne bedeutsam sind die Schreiben der Koordinierungsstelle des Bundeskriminalamtes indes nicht, da sie hauptsächlich für die im Wege des Freibeweises zu klärenden Frage der Verlesbarkeit anderer Teile der Urkunden relevant sind (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 2007 – 2 StR 111/07, StraFo 2007, 331; OLG Düsseldorf, Urteil vom 1. Februar 1983 – 2 Ss 349/82, StV 1983, 273; BeckOK StPO/Ganter, 46. Ed., § 256 Rn. 23).

dd) In Bezug auf zwei Berichte über die Observation durch eine b.      Spezialeinheit am 24. Mai 2013 kommt es entscheidend weder darauf an, ob insofern die vom Generalbundesanwalt vorgebrachten Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rügen durchgreifen, noch, ob in der Sache die Urheber der Erklärungen erkennbar sind. Denn mit Blick auf die dichte übrige Beweislage ist auszuschließen, dass sich die Berücksichtigung der Berichte bei der Überzeugungsbildung des Oberlandesgerichts zum Nachteil der Angeklagten ausgewirkt hat.“

ich bin gespannt, was der BGH mal macht, wenn er die Frage entscheiden muss. Zumindest haben wir hier schon mal einen Hinweis, in welche Richtung es gehen könnte.