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Und dann habe ich hier im zweiten Posting des Tages den AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug. Er hätte auch ganz gut heute Morgen zu den Beiordnungsgründen gepasst, aber ich will von dem Beschluss nicht nur den Leitsatz einstellen.
Folgender Sachverhalt: Mit der Anklageschrift wird den beiden Angeklagten, einem Vater und seinem minderjährigen Sohn, der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 18 Jahre und 2 Wochen alt sein wird, zur Last gelegt, gemeinschaftlich eine andere Person verletzt zu haben. Im Ermittlungsverfahren waren die beiden Beschuldigten, der Sohn in Anwesenheit seiner Mutter, getrennt voneinander vernommen worden. Die Bestellung eines Verteidigers erfolgte nicht, ein Antrag auf Entzug elterlicher Verfahrensrechte war seitens der Staatsanwaltschaft nicht gestellt worden. Nach Zustellung der Anklage haben sich Verteidiger für beide Angeklagte gemeldet. Die Verteidigerin des Jugendlichen beantragt nunmehr namens und im Auftrag ihres Mandanten, ihm als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden, woraufhin sie das Wahlmandat niederlegen werde. Die Staatsanwaltschaft ist einer Beiordnung entgegengetreten, weil für die zur Begründung angeführten sonstigen schwerwiegenden Nachteile keinerlei Anhaltspunkte bestünden. Das AG hat die Wahlverteidigerin als Pflichtverteidigerin bestellt:
„Dem Angeklagten war seine Wahlverteidigerin beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist. Denn der Angeklagte kann sich im Sinne des § 140 Abs.2 S. 1 letzte Alt. StPO nicht selbst verteidigen. Allerdings trifft die vorliegende Konstellation den Wortlaut des § 68 Abs.1 Nr. 1 JGG insofern nicht, als für einen Erwachsenen ein Verteidiger nicht zu bestellen wäre, wenn sich die Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit eines Angeklagten gerade aus dessen Minderjährigkeit herrührt. Die Vorschrift ist dahingehend auszulegen, dass einem Beschuldigten nach § 68 Nr.1 JGG ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung nach allgemeinem Strafrecht gegeben ist (so im Ergebnis auch OLG Saarbrücken, Beschluss v. 3.5.2006, 1 Ws 87/06, OLG Brandenburg, Beschluss v. 28.11.2001, 1 Ss 46/01). Dem Sinn der Vorschrift nach ist einem jugendlichen Angeklagten ein Verteidiger dann zu bestellen, wenn er sich nicht ausreichend selbst verteidigen kann – wobei dabei zu berücksichtigen ist, ob und in welchem Grade die Erziehungsberechtigten in der Lage und fähig – und damit verpflichtet – sind, die ihrem Kind geschuldete Unterstützung zuteilwerden zu lassen (Vgl. zu diesem Aspekt Beschluss LG Koblenz v. 2.1.2019, 2 Qs 120/18).
Der Angeklagte kann sich nicht ausreichend selbst verteidigen.
Zur eigenen Verteidigungsfähigkeit gehört es insofern nicht nur, sich gegenüber der Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls einem Nebenkläger verteidigen zu können, sondern auch, sich gegenüber seinen Mitangeklagten behaupten zu können (vgl. u.a. OLG Brandenburg, Beschluss v. 28.11.2001, 1 Ss 46/01). Dieser Aspekt des fairen Verfahrens gebietet die Bestellung eines Pflichtverteidigers zwar nicht immer schon dann, wenn einer der Mitangeklagten durch einen Verteidiger vertreten wird. Dies hätte nämlich zur Folge, dass in einer Konstellation mit mehreren Angeklagten der Fall der notwendigen Verteidigung allein durch ein geschicktes Prozessverhalten der Mitangeklagten herbeigeführt werden könnte. Indem nämlich nacheinander alle Wahlverteidiger ihr Mandat niederlegen und auf die damit jeweils eingetretene prozessuale Unterlegenheit des von ihnen vertretenen Mandanten gegenüber den Mitangeklagten verwiesen werden könnte.
Um eine solche rechtsmissbräuchliche Konstellation handelt es sich aber dann nicht, wenn einer der Angeklagten von dem anderen finanziell und familiär abhängig ist. So hat der minderjährige Angeklagte, da er finanziell nicht selbständig ist, keine Möglichkeit, sich unabhängig vom Willen seiner Eltern einen Verteidiger zu suchen.
Vor allem aber steht der Verteidigungsfähigkeit eines minderjährigen, von der Akzeptanz und Anerkennung seiner Eltern in besonderer Weise abhängigen Jugendlichen entgegen, dass er sich in einem für ihn nicht auflösbaren Dilemma befinden kann, einem Dilemma, wie es in dieser familiären Grundkonstellation, aber in anderer prozessualer Konstellation durch das Zeugnisverweigerungsrecht entschärft werden kann (zur Bestellung eines Pflichtverteidigers trotz Wiedereinräumung der verfahrensrechtlichen Rechtsstellung eines Elternteils LG Essen, Beschluss v. 25.8.2011, 23 Qs 105/11). Diese Option stellt sich einem mitangeklagten Familienmitglied aber nicht. Das Dilemma, sich möglicherweise entweder einer ihm gegenüber erhobenen Schuldzuweisung, oder aber, im Gegenteil, gegen die Übernahme der Verantwortlichkeit durch ein ihn schützen wollendes Elternteil erwehren zu müssen, lässt sich gerade für einen Jugendlichen kaum adäquat lösen. In dieser Konstellation ist es unabdingbar, sich zumindest mit einer Vertrauensperson beraten und etwaige Problemlagen offenbaren und aussprechen zu können, um für sich selbst Klarheit gewinnen zu können, und um sich die Sicht eines Dritten anhören zu können.
Aus dieser Darstellung wird offenbar, dass diese Konstellation nicht einfach dadurch ein Ende findet, dass der Jugendliche volljährig wird. Dies würde nur die eng prozessrechtlich definierte Interessenskollisionskonstellation auflösen, die § 67 Abs.4 JGG im Auge hat, dass nämlich ein Erziehungsberechtigter seine Verfahrensrechte zulasten seines mitangeklagten Kindes ausübt. Um eine solche Missbrauchskonstellation geht es aber gar nicht, wo allein Fragen wie Loyalitätskonflikte oder emotionale Wahrnehmungsverzerrungen und ähnliches im Raum stehen, die eine adäquate Wahrnehmung eigener Interessen erschweren oder gar verunmöglichen.
Darüber hinaus ist bei Taten unter Beteiligung einer Autoritätsperson, insbesondere eines Elternteils, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen in besonderer Weise zu prüfen (OLG Hamm, Beschluss vom 24.10.2005, 2 Ss 381/05). Das Erfordernis einer solchen Prüfung erschwert die Sachlage in besonderer Weise, deren Erforderlichkeiten gerade ein selbst betroffener Jugendlicher nicht übersehen kann (vgl. dazu am Rande LG Amberg, Beschluss v. 4.2.2021, 51 Qs 1/21; LG Aachen Beschluss v. 8.7.2020 – 62 Qs-111 Js 146/20-41/20, BeckRS 2020, 33074 und umfassend Spahn, Guido, StraFo 2004, 82ff.).“