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Gebühren im Bußgeldverfahren + Befriedungsgebühr, oder: Das LG Leipzig kann es – leider – nicht

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Und am Gebührenfreitag heute dann zwei LG-Entscheidungen, u.a. zu § 14 RVG und – die eine – zu Nr. 5115 VV RVG.

Ich starte mit dem LG Leipzig, Beschl. v. 09.04.2024 – 13 Qs 118/24. Gegen den Betroffenen war ein Bußgeldbescheid wegen des Vorwurfs eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 2 StVG erlassen und dabei als Rechtsfolge eine Geldbuße in Höhe von 1.000,00 EUR sowie ein Fahrverbot für die Dauer von drei Monaten ausgesprochen worden. Nach Einspruch des Betroffenen fand am 30.11.2022 eine Hauptverhandlung statt, bei der die Frage thematisiert wurde, welcher Zeitabstand zwischen letzter Alkoholaufnahme und Messung durch ein entsprechendes Messgerät erforderlich sei. Nach Einholung der entsprechenden Auskünfte stellte das AG das Verfahren durch Beschluss vorn 10.5.2023 gem. § 47 Abs. 2 OWiG ein, die Kosten und die notwendigen Auslagen des Betroffenen wurde der Landeskasse auferlegt.

Der Betroffene hat gegenüber der Landeskasse die Erstattung folgender notwendiger Auslagen verlangt: Grundgebühr Nr. 5100 VV RVG in Höhe von 140,00 EUR, Verfahrensgebühr Nr. 5103 VV RVG in Höhe von 250,00 EUR, Verfahrensgebühr Nr 5109 in Höhe von 250,00 EUR, Terminsgebühr Nr. 5110 RVG 450,00 EUR und Verfahrensgebühr Nrn. 5115, 5103 VV RVG in Höhe von 176,00 EUR. Abweichend von dem Antrag hat das AG geringere Beträge, und zwar nur in Höhe der Mittelgebühr, festgesetzt. Zur Begründung für die Abweichung wurde darauf verwiesen, dass es sich nur um ein „durchschnittliches“ Verfahren gehandelt habe, bei dem auch unter Beachtung der Folgen für den Betroffenen im Falle einer Verurteilung ausschließlich von der Mittelgebühr auszugehen sei. Die von dem Betroffenen begehrte Befriedungsgebühr gern. Nr. 5115 VV RVG könne nicht festgesetzt werden, da eine Hauptverhandlung durchgeführt wurden sei.

Dagegen hat sich der Betroffene mit der sofortigen Beschwerde gewendet und geltend gemacht, dass das Verfahren schon aufgrund der Bedeutung für den Betroffenen überdurchschnittlichen Charakter gehabt habe. Auch sei die Befriedungsgebühr im Hinblick auf eine Entscheidung des BGH vom 14.4.2011 angefallen. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

Wegen der Ausführungen des LG Leipzig zu § 14 RVG stelle ich nur den Sachverhalt ein. Das muss genügen. Denn die Ausführungen sind , wie immer dazu aus Leipzig, wenn nicht falsch, so zumindest doch fraglich. Das muss man nicht noch breit treten. Der Leitsatz:

Auch bei Verkehrsordnungswidrigkeiten ist grundsätzlich von der Mittelgebühr auszugehen ist. Allerdings sind oft weder Aktenumfang, Schwierigkeit der Sach- und/oder Rechtslage oder mögliche Rechtsfolgen nach den Kriterien des § 14 RVG so ausgestaltet sind, die Mittelgebühr erreicht oder gar überschritten werden könnte.

Dazu aber: M.E. auch der Ton der Argumentation des LG zu beanstanden. Man hat den Eindruck, dass die Kammer davon ausgeht, dass dem Verteidiger ein Geschenk gewährt wird, wenn man seine Gebühren festsetzt. Wie anders soll man sonst die Formulierung das AG sei „in Übereinstimmung mit dem Bezirksrevisor den Belangen des Betroffenen durch die Zubilligung der Mittelgebühr bereits wohlwollend entgegengekommen“ verstehen? Es kommt doch für die angemessene Bemessung der Rahmengebühren nicht auf das „Wohlwollen“ des Bezirksrevisors und/oder des Richters an. Beide sind an Gesetz und Rechtsprechung gebunden und haben die geltenden Regeln anzuwenden. „Wohlwollen“ hin oder her. Im Grunde ist diese Formulierung des LG erschreckend, denn sie zeigt ein Verständnis vom anwaltlichen Gebührenrecht, das dem des Gesetzgebers bei Schaffung des RVG diametral entgegensteht.

Zur Nr. 5115 VV RVG führt das LG aus:

„b) Entgegen der Auffassung des Betroffenen ist dem Verteidiger auch die Befriedungsgebühr gem. Nr. 5115 VV RVG nicht zuzubilligen. Auch unter Berücksichtigung der von dem Verteidiger zitierten Entscheidung vom 14.04.2011 (Az.: IX ZR 153/10) ist diese Gebühr vorliegend nicht angefallen.

Zwar hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung durchaus darauf hingewiesen, dass der Rechtsauffassung, wonach die Befriedungsgebühr niemals anfalle, wenn eine Hauptverhandlung schon begonnen habe, nicht möglich sei, eine Absage erteilt werde.

Insoweit wurde argumentiert, dass gerade auch bei Einstellung nach Aussetzung der Haupt-verhandlung durchaus die Möglichkeit bestehe, dass die Befriedungsgebühr entstehen könne, wenn durch neues Handeln/Vorbringen die neue Hauptverhandlung entbehrlich werde (vgl. BGH, a.a.O., Rz. 12).

Der Bundesgerichtshof hat aber auch ausgeführt, dass der Normzweck des dort thematisierten Nr. 4141 (bzw. hier entsprechend 5115) VV RVG entscheidend dafür spreche, dass eine Einstellung, die innerhalb der Hauptverhandlung erfolge, eine Befriedungsgebühr nicht mehr auszulösen vermag. Dabei ist es gleichgültig, ob die Einstellung am Tag der Hauptverhandlung, oder an einem späteren Terminstag geschieht, insbesondere ob hierdurch Fortsetzungstermine vermieden werden.

Selbst wenn man wohlwollend überlegen wollte, dass vorliegend eine neue Hauptverhandlung (nach Aussetzung) erforderlich sein könnte, muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Verteidiger – wie von dem Bezirksrevisor zutreffend ausgeführt – seine Tätigkeit, die zur Ver-meidung einer Hauptverhandlung erforderlich sein könnte, ausschließlich im Rahmen der durchgeführten Hauptverhandlung erbracht hat, für die er auch eine Terminsgebühr beantragt hat und in angemessener Höhe erhält. Eine weitere Tätigkeit ist schlichtweg nicht zu erkennen.

Insoweit würden die Überlegungen der Verteidigung gerade den Gedanken des Bundesgerichtshofes zur Einheitlichkeit der Hauptverhandlung widersprechen, weshalb gerade auch unter Berücksichtigung der von dem Verteidiger zitierten Rechtsprechung – soweit auf Nr. 5115 VV RVG anwendbar – eine Absage zu erteilen wäre.“

Auch hier also „wohlwollend“, was aber nicht darüber hinweg täuscht, dass die Ansicht des LG falsch ist. Denn:

  • Aus der angeführten BGH-Entscheidung folgt zwar, dass die Gebühr Nr. 4141 Anm. 1 Satz 1 Nr. 1 VV RVG nicht anfällt, wenn ein Strafverfahren in der Hauptverhandlung nach § 153a StPO vorläufig eingestellt wird und nach Erbringung der Auflage die endgültige Einstellung erfolgt, was für die ähnliche Nr. 5115 VV RVG entsprechend gilt. Entsprechend gilt  auch, dass das auch angenommen wird, wenn es sich um die Verhinderung von Fortsetzungsterminen handelt (so wohl auch BGH, a.a.O. ).
  • Aber: Mit der Problematik haben wir es hier überhaupt nicht zu tun. Der Hauptverhandlungstermin hat am 30.11.2022 statt gefunden. In dem ist die Frage des Beweisverwertungsverbotes thematisiert worden, was dazu geführt hat, dass der Termin nicht beendet, sondern ausgesetzt worden ist. Es hätte also auf jeden Fall, eine neue Hauptverhandlung stattfinden müssen bzw. hat sich so ergeben. Denn im Hinblick auf die Fristen des § 229 StPO kann es sich, wenn am 10.5.2023, als das Verfahren eingestellt worden ist, nicht um einen Fortsetzungstermin gehandelt haben. Dafür spricht auch, dass der Verteidiger nur eine Terminsgebühr (für den Hauptverhandlung am 30.11.2022) geltend gemacht hat. Damit ist durch die Einstellung eine neue Hauptverhandlung vermieden worden, was ausreicht. Denn für den Anfall der Befriedungsgebühren Nrn. 4141, 5115 VV RVG reicht es, wenn ein weiterer Hauptverhandlungstermin vermieden wird, es kommt nicht darauf an, dass überhaupt eine Hauptverhandlung vermieden wird (BGH, a.a.O.; u.a. OLG Bamberg StraFo 2007, 130 = AGS 2007, 138; OLG Hamm AGS 2008, 228; OLG Köln StraFo 2018, 43 = AGS 2018, 12; LG Arnsberg StraFo 2017, 131 = AGS 2017, 216; LG Düsseldorf AGS 2007, 36 = JurBüro 2007, 83; LG Oldenburg, Beschl. v. 21.7.2008 – 5 Qs 268/08; AGS 2011, 598). Das sollte eine Beschwerdekammer wissen, wenn man über Anwaltsgebühren entscheidet.
  • Und wissen sollte man als LG auch, dass es unerheblich ist, in welchem Verfahrensabschnitt die Mitwirkung erbracht wird. Es genügt für das Entstehen der Nrn. 4141, 5115 VV RVG, dass ein früherer Beitrag des Verteidigers zur Erledigung in einem späteren Verfahrensabschnitt, in dem es dann zur Erledigung des Verfahrens kommt, noch fortwirkt. Der Verteidiger muss die Mitwirkung nicht noch einmal wiederholen bzw. erneut mitwirken. Das wäre „reine Förmelei“ (zutreffend BGH AGS 2008, 491 = JurBüro 2008, 639; OLG Stuttgart AGS 2010, 202 = RVGreport 2010, 263; LG Cottbus RVGreport 2017, 108 = AGS 2017, 186 [für Nr. 5115 VV RVG]; LG Düsseldorf AGS 2007, 36 = JurBüro 2007, 83; LG Hamburg AGS 2008, 59 = DAR 2008, 611; LG Köln AGS 2007, 351 = StraFo 2007, 305; LG Stralsund AGS 2005, 442 = RVGreport 2005, 272; Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG. 26. Aufl., 2023, VV 4141 Rn 12; AnwKomm-RVG/N. Schneider, 9. Aufl. 2921VV 4141 Rn 55, 68). Ausreichend war also das Geltendmachung des Beweisverwertungsverbotes im Hauptverhandlungstermin, da offenbar das nach Einholung der Auskünfte zur Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG geführt hat.

Manchmal versteht man es nicht.

Pflichti II: Schon wieder rückwirkende Bestellung, oder: Manchen lernen es nie

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Und dann einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, leider dieses Mal mit einem Schwergewicht bei den Entscheidungen, die die rückwirkende Bestellung als unzulässig ansehen.

Darunter befindet sich dann auch ein Beschluss des OLG Dresden, den das OLG nicht veröffentlicht hat. Man fragt sich, warum? Wir finden in der Zusammenstellung dann auch ein Beschluss des LG Leipzig, in dem man eben mal die Rechtsprechung, die man bisher vertreten hat, aufgibt. Und einen des LG Zweibrücken, die die andere Auffassung als „Mindermeinung“ abtut, na ja.

Und ich bleibe dabei. Das Ablehnen der rückwirkenden Bestellung ist falsch. Es ist ein Freibrief für die StA, die letztlich tun und lassen kann, was und wann sie will.

Gegen eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

Für eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

 

Pflichti I: Kleines Potpourri der Beiordungsgründe, oder: Behinderungen, Nachtrunk, Haft und Sucht

Und dann vor dem morgigen Gebührentag heute erst noch einmal einige Pflichtverteidigungsentscheidungen. Herzlichen Dank allen, die Entscheidungen geschickt haben.

Ich beginne mit den Entscheidungen zum Grund der Bestellung. Dabei handelt es sich um:

Eine nicht ausreichende Wahrnehmung der Interessen durch einen Verletzten kann grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn der Betroffene an einer Lese- oder Rechtschreibschwäche leidet.

Eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist nicht allein mit dem Umstand zu begründen, dass ein Sachverständiger am Verfahren beteiligt ist. Die Notwendigkeit der sachverständigen Beurteilung eines behaupteten Nachtrunks ist kein Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn sich der Beschuldigte in anderer Sache in Haft befindet.

2. Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung liegen auch dann vor, wenn das Verfahren unverzüglich nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft nach § 154 f StPO eingestellt worden ist.

Liegt beim Beschuldigten aktuell eine Suchtmittelerkrankung vor, welche zumindest zu einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt führte, und ist die komplexe Thematik einer Unterbringung nach § 64 StGB gegeben, ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sich ausreichend selbst zu verteidigen.

Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein sehbehinderter Beschuldigter mit einer einem GdB von 40 in Bezug auf seine Sehminderung die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt.

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Wenn die StA „toter Mann spielt.“

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Und dann der Klassiker zum neuen Recht, nämlich zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Es handelt sich um drei Beschlüsse, nämlich den LG Leipzig, Beschl. v. 02.08.2023 – 5 Qs 41/23, den AG Aurich, Beschl. v. 04.07.2023 – 6 Gs 1305/23 und den AG Amberg, Beschl. v. 21.07.2023 – 6b Gs 1771/23. Alle drei sind m.E. falsch.

Der AG Aurich, Beschl. v. 04.07.2023 – 6 Gs 1305/23 – und der AG Amberg, Beschl. v. 21.07.2023 – 6b Gs 1771/23 – geben die übliche – falsche – Begründung in diesen Fällen: Das haben wir immer schon so gemacht und das neue Recht zwingt uns nicht, unsere – falsche – Auffassung zu ändern. Muss man leider mit leben.

Kleiner Hinweis an das AG Aurich. Der Satz: „Auch ist kein umfangreiches Tätigwerden des Verteidigers ersichtlich, was eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte.“ erschließt sich nicht. Und er macht es auch nicht besser. Denn er ist ebenso falsch. Denn die Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Beiordnung hat ja nun nichts mit dem Umfang der anwaltlichen Tätigkeit zu tun.

Und zum AG Amberg, Beschl. v. 21.07.2023 – 6b Gs 1771/23 – insoweit läuft die Beschwerde – ist anzumerken: Mich wundert, dass man an seinen eigenen Meinung festhält, obwohl das für den Bezirk zuständige OLg die Frage anders entschieden hat. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass das OLG in einer gerade vom AG entschiedenen Frage, nämlich im AG Amberg, Beschl. v. 12.10.2022 – 6 Gs 398/21, mit „Pauken und Trompeten“ anders entschieden hat, nämlich im OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.07.2023 – Ws 133/23. Im Übrigen leuchtet mir nicht ein, warum die StA den Beiordnungsantrag nicht sofort nach Eingang dem AG vorlegt. In der StPO – zumindest in meiner – heißt es „unverzüglich“.

Der LG Leipzig, Beschl. v. 02.08.2023 – 5 Qs 41/23 – hat folgenden in der Praxis häufigen Sachverhalt: Dem Beschuldigten wird Diebstahl vorgeworfen. Sein Verteidiger legitimiert sich am 26.11.2022 unter Angabe der polizeilichen Tagebuchnummer gegenüber der bis dahin noch nicht mit der Sache befassten StA und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Zur Begründung verwies er darauf, dass sich der Beschuldigte – zu der Zeit in einem anderweitig geführten Verfahren in Untersuchungshaft befand.

Eine Reaktion der StA erfolgte nicht. Im April 2023 legte die Polizei schließlich der StA die Akten vor, die „Zuordnung“ des Verteidigerschriftsatzes vom 26.11.2022 zur Verfahrensakte erfolgte Anfang Juni 2023. In der Folge übersandte der sachbearbeitende Staatsanwalt dem AG die Akten mit der Anregung, eine Pflichtverteidigerbestellung abzulehnen, da der Beschuldigte in der anderen Sache am 06.12.2022 aus der Haft entlassen worden war.

Das AG macht es jedoch richtig und gibt dem Antrag des Beschuldigten statt und ordnete ihm einen Pflichtverteidiger bei. Zum Zeitpunkt der Antragstellung hätten unstreitig die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgelegen. Auch hätte die Akte unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag vorgelegt werden müssen.

Dagegen dann die sofortige Beschwerde der bis dahin untätigen Staatsanwaltschaft; man ist offenbar wach geworden. Und das Rechtsmittel hat dann aber beim LG Erfolg:

„Zum Zeitpunkt des Beschlusserlasses am 03.07.2023 lag ein Fall einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO nicht (mehr) vor…..

…..

Auch die von dem Amtsgericht Torgau angestellte Erwägung, dass der Beiordnungsantrag des Verteidigers vom 26.11.2022 nicht rechtzeitig bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO dem Amtsgericht vorgelegt worden wäre, rechtfertigt eine (rückwirkende) Beiordnung nicht. Zwar ist gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen, wenn der Beschuldigte dies beantragt hat und die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gem. § 140 StPO vorliegen. Wie sich auch § 140 Abs. 2 Nr. 3 StPO jedoch ergibt, ist der unbestimmte Rechtsbegriff der „Unverzüglichkeit“ nicht nach Maßgabe eines bestimmten Zeitablaufs zu bemessen. Ein Verstoß gegen die Unverzüglichkeit, ein schuldhafttes Zögern, ist nur dann gegeben, wenn die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) einen Beiordnungsantrag pflichtwidrig übergehen und das Verfahren weiterbetreiben, insbesondere weitere Ermittlungshandlungen mit Außenwirkung und Beweiserhebungen zum Nachteil des Beschuldigten vornehmen bzw. anstrengen (vgl. BT-Drucksache 19/13829, S. 38 zu § 141 Abs. 2 Satz 2 StPO: „… Mit der Richtlinienvorgabe zur unverzüglichen Verteidigerbeiordnung in den Fällen der Haft ist diese Ausnahme vereinbar, da eine vorwerfbare Verzögerung der Verteidigerbestellung solange nicht vorliegt, wie weder Vernehmungen noch sonstige Ermittlungsmaßnahmen mit Außenwirkung vorgenommen werden sollen…“). Entsprechendes ist vorliegend auch nicht passiert. Zum Zeitpunkt der Antragsstellung am 26.11.2022 war das Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Leipzig noch gar nicht eingegangen bzw. erfasst, was zu diesem Zeitpunkt auch dem Verteidiger, der lediglich die polizeiliche Tagebuchnr. in seinem, am Tattag verfassten Schriftsatz vom 26.11.2022 angab, bekannt gewesen sein dürfte. Als erste Amtshandlung veranlasste der sachbearbeitende Staatsanwalt am 07.06.2023 die Beinahme des Schriftsatzes des Verteidigers vom 26.11.2022 zur Sachakte, zog nachfolgend eine Auskunft der Staatsanwaltschaft Passau bei und legte unmittelbar nach deren Eingang am 20.06.2023 das Verfahren dem Amtsgericht Torgau – Ermittlungsrichter – zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor. Unter Missachtung des Beiordnungsantrages wurden keine weiteren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen veranlasst. Im Übrigen ergibt sich aus der Ermittlungsakte, dass zwar die Verfahrensakte durch die Polizei erst am 17.04.2023 an die Staatsanwaltschaft Leipzig gesandt, aber nach dem 26.11.2022 auch von dort aus keine weiteren Ermittlungen durchgeführt wurden. Von daher fanden keinerlei Ermittlungshandlungen zum Nachteil des Beschuldigten unter Verletzung seiner Verteidigerrechte statt, weshalb es zu einer schuldhaft verspäteten Vorlage des Antrages vom 26.11.2022 nicht gekommen ist.

Im Übrigen folgt auch aus einer anderen Erwägung, dass vorliegend eine rückwirkende Beiordnung nur als systemwidrig anzusehen ist, weshalb die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Torgau nicht durchgreift. Gemäß § 143 Abs. 2 S.1 StPO kann nämlich eine erfolgte Beiordnung aufgehoben werden, wenn ein Fall einer notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegt. Gemäß § 143 Abs. 2 S. 2 StPO gilt dies im Falle des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO insbesondere dann, wenn der Beschuldigte mindestens 2 Wochen vor der Hauptverhandlung aus der Haft entlassen worden ist. Es wäre demzufolge vorliegend völlig widersinnig, wenn zunächst eine rückwirkende Beiordnung angeordnet werden würde, dann aber umgehend wieder auf Antrag der Staatsanwaltschaft aufgehoben werden müsste, da der Beschuldigte sich bereits seit mehreren Monaten wieder auf freiem Fuß befindet und ein Strafverfahren noch gar nicht angestrengt ist. In der Regelung des § 143 Abs. 2 StPO spiegelt sich nämlich der Rechtsgedanke wieder, dass eine Beiordnung allein dem öffentlichen Zweck dient, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden (zukünftigen) (Straf-)Verfahren zu gewährleisten, jedoch nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten (BGH-Beschluss vom 20.07.2009, Az. 1 StR 344/08, NStZ-RR 2009, 348). An dieser Beurteilung hat auch die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, nachfolgend als PKH-Richtlinie bezeichnet), die durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 in nationales Recht umgesetzt wurde, nichts geändert (OLG Dresden, Beschl. v. 24.02.2023, Az. 2 Ws 33/23; ständige Rspr. der Kammer: Beschl. v. 08.05.2023, Az. 5 Qs 27/23; Beschl. v. 01.06.2023, Az. 5 Qs 32/23 u. Beschl. v. 10.07.2023, Az. 5 Qs 36/23).

§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO sieht bei einem inhaftierten Beschuldigten eine notwendige Verteidigung vor, da der sich nicht auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte ersichtlich in seiner Verteidigung eingeschränkt ist. Deshalb ist nicht ansatzweise ersichtlich, warum der nunmehr seit längerer Zeit aus der Haft entlassene Beschuldigte noch eines bestellten Verteidigers bedarf, obwohl der die eigene Verteidigungsfähigkeit einschränkende Umstand in Wegfall geraten ist. Eine Pflichtverteidigerbeiordnung quasi als Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörde für eine verspätete Vorlage eines Beiordnungsantrages ist gesetzlich nicht vorgesehen und war es auch bisher nicht. Werden Beweise unter Verletzung bzw. Missachtung strafprozessualer Rechte eines Beschuldigten erhoben, ist in einem späteren Strafverfahren (soweit ein solches überhaupt angestrengt wird) zu klären, ob und inwieweit derartige Beweismittel in eine strafrechtliche Hauptverhandlung eingebracht und verwertet werden können.“

Wie gesagt: Auch falsch. Der Beschluss wird nicht dadurch richtig, dass man mit „widersinnig“ und „nicht ansatzweise“ argmentiert und alte Rechtsprechung des BGH anführt.

Im Übrigen kann ich die  Behauptung des LG, es sei nicht zu einer schuldhaften Verzögerung der Verbescheidung des Beiordnungsantrags gekommen, nicht nachvollziehen. Die Staatsanwalt hat nach Eingang des Beiordnungsantrags mehrere Monate verstreichen lassen, ohne irgendwie auf den Antrag zu reagieren. Eine derartige Verzögerung ist m.E. nicht hinnehmbar; die Staatsanwaltschaft hätte sich bei der Polizei nach dem Verfahrensstand erkundigen können und auch müssen. Stattdessen hat sie „toter Mann gespielt“. Genau das wollte der Gesetzgeber aber mit der Einführung der „unverzüglichen Entscheidung aber verhindern. Allerdings: Ebenfalls nicht nachvollziebar ist für mich, dass der Verteidiger nicht mal an seinen noch offenen Antrag erinnert hat.

Darüber hinaus ist auch der Hinweis des LG auf die Begründung zur Reform des Rechts der notwendigen Vertedigung im Jahr 2019 verfehlt, denn die zitierte Passage bezieht sich ausschließlich auf den Fall des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, wonach eine an sich von Amts wegen gebotene Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Diese Vorschrift betrifft jedoch nur Beiordnungen von Amts wegen, wohingegen Beiordnungsanträge des Beschuldigten gerade nicht erfasst sind. Kann man alles beim Kollegen Hillenbrand in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3677 m.w.N. nachlesen.

Und: Auch die mögliche Aufhebung der Bestellung rechtfertigt die Untätigkeit der StA nicht. Denn es handelt es sich nicht um eine zwingende Rücknahme, da in solchen Fällen sorgfältig geprüft werden muss, ob der Rücknahme nicht Vertrauensschutzgesichtspunkte entgegenstehen bzw. ob die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers wegen der früheren Inhaftierung des Beschuldigten weiterhin erforderlich ist. Zum anderen entbindet die Möglichkeit einer späteren (!) Rücknahme die Ermittlungsbehörden ja wohl nicht von ihrer Pflicht zur Befolgung des vom Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ausdrücklich normierten Unverzüglichkeitsgebots. Das scheint man aber in Leipzig anders zu sehen. Ohne weitere Worte.

Aber: Zumindest die Kostenentscheidung ist – aus Sicht des LG – richtig. Immerhin.

Pflichti I: Etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: U-Haft im Ausland, Höhe der Strafe, Strafvollstreckung

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Heute stelle ich dann Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Es haben sich wieder einige angesammelt. Herzlichen Dank allen Kollegen für die Einsendung.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen zu Beiordnungsgründen. Hier sind die Leitsätze zu:

1. Zur Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, wenn zwar gegen den Beschuldigten im Ausland Untersuchungshaft vollstreckt worden ist, dem Beschuldigten aber bei einer Auslieferung nach Deutschland wegen des Spezialitätsgrundsatzes keine Untersuchungshaft droht.
2. Daher gilt, nicht schon jede zu erwartende Freiheitsstrafe, sondern erst eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe, sollte in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben
3. Zur verneinten Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage.

    1. Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren.
    2. Die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist im Vollstreckungsverfahren nicht anwendbar; insofern richtet sich die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO analog.