„Die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO liegen nicht vor, insbesondere ist eine Beiordnung des Verteidigers auch nicht aufgrund der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten.
Über die Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßen Ermessen, wobei seinem Beurteilungsspielraum durch den Rechtsbegriff der Schwere der Tat Grenzen gesetzt sind (Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 22 m. w. N.). Die Schwere der Tat beurteilt sich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung (BGH, Urteil vom 29. 6. 1954 – 5 StR 207/54, NJW 1954, 1415). Nach herrschender Meinung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist (OLG Naumburg, Beschluss vom 19.09.2011 – 2 Ws 245/11, BeckRs 2013, 00134; OLG München, Beschluss vom 13. 12. 2005 – 5St RR 129/05, NJW 2006, 789; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.07.1994 – 5 Ss 232/94 – 77/94 I, NStZ 1995, 147; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung; 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 23 m. w. N.). Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich ist der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind, nicht die Höhe der Einzelstrafen (BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 140 Rn. 24).
Die Gesamtstrafenbildung richtet sich nach § 54 StGB. Ihre Bildung ist ein eigenständiger Strafzumessungsakt, der sich — innerhalb des von § 54 StGB genannten Rahmens — nicht an der Summe der Einzelstrafen oder an rechnerischen Grundsätzen zu orientieren hat, sondern an gesamtstrafenspezifischen Kriterien (vgl. EGH, BGH, Beschluss vom 21. 10. 2009 – 2 StR 377/09, NStZ-RR 2010, 40; Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn 7f. m. w. N.). Die Strafzumessung obliegt dem Ermessen des Tatgerichts, das sich dabei an § 46 StGB zu orientieren hat.
Eine fehlerhafte Beurteilung der Straferwartung aufgrund der Aktenlage liegt nicht vor. Die Erhöhung der Einsatzstrafe kann umso geringer ausfallen, je mehr — wie hier – zwischen den Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn. 7a m. w. N.). Die Bemessung der Gesamtstrafe ist im Wege einer Gesamtschau des Unrechtsgehalts und Schuldumfangs vorzunehmen (ebd.).
Unter Berücksichtigung der weiteren gegen den Angeschuldigten geführten Verfahren ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr im Rahmen einer Gesamtstrafenbildung nicht annähernd ersichtlich. Es handelt sich jeweils um kleinere Vergehen des nicht vorbestraften Angeschuldigtem in engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang. Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, dass jeweils nur mit Geldstrafen zu rechnen ist, ist dabei nicht verfehlt.
Das Verfahren weist auch keine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage auf. Es handelt sich in sachlicher Hinsicht um ein auch für den Laien überschaubares Verfahren mit einem einfach gelagerten Vorwurf. Auch in rechtlicher Hinsicht besteht keine besondere Schwierigkeit. Der Strafbefehl umfasst lediglich zwei Tatbestände, den der (einfachen) Körperverletzung und den der Nötigung, die auch für den Laien begreifbar sind.
Eine Pflichtverteidigerbestellung war auch nicht auf den ersten Antrag von Rechtsanwalt pp. vom 15.04.2020 unter Berücksichtigung des § 141 Abs. 1, Abs. 2 StPO geboten. Die Vorschrift setzt einen Fall notwendiger Verteidigung voraus (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 141 Rn. 3). Vorliegend stand von Beginn des Ermittlungsverfahrens an nicht fest, ob ein Raub oder lediglich Körperverletzung und Nötigung vorgeworfen werden können, mithin war zu diesem Zeitpunkt ein Fall notwendiger Verteidigung nicht gegeben.
Auch hier: Meyer-Goßner/Schmitt in der 61. Auflage. Was ist los in Braunschweig?