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Bewährung I: Verstoß gegen Auflagen und Weisungen, oder: Bewährungwiderruf beim Suchtkranken

Heute stelle ich dann drei Entscheidungen aus dem Bereich des Bewährungswiderrufs vor.

Ich beginne mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 03.05.2021 – 1 Ws 83/21 – betreffend einen Bewährungswiderruf. Der Widerruf erfolgte, weil der Verurteilte eine Arbeitsauflage nicht erfüllte, Termine bei der Bewährungshilfe nicht wahrnahm und auch Gespräche bei der Suchtberatung nicht durchführte. Das OLG hat aufgehoben und den Widerrufsantrag zurückgewiesen:

„Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Weisungen oder Auflagen (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 StGB) setzen weiter voraus, dass diese Verstöße dem Verurteilten vorwerfbar sind. Verstöße gegen Weisungen, die im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung stehen, müssen für den Verurteilten vermeidbar sein (Fischer, StGB, 68. Aufl. § 56f, Rn. 10a m. w. N.). Gröblich ist ein Auflagenverstoß, wenn er objektiv und subjektiv schwer wiegt (Fischer, a.a.O. Rn. 12 m. w. N.).

Nach der im Gutachten des Sachverständigen Dr. pp. vom 16.01.2021 dargestellten Krankengeschichte des Verurteilten befand sich dieser in den Jahren 2019 und 2020 mehrfach in stationärer Behandlung (30.05. bis 04.06.2019, 11.07 bis 19.07.2019, 22.07. bis 26.07.2019, 05.08 bis 16.08.2019, 20.11. bis 02.12.2019, 03.12 bis 04.12.2019, 22.02. bis 11.03.2020, 20.03. bis 28.03.2020, 03.04. bis 06.04.2020, 19.04. bis 20.05.2020, 07.07. bis 08.07.2020, 08.07. bis 27.07.2020, 01.08. bis 11.08.2020, 13.08. bis 19.08.2020, 13.10. bis 15.10.2020 sowie 16.10.2020 bis ins Jahr 2021) vornehmlich im Bezirksklinikum Regensburg jeweils zur akuten Alkoholentgiftung. Der Sachverständige ging im Rahmen des Betreuungsverfahrens davon aus, dass es dem Verurteilten krankheitsbedingt nicht möglich war und ist, eine langfristige Therapie durchzuhalten. Vielmehr würde er diese aufgrund des erheblichen Suchtdrucks rasch abbrechen, sodass der Sachverständige eine geschlossene Unterbringung für unabdingbar hielt. Außerdem hielt es der Sachverständige aus denselben Gründen nicht für möglich, dass der Verurteilte einer Vorladung des Betreuungsgerichts zur Anhörung Folge leisten könne.

Unter diesen Umständen vermag auch der Senat nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass dem Verurteilten die Nichteinhaltung der Weisungen und (teilweise) Nichterfüllung der Auflage als schuldhaft vorwerfbar sind. Sofern sich der Verurteilte im fraglichen Zeitraum nicht ohnehin in stationärer Behandlung befand, fehlte es nach der Lebenserfahrung krankheitsbedingt höchstwahrscheinlich und somit nicht ausschließbar jedenfalls an der dazu nötigen Willenskraft und Durchhaltefähigkeit.

Der Widerrufsgrund des § 56f Abs.1 S.1 Nr.1 StGB kommt ebenfalls nicht in Betracht. Zwar hat der Verurteilte i.d. Bewährungszeit einen Diebstahl begangen, der Gegenstand des Verfahrens vor dem Amtsgericht Amberg (11 Ds 115 Js 8750/20) gewesen ist; das Verfahren wurde mit Beschluss vom 24.03.2021 gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Insoweit verbleiben zumindest erhebliche Zweifel hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Verurteilten. Nach dem Inhalt der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Amberg vom 14.09.2020 war der Verurteilte bei Tatbegehung erheblich alkoholisiert und entwendete vornehmlich Alkoholika…..“

 

Bewährung III: Widerruf der Bewährung, oder: Kein Kontakt zum Bewährungshelfer

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In der letzten Entscheidung, die ich vorstelle, dem OLG Koblenz, Beschl. v. 09.07.2019 – 4 Ws 407/19 – geht es um einen Bewährungswiderruf wegen Weisungsverstosses (§ 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB).

Der Verurteilte ist wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzt worden ist, verurteilt worden. Der Verurteilte wurde angewiesen, jeden Wohnsitzwechsel unaufgefordert mitzuteilen, darüber hinaus wurde ihm auferlegt, binnen 6 Monaten nach Rechtskraft des Urteils 100 Stunden gemeinnützige Arbeit nach Weisung des Bewährungshelfers abzuleisten.

Der Verurteilte befand sich vom 09.08.2018 bis Anfang September 2018 in stationärer Behandlung in der Fachklinik Alzey. Grund war eine drogeninduzierte Psychose, die der Verurteilte darauf zurückführte, dass er etwa im April 2018 begonnen habe, Crack zu rauchen.

Bis zum 30.10.2018 nahm der Verurteilte aufgrund dieses Umstands lediglich zwei Termine bei seiner Bewährungshelferin wahr, Anlässlich des letzten Gesprächstermins teilte der Verurteilte der Bewährungshelferin mit, dass er im Oktober einen Besuch bei seiner an einem Hirntumor erkrankten Mutter in Italien plane. Die Ehefrau des Verurteilten erklärte gegenüber der Bewährungshelferin am 19.11.2018, dass der Verurteilte sich in Italien aufhalte und in den nächsten Tagen wieder nach Deutschland zurückkehre. Es wurde vereinbart, dass der Verurteilte sich umgehend bei der Bewährungshelferin melden werde. Dies geschah jedoch nicht. Einladungen zu Gesprächsterminen nahm der Verurteilte nicht wahr. Nachdem er seitens des LG mit Schreiben vom 22.01.2019 erfolglos aufgefordert worden war, Nachweise über die Erfüllung der Arbeitsauflagen zu erbringen und die Bewährungshelferin mit Schreiben vom 01.03.2019 mitgeteilt hatte, dass der Verurteilte keinen Kontakt zu ihr aufgenommen habe, bestimmte die Kammer Termin zur Anhörung des Verurteilten auf den 08.04.2019. Der Verteidiger des Angeklagten, den dieser vom Anhörungstermin unterrichtet hatte, teilte unter dem 22.03.2019 mit, dass der Verurteilte in Italien seinen Pass verloren habe und daher nicht erscheinen könne. Eine Glaubhaftmachung erfolgte trotz Aufforderung durch das LG nicht. Im Anhörungstermin erschien der Verurteilte nicht. Mit Beschluss vom 08.04. 2019 widerrief das Landgericht die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung, da der Verurteilte die ihm erteilte Auflage nicht erfüllt habe und darüber hinaus im Hinblick auf den Crackkonsum des Verurteilten der Abbruch des Kontakts zur Bewährungshelferin Anlass zu der Besorgnis gebe, dass der Verurteilte erneut Straftaten begehen werde.

Das OLG hat auf die Beschwerde aufgehoben:

„…Widerrufsgründe liegen nicht vor.

1. Der Angeklagte hat nicht dadurch gröblich und beharrlich gegen ihm erteilte Auflagen verstoßen, § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB, weil er die ihm erteilte Arbeitsauflage nicht innerhalb der ihm vom Gericht gesetzten Frist erfüllt hat. Denn es ist bereits nicht ersichtlich, dass er innerhalb dieser Frist von 6 Monaten nach Rechtskraft entsprechende Weisungen seiner Bewährungshelferin erhalten hätte. Eine andere Frist hat das Landgericht nicht gesetzt, so dass der Verurteilte davon ausgehen konnte, die Auflage (nunmehr) bis zum Ablauf der Bewährungszeit erfüllen zu können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. September 2015 – 2 BvR 2343/14 -, juris).

2. Auch ein Widerruf gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 2. Alt. StGB kommt nicht in Betracht. Dieser setzt voraus, dass der Verurteilte sich beharrlich der Aufsicht und Leitung seines Bewährungshelfers entzieht. Erforderlich ist darüber hinaus, dass deshalb Anlass zu der Besorgnis besteht, er werde erneut Straftaten begehen, denn der Widerruf dient nicht der Ahndung nachlässigen und weisungswidrigen Verhaltens im Bewährungsverfahren (st. Rspr.). Der Verstoß muss somit durch Art, Gewicht oder Häufigkeit Anlass zur Neubewertung der ursprünglich positiven Sozialprognose geben: Das Gericht hat insoweit unter Würdigung der Verstöße in ihrer konkreten Bedeutung und unter Berücksichtigung des gesamten Verhaltens des Verurteilten während der Bewährungszeit eine erneute Prognose zu stellen. Nur wenn die Verstöße zu krimineller Neigung oder Auffälligkeit des Verurteilten so in Beziehung stehen, dass hierdurch weitere Straftaten zu befürchten sind, kommt ein hierauf gestützter Widerruf in Betracht (BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2007 – 2 BvR 1046/07 -, juris Rn. 19; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2013 – III-1 Ws 124/13 -, juris). Der Verstoß gegen Weisungen für sich allein trägt eine negative Prognose daher nicht. Der weisungswidrige Abbruch des Kontakts zum Bewährungshelfer lässt nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf eine kriminelle Prognose zu; erforderlich sind vielmehr stets weitere konkrete und objektivierbare Anhaltspunkte dafür, der Verurteilte werde weitere Straftaten begehen (BVerfG a.a.O.).

Solche konkreten Anhaltspunkte sind vorliegend nicht zu erkennen. Der Verurteilte ist nach den Feststellungen des Urteils vom 19. April 2018 strafrechtlich sonst nicht in Erscheinung getreten. Zwar hat er, wie er gegenüber der Bewährungshelferin eingeräumt hat, etwa Ende April 2018 begonnen, Crack zu rauchen. Nachdem der Verurteilte sich wegen einer drogeninduzierten Psychose in stationärer Behandlung befand, den Aufenthalt in Alzey als sehr positiv beschrieb und sich sichtlich beeindruckt von den Auswirkungen des Crackrauchens zeigte, vermag der Senat jedoch auch unter Berücksichtigung des mehrmonatigen Drogenmissbrauchs nicht zu erkennen, dass der Verurteilte durch den Kontaktabbruch Anlass zu der Besorgnis böte, dass er erneut Straftaten begehen werde. Dies gilt umso mehr, als der Verurteilte sich seit Anfang Juni wieder in Deutschland aufhält, Kontakt mit seiner Bewährungshelferin aufgenommen und sich mittlerweile bei der Stadtverwaltung vorgestellt hat, bei der er die Arbeitsstunden ableisten soll.

Der Senat weist den Verurteilten aber darauf hin, dass der Erfolg seines Rechtsmittels für ihn kein Freibrief ist. Er hat vielmehr den ihm erteilten Weisungen und Ladungen der Strafkammer nachzukommen, andernfalls er wiederum mit einem Widerrufsverfahren rechnen muss.

Bewährungswiderruf wegen erneuter Verurteilung, oder: „Leider nicht rechtskräftig.“

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Und zur Abrundung als dritte Entscheidung dann der AG Dortmund, Beschl. v. 20.09.2018 – 764 AR 16/17 BEW. Es geht noch einmal um den Anforderungen an den Bewährungswiderruf auf der Grundlage einer erneuten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe.  Hier war der Verurteilte erneut zu einer Freiheitsstrafe – ohne Bewährung – verurteilt worden. Die Verurteilung war aber nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft hate aber dennoch schon aufgrund eines angeblich vorliegenden Geständnisses den Widerruf beantragt. Das AG konnte jedoch ein Geständnis des Angeklagten in dem Verfahren nicht feststellen.

„…. Ein Schuldgeständnis kann anerkanntermaßen einen Widerruf wegen erneuter Straffälligkeit auch ohne eine rechtskräftige Verurteilung tragen. Die mit Verfassungsrang versehene Unschuldsvermutung tritt dann zurück. Hier kann das angebliche Geständnis sich angesichts der Urteilsgründe nicht feststellen lassen. Hierin heißt es zu den tatsächlichen Feststellungen:

„Dieser Sachverhalt steht fest aufgrund des schriftlichen Geständnisses des Angeklagten B, soweit ihm gefolgt werden konnte und dem sich die übrigen Angeklagten angeschlossen haben, darüber hinaus den weiteren Angaben der Angeklagten C, D und E. Des Weiteren stützt das Gericht seine Feststellungen auf die Angaben der Zeugen F, G und H. Schließlich wurden die in der Akte vorhandenen Lichtbilder zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht, die Expertise über die Funkgeräte, die Sicherstellungsprotokolle und die Auszüge aus dem Bundeszentralregister.“

Damit steht überhaupt nicht fest, ob die Verurteilung tatsächlich gerade auf dem Geständnis des Angeklagten beruht und welchen Inhalt das Geständnis gegebenenfalls hatte.

Weiterhin finden sich in dem Urteil des Amtsgerichts St.Goar im Rahmen der Strafzumessung Ausführungen zu dem angeblichen Geständnis:

„Bei allen vier Angeklagten war zu ihren Gunsten ihr Geständnis zu werten, das teilweise bereits im Ermittlungsverfahren abgegeben wurde. Andererseits war dieses Geständnis nicht von besonderem Wert, weil die Angeklagten ja auf frischer Tat ertappt und identifiziert worden waren. Sie haben der Polizei dadurch kaum Ermittlungsarbeit erspart. Weiter war zu Gunsten der Angeklagten zu berücksichtigen, dass sie Reue zeigten und sich am Ende der Hauptverhandlung entschuldigten.“

Abgesehen davon, dass Ausführungen im Rahmen der Strafzumessungserwägungen, die pauschal mehrere Angeklagte betreffen kaum hinsichtlich eines der Angeklagten als Schuldgeständnis im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung anzusehen sind, das die Unschuldsvermutung überwinden kann, bleibt es dabei, dass in den tatsächlichen Feststellungen sich vielmehr Formulierungen dahin ergeben, dass es neben einem Geständnis tatsächlich weiterer umfangreicher Beweisaufnahmen erforderte, um den Verurteilten als Täter zu überführen und zu verurteilen. Schließlich sind die Formulierungen auch im Rahmen der Strafzumessungserwägungen derart pauschal, dass das Gericht hierauf einen Widerruf nicht stützen kann.“

Ist so auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG zutreffend. Die Formulierung: „Leider nicht rechtskräftig.“ im AG-Beschluss ist allerdings überflüssig.

Bewährungswiderruf wegen neuer Straffälligkeit, oder: Kopfschütteln

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Die zweite Entscheidung in der Reihe der Entscheidungen, die ich in dieser Woche vorstellen möchte/werde, ist der VerfGH Thüringen, Beschl. v. 03.05.2017 – VerfGH 52/16 -, der sich mit einer Bewährungsfrage befasst. Es geht um den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56f StGB) aufgrund erneuter Straffälligkeit durch das Vollstreckungsgericht in den Fällen, in denen vom Tatgericht noch einmal Strafaussetzung zur Bewährung gewährt worden ist. Dazu sagt der VerfGH:

„4. Aus diesem mit einem besonderen Rang ausgestatteten Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf ergeben sich in Hinsicht auf eine durch einen Bewährungsbruch veranlassten vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB besondere verfassungsrechtliche Anforderungen.

a) Zunächst ist das Vollstreckungsgericht gehalten, die grundsätzlich bestehende Entscheidungsprärogative des Tatgerichts zu beachten, das die Strafe trotz des Bewährungsbruchs erneut nach § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat. Will das Vollstreckungsgericht von der Entscheidung des Tatgerichts abweichen, hat es sich intensiv und nicht lediglich formelhaft mit dessen Begründung auseinanderzusetzen. Das bedeutet für die hier vorliegende Konstellation konkret:

aa) Das Vollstreckungsgericht hat seine Entscheidung über den Widerruf eines Strafaussetzung aufgrund einer neuen Prognose zu treffen (Stree/Kinzing, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl., 2014, § 56f, Rn. 9). Neue Straftaten in der Bewährungszeit stellen dabei grundsätzlich ein Indiz dafür dar, dass sich die bei der vorherigen Verurteilung gehegte Erwartung, der Täter werde sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs einen rechtstreuen Lebenswandel führen, nicht erfüllt hat. Neue Straftaten führen jedoch nicht zwingend zum Widerruf der Strafaussetzung und stehen einer günstigen Prognose nicht durchweg entgegen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. Juni 2009 – StB 29/09 -, juris Rn. 4).

bb) Das Vollstreckungsgericht ist bei seiner Prognoseentscheidung grundsätzlich gehalten, sich der sach- und zeitnäheren Prognose des Tatgerichts anzuschließen, das die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat beurteilt hat; dieses Gericht besitzt aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen unmittelbaren Eindrucks von der Erscheinung, des Verhaltens und der Persönlichkeit des Straftäters die besseren Erkenntnismöglichkeiten (vgl. BVerfG-Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84 -, NStZ 1985, 357; BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. Dezember 1986 – 2 BvR 796/86 -, NStZ 1987, S. 118; BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4; VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 22; entsprechende fachgerichtliche Entscheidungen: OLG Köln, Beschluss vom 19. März 1993 – 2 Ws 115 – 116/93, StV 1993, S. 429; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.Oktober 1996 – 1 Ws 895 – 896/96, StV 1998, 214; OLG Hamm, Beschluss vom 6. Februar 2014 – III-1 Ws 36/14, 1 Ws 36/14, juris Rn. 8). Es würde dem hohen Rang des Grundrechts der Freiheit der Person und dem besonderen Gewicht, der ihm zukommt, nicht gerecht, wenn das Vollstreckungsgericht sich daher ohne weiteres über die Prognoseentscheidung des Tatgerichts hinwegsetzen könnte.

cc) Die Pflicht des Vollstreckungsgerichts, sich der Prognose des Tatgerichts anzuschließen und somit dessen Beurteilungsprärogative zu beachten, besteht gleichwohl nur grundsätzlich.

a) Diese Pflicht findet dann ihre unweigerliche Grenze, wenn das Tatgericht die ihm zu Gebote stehende Möglichkeit, aufgrund der größeren Sach- und Zeitnähe sich eine bessere Erkenntnisgrundlage für die von ihm zu treffende Prognose zu verschaffen, gar nicht oder nur in unzureichendem Maße wahrgenommen hat.

Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, das Tatgericht etwa ganz ohne Begründung seiner Prognose entschieden (vgl. VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 24), hinsichtlich dieser Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrunde liegenden Erwägungen gar nicht auseinandergesetzt hat (vgl. VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 26); gleiches gilt selbstverständlich auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4).

b) Darüber hinaus kann das Vollstreckungsgericht sich aber insbesondere auch dann über die tatgerichtliche Prognose hinwegsetzen, wenn es aufgrund neuerer, etwa im Wege einer Anhörung nach § 453 Abs. 1 Satz 2 StPO gewonnener Erkenntnisse die Erwägungen und Begründungen des Tatgerichts entkräften kann oder sich ihm aufgrund solcher neueren Erkenntnisse eine andere Prognose aufdrängt.

b) Ganz unabhängig davon, ob die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen, ist das Vollstreckungsgericht aufgrund des bei Eingriffen in das Grundrecht der Freiheit der Person streng zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings auch verpflichtet, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen und zu würdigen, ob weniger einschneidende Maßnahmen als ein Widerruf der Strafaussetzung ausreichen, um die verurteilte Person von weiteren Straftaten abzuhalten oder dem Genugtuungsinteresse zu entsprechen. Knappe und allgemeine Wendungen in der Entscheidungsbegründung genügen in einem solchen Falle nicht. Erst recht gilt dies, wenn zwischen dem Zeitpunkt der tatgerichtlichen und dem Zeitpunkt der vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung neue Aspekte und Umstände aufgetreten sind, die eine eingehende Prüfung und Würdigung nahelegen, ob die Voraussetzungen für das Absehen von einem Widerruf nach § 56f. Abs. 2 StGB gegeben sind.“

In meinen Augen nichts Neues zur Frage der „Bindung an die Anlassverurteilung“ und ich frage mich kopfschüttelnd – mal wieder – warum man dafür ein Verfassungsgericht braucht. Der VerfGH hat dann allerdings auch nicht wegen der Frage aufgehoben, sondern:

„5. Es kann hier dahinstehen, ob der angegriffene Beschluss des Vollstreckungsgerichts den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, die Vollstreckungsgerichte bei Abweichungen von tatgerichtlichen Entscheidungen zu beachten haben.
Auf jeden Fall hat das Vollstreckungsgericht hier die Bedeutung und die Tragweite des Grundrechts der Freiheit der Person hinsichtlich der Frage verkannt, ob nicht aufgrund der Schwangerschaft auch ein milderes Mittel als der Widerruf der Strafaussetzung in Betracht kommt. Bei dieser Prüfung und Würdigung dieser Frage hat ein Vollstreckungsgericht nämlich eine besondere Sorgfalt an den Tag zu legen.
Entgegen dieser Anforderung führte das Vollstreckungsgericht indessen lediglich aus, dass mildere Maßnahmen als der Bewährungwiderruf gemäß § 56f Abs. 2 StGB derzeit keinen Erfolg versprächen und der Widerruf deshalb nicht unverhältnismäßig sei. Diese Ausführung beschränkt sich nur auf die Behauptung der Verhältnismäßigkeit des Widerrufs; eine Begründung gibt das Gericht dafür jedoch nicht.
Im vorliegenden Fall war im Übrigen nicht zuletzt auch deswegen eine eingehendere Prüfung geboten, da die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Entscheidung im achten Monat schwanger und dies dem Gericht bekannt war; die fachgerichtliche Rechtsprechung geht offenbar davon aus, dass im Falle einer Schwangerschaft das mildere Mittel einer Verlängerung der Bewährungszeit zumindest näher in Betracht zu ziehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 1987 – 1 BJs 76/80 – 2 StB 6/87, StV 1987, 350).“

Auch an der Stelle: Zumindest leichtes Kopfschütteln.

Widerruf der „Hoeneßbewährung“?, oder: Wie ahnungslos darf man als Justizminister eigentlich sein?

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Freitagabend gegen 19.00 Uhr ist nun an sich nicht meine Blogzeit. Und das erst recht nicht, wenn es morgen für eine Woche in den Urlaub geht. Aber, wenn ich solch einen Blödsinn lese, wie hier bei N-TV zum potentiellen Widerruf der Bewährung von Uli Hoeneß, dann muss ich in die Tasten hauen. Da heißt es unter:

„Widerruf der Bewährung prüfen“NRW-Justizminister droht Hoeneß mit Haft

Muss Uli Hoeneß zurück ins Gefängnis? Seine umstrittene Äußerung, dass er einen Freispruch für seine Steuerhinterziehung in Millionenhöhe erwartet hätte, könnte ein juristisches Nachspiel haben. Davor warnt NRW-Justizminister Kutschaty.

Thomas Kutschaty, der Justizminister von Nordrhein-Westfalen, richtet deutliche Worte an Uli Hoeneß: „Er sollte sehr vorsichtig sein. Denn er steht unter Bewährung. Und bei solchen Äußerungen kann man schon den Widerruf der Bewährung prüfen“, zitiert ihn die „Bild“-Zeitung.

Damit reagiert er auf den Auftritt Hoeneß‘ in Liechtenstein. Dort hatte der 65-Jährige Anfang der Woche gesagt: „Ich bin der einzige Deutsche, der Selbstanzeige gemacht hat und trotzdem im Gefängnis war.“ Für Empörung sorgte er endgültig mit den Worten: „Ein Freispruch wäre völlig normal gewesen.“

Kutschaty ist entsetzt: „Offensichtlich haben 21 Monate in einem bayrischen Luxusknast mit Wochenendurlauben und Aufenthalten in der Schön-Klinik am Starnberger See nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Im Steuerparadies Liechtenstein macht er sich über die ehrlichen Steuerzahler lustig“, sagte der 48-Jährige der „Bild“.

Jetzt lassen wir mal die Äußerungen der „Majestät“ Hoeneß außen vor – die sind/waren auch blöd. Aber: Den Bewährungswiderruf möchte ich dann mal sehen. Vielleicht schaut der Herr Minister mal zunächst ins Gesetz. Dann findet er den § 56f StGB. Und in dem finde ich keine Regelung, die den Bewährungswiderruf in der Sache stützen könnte.

Dazu sollte auch ein Minister in der Lage sein, vor allem, wenn er als Rechtanwalt zugelassen ist. Aber wahrscheinlich hat er – so kurz vor der Landtagswahl in NRW – seinen Sachverstand bei der Parteizentrale abgegeben. Das würde zu dem Agieren in den vergangenen fünf Jahren passen. Mir ist er nämlich nicht durch besonders kluge Aktionen aufgefallen. Man kann nur hoffen, dass der Spuk am Montag vorbei ist. Und am besten gehen mit ihm gleich einige Mitarbeiter aus dem Ministerium, die solche Meldungen nicht verhindert haben.

So, und jetzt fahre ich an die Nordsee 🙂 .