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Bewährung II: Abstinenzweisung versus Sucht, oder: Bewährungswiderruf beim Weisungsverstoß

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist schon etwas älter. Ich habe sie immer wieder übersehen. Es handelt sich um den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 21.12.2021 – JKII Qs 25/21 jug -, den mir der Kollege Peisl aus Nürnberg vor einiger Zeit geschickt hat.

Das LG nimmt Stellung zum Widerruf der Bewährung wegen eines Weisungsverstoßes. Im Bewährungsbeschluss wurde der Verurteilte u.a. angewiesen, sich in der Bewährungszeit frei von für den Probanden illegalen Drogen, rauscherzeugenden Kräutern sowie sonstigen psychoaktiven Stoffen zu führen und auf Anfordern der Bewährungshilfe Urinproben zu absolvieren.

Wegen eines Verstoßes gegen diese Weisung ist dann widerrufen worden. Das LG meint: Zu Unrecht:

„2. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 08.10.2021 ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Bewährung waren vorliegend nicht erfüllt.

Gemäß §§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG widerruft das Gericht die Aussetzung der Jugendstrafe unter anderem dann, wenn der Jugendliche oder Heranwachsende gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass er erneut Straftaten begehen wird.

a) Voraussetzung für den Widerruf wegen eines Weisungsverstoßes ist folglich, dass zunächst beharrlich und / oder gröblich gegen die erteilten Weisungen verstoßen wird.

Gröblich ist ein Verstoß, wenn er objektiv erheblich und nicht lediglich unwesentlich ist und es sich subjektiv um eine schuldhafte Zuwiderhandlung handelt, die zum Ausdruck bringt, dass sich der Verurteilte die Straffreiheit nicht verdienen will (BeckOK-JGG, 23. Edition, Stand: 01.11.2021, § 26 Rn. 17).

Die Beharrlichkeit eines Verstoßes setzt grundsätzlich ein wiederholtes Zuwiderhandeln und / oder ein Zuwiderhandeln auf längere Zeit voraus (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20.05,2008, 3 Ws 187/08, juris Rn. 23). Der Jugendliche muss mindestens schon einmal gegen die konkrete Weisung verstoßen haben und aus Missachtung oder Gleichgültigkeit dies immer wieder tun (vgl. LG Saarbrücken, Beschluss vom 11.05.2005, 4 Qs 21/05 I, juris Rn. 33).

Ein Widerruf setzt zudem die Vorwerfbarkeit des Verstoßes voraus (vgl. BeckOK-JGG, aa0, Rn. 13). Verstöße gegen Weisungen, die im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung stehen, müssen für den Verurteilten vermeidbar sein (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 12.02.2008, 3 Ws 52/08, NStZ-RR 2008, 220, Leitsatz 2, zu § 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB).

b) Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sind die Voraussetzungen für einen Widerruf aufgrund eines beharrlichen und gröblichen Verstoßes gegen das Verbot, Betäubungsmittel im Sinne des BtMG zu konsumieren, gemäß §§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG vorliegend nicht gegeben.

aa) Die Weisung hinsichtlich des Betäubungsmittelverbots als solche war bereits unverhältnismäßig.

Nach der Rechtsprechung ist es als ausreichend zu erachten, wenn die Frage, ob der suchtmittelabhängige Verurteilte unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse, des Grades seiner Abhängigkeit und des Verlaufs und des Erfolgs der bisherigen Therapiebemühungen überhaupt zu nachhaltiger Abstinenz in der Lage ist, im Rahmen der Entscheidung über einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geprüft wird (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.12.2016, 3 Ws 370/16, BeckRS 2016, 112243). Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.03.2016, 2 BvR 496/12) entschieden, dass eine Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 StGB regelmäßig dann verhältnismäßig ist, wenn sie gegenüber einer Person angeordnet wird, die ohne Weiteres zum Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln fähig ist, und wenn im Falle erneuten Alkohol- oder Suchtmittelkonsums mit der Begehung erheblicher, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit betreffender Straftaten zu rechnen ist. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Regeln sind hier entsprechend anzuwenden.

Vorliegend ist schon eine entsprechende Fähigkeit zum Verzicht nicht gegeben. Aus den vom Verurteilten vorgelegten medizinischen Unterlagen ergibt sich, dass der Verurteilte an einer paranoiden Schizophrenie ebenso leidet wie an psychischen Störungen und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und den Konsum anderer psychotroper Substanzen in Form eines schädlichen Gebrauches. Zwar stellt der schädliche Gebrauch eine Vorstufe einer Abhängigkeitserkrankung dar, die dem Verurteilten vorliegend ärztlicherseits nicht diagnostiziert wurde. Aus dem im Bewährungsheft ersichtlichen Verlauf der Bewährung folgt ebenfalls, dass dem Verurteilten der Verzicht auf den Genuss von Alkohol oder Cannabisprodukten nicht ohne weiteres möglich ist. Er hat bereits die zweite Entgiftungsbehandlung hinter sich, Rückfälle ziehen sich durch die Akte. Auch das Amtsgericht Fürth spricht im angegriffenen Beschluss von einer Suchtverlagerung von Alkohol in Richtung Umgang mit Betäubungsmitteln.

bb) Vorliegend hat der Verurteilte zwar gegen Auflagen im Rahmen seiner Bewährung verstoßen: in einer Urinprobe des Verurteilten waren Cannabinoide unterhalb des Grenzwertes nachweisbar (27.04.2021, Blatt 48 ff. BewH); zwei weitere Urinproben waren positiv auf Cannabinoide (27.02.2021, Blatt 60 ff. BewH; 11.08.2021, Blatt 64 ff. BewH). Zum Anhörungstermin am 17.09.2021 erschien der Verurteilte beim Amtsgericht Fürth mit 0,56 g Marihuana, die bei der Einlasskontrolle entdeckt wurden.

Aufgrund der dargestellten Suchtproblematik sind die dargestellten Verstöße dem Verurteilten jedoch nicht vorwerfbar.“

Strafe II: „langwierige unbehandelte Suchtproblematik“, oder: Zweifelssatz zu Lasten?

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Die zweite Strafzumessungsentscheidung stammt ebenfalls vom 1. Strafsenat des BGH. Der hat im BGH, Beschl. v. 22.07.2020 – 1 StR 220/20 – die Strafzumessung in einem Urteil des LG Karlsruhe in zwei Punkten moniert.

Das LG hat die Angeklagten jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen verurteilt, die Angeklagte S. zu zwei Jahren und sechs Monaten, den Angeklagten Sc. zu einem Jahr und acht Monaten und den Angeklagten E. zu zwei Jahren und neun Monaten.Die Rechtsmittel der Angeklagten hatten Erfolg:

„1. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat bei den drogenabhängigen Angeklagten S. und Sc. jeweils als strafschärfend gewertet, dass sie „eine ungelöste Suchtproblematik“ aufweisen. Bei dem unter einer schweren Suchterkrankung leidenden Angeklagten E. , der eine „Vielzahl von stationären Entgiftung- und Therapiemaßnahmen“ erfolglos durchlaufen hat, hat es strafschärfend dessen „langwierige, unbehandelte Suchtproblematik“ eingestellt. Dies ist rechtsfehlerhaft. Grundlagen der Strafzumessung sind gemäß § 46 StGB der Grad der persönlichen Schuld des Täters sowie die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung. Zwar kann eine etwa vorhandene Therapiebereitschaft eine strafmildernde Wirkung entfalten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 4 StR 234/17 Rn. 5 mwN). Umgekehrt aber begegnen der Wertung einer fehlenden Therapiebereitschaft als Strafschärfungsgrund dann Bedenken, wenn die Weigerung, sich therapeutischer Hilfe zu bedienen, nicht ausschließbar gerade durch die Grunderkrankung bedingt ist. So verhält es sich hier. Es ist zu besorgen, dass sich gerade die Alkohol- und Betäubungsmittelabhängigkeit der Angeklagten bei der Bemessung der Höhe der jeweiligen Freiheitsstrafe zu ihrem Nachteil ausgewirkt hat.

b) Bezüglich des Angeklagten Sc. kann der Strafausspruch aus einem weiteren Grund keinen Bestand haben. Die Strafkammer unterstellt zwar im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinn zu seinen Gunsten, dass nach seiner Einlassung (die sie allerdings im Rahmen der Beweiswürdigung als „beschönigend“ und Schutzbehauptung gewertet hat, UA S. 28 f.) er und nicht der Mitangeklagte G. deeskalierend auf den Angeklagten E. einwirkte (UA S. 20, 46). Bei der Prüfung, ob der vertypte Strafmilderungsgrund des § 21 StGB gegeben ist, führt sie aber gegen die Annahme einer rechtlich erheblichen Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit infolge seiner Alkoholisierung dieses deeskalierende Verhalten an (UA S. 40 f.). Dies ist rechtsfehlerhaft; denn der Zweifelssatz darf nicht so angewendet werden, dass er sich an anderer Stelle zu Lasten des Täters auswirkt (Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 20 Rn. 67, vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 5. März 2013 – 5 StR 25/13 Rn. 6 mwN). Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich dieser Rechtsfehler bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten Sc. ausgewirkt hat. Der Strafausspruch bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.“