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Bewährung II: Abstinenzweisung versus Sucht, oder: Bewährungswiderruf beim Weisungsverstoß

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist schon etwas älter. Ich habe sie immer wieder übersehen. Es handelt sich um den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 21.12.2021 – JKII Qs 25/21 jug -, den mir der Kollege Peisl aus Nürnberg vor einiger Zeit geschickt hat.

Das LG nimmt Stellung zum Widerruf der Bewährung wegen eines Weisungsverstoßes. Im Bewährungsbeschluss wurde der Verurteilte u.a. angewiesen, sich in der Bewährungszeit frei von für den Probanden illegalen Drogen, rauscherzeugenden Kräutern sowie sonstigen psychoaktiven Stoffen zu führen und auf Anfordern der Bewährungshilfe Urinproben zu absolvieren.

Wegen eines Verstoßes gegen diese Weisung ist dann widerrufen worden. Das LG meint: Zu Unrecht:

„2. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 08.10.2021 ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Bewährung waren vorliegend nicht erfüllt.

Gemäß §§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG widerruft das Gericht die Aussetzung der Jugendstrafe unter anderem dann, wenn der Jugendliche oder Heranwachsende gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass er erneut Straftaten begehen wird.

a) Voraussetzung für den Widerruf wegen eines Weisungsverstoßes ist folglich, dass zunächst beharrlich und / oder gröblich gegen die erteilten Weisungen verstoßen wird.

Gröblich ist ein Verstoß, wenn er objektiv erheblich und nicht lediglich unwesentlich ist und es sich subjektiv um eine schuldhafte Zuwiderhandlung handelt, die zum Ausdruck bringt, dass sich der Verurteilte die Straffreiheit nicht verdienen will (BeckOK-JGG, 23. Edition, Stand: 01.11.2021, § 26 Rn. 17).

Die Beharrlichkeit eines Verstoßes setzt grundsätzlich ein wiederholtes Zuwiderhandeln und / oder ein Zuwiderhandeln auf längere Zeit voraus (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20.05,2008, 3 Ws 187/08, juris Rn. 23). Der Jugendliche muss mindestens schon einmal gegen die konkrete Weisung verstoßen haben und aus Missachtung oder Gleichgültigkeit dies immer wieder tun (vgl. LG Saarbrücken, Beschluss vom 11.05.2005, 4 Qs 21/05 I, juris Rn. 33).

Ein Widerruf setzt zudem die Vorwerfbarkeit des Verstoßes voraus (vgl. BeckOK-JGG, aa0, Rn. 13). Verstöße gegen Weisungen, die im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung stehen, müssen für den Verurteilten vermeidbar sein (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 12.02.2008, 3 Ws 52/08, NStZ-RR 2008, 220, Leitsatz 2, zu § 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB).

b) Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sind die Voraussetzungen für einen Widerruf aufgrund eines beharrlichen und gröblichen Verstoßes gegen das Verbot, Betäubungsmittel im Sinne des BtMG zu konsumieren, gemäß §§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 109 Abs. 2 Satz 1 JGG vorliegend nicht gegeben.

aa) Die Weisung hinsichtlich des Betäubungsmittelverbots als solche war bereits unverhältnismäßig.

Nach der Rechtsprechung ist es als ausreichend zu erachten, wenn die Frage, ob der suchtmittelabhängige Verurteilte unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse, des Grades seiner Abhängigkeit und des Verlaufs und des Erfolgs der bisherigen Therapiebemühungen überhaupt zu nachhaltiger Abstinenz in der Lage ist, im Rahmen der Entscheidung über einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geprüft wird (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.12.2016, 3 Ws 370/16, BeckRS 2016, 112243). Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.03.2016, 2 BvR 496/12) entschieden, dass eine Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 StGB regelmäßig dann verhältnismäßig ist, wenn sie gegenüber einer Person angeordnet wird, die ohne Weiteres zum Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln fähig ist, und wenn im Falle erneuten Alkohol- oder Suchtmittelkonsums mit der Begehung erheblicher, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit betreffender Straftaten zu rechnen ist. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Regeln sind hier entsprechend anzuwenden.

Vorliegend ist schon eine entsprechende Fähigkeit zum Verzicht nicht gegeben. Aus den vom Verurteilten vorgelegten medizinischen Unterlagen ergibt sich, dass der Verurteilte an einer paranoiden Schizophrenie ebenso leidet wie an psychischen Störungen und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und den Konsum anderer psychotroper Substanzen in Form eines schädlichen Gebrauches. Zwar stellt der schädliche Gebrauch eine Vorstufe einer Abhängigkeitserkrankung dar, die dem Verurteilten vorliegend ärztlicherseits nicht diagnostiziert wurde. Aus dem im Bewährungsheft ersichtlichen Verlauf der Bewährung folgt ebenfalls, dass dem Verurteilten der Verzicht auf den Genuss von Alkohol oder Cannabisprodukten nicht ohne weiteres möglich ist. Er hat bereits die zweite Entgiftungsbehandlung hinter sich, Rückfälle ziehen sich durch die Akte. Auch das Amtsgericht Fürth spricht im angegriffenen Beschluss von einer Suchtverlagerung von Alkohol in Richtung Umgang mit Betäubungsmitteln.

bb) Vorliegend hat der Verurteilte zwar gegen Auflagen im Rahmen seiner Bewährung verstoßen: in einer Urinprobe des Verurteilten waren Cannabinoide unterhalb des Grenzwertes nachweisbar (27.04.2021, Blatt 48 ff. BewH); zwei weitere Urinproben waren positiv auf Cannabinoide (27.02.2021, Blatt 60 ff. BewH; 11.08.2021, Blatt 64 ff. BewH). Zum Anhörungstermin am 17.09.2021 erschien der Verurteilte beim Amtsgericht Fürth mit 0,56 g Marihuana, die bei der Einlasskontrolle entdeckt wurden.

Aufgrund der dargestellten Suchtproblematik sind die dargestellten Verstöße dem Verurteilten jedoch nicht vorwerfbar.“

Pflichti: Kleine Sammlung zu Beiordnungsgründen, oder: Eröffnung Tatvorwurf, Rechtsfolge, Polizeizeugen

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So, es haben sich mal wieder einige Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO – also Pflichtverteidigung – angesammmelt. Die stelle ich heute vor, allerdings nicht alle einzeln. Das würde den Rahmen sprengen. Ich habe daher versucht, die Entscheidungen thematisch zusammen zu fassen.

Ich starte hier dann mit den Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Ein Fall der notwendigen Verteidigung unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann aufgrund der zu erwartenden umfangreicheren Beweisaufnahme durch Vernehmung einer Vielzahl von Polizeizeugen anzunehmen sein.

Der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs ist nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von §§ 136, 163a StPO hinreichend sind. Vielmehr genügt es für die Eröffnung des Tatvorwurfs, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf andere Weise als durch amtliche Mitteilung von dem Tatvorwurf gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden ist.

Das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist im Regelfall anzunehmen, wenn eine mögliche Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe oder mehr im Raum steht. Bei der insoweit zu treffenden Prognose sind grundsätzlich alle gegen den Beschuldigten derzeit geführten Verfahren zu berücksichtigen, wobei die Grenze auch dann gelten soll, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamtstrafe erreicht wird. Hierbei handelt es sich allerdings keinesfalls um einen Automatismus. Vielmehr kommt es stets auf eine konkrete Einzelfallbewertung an.

Ist dem Beschuldigten der Tatvorwurf nicht von einer zuständigen Ermittlungsbehörde eröffnet worden, sondern ist ihm anderweitig bekannt geworden, dass ein Ermittlungsverfahren geführt wird, kann nicht von einer als Eröffnung des Tatvorwurfs im Sinne des § 141 StPO ausgegangen werden.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Staatsanwaltschaft ggf. nur den Erlass eines Strafbefehls beantragt und damit ein Bewährungswiderruf wenig wahrscheinlich ist.

StGB III: Keine Kontakte zum Bewährungshelfer, oder: In Strafhaft kann man sich nicht „beharrlich entziehen“

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Und die dritte Entscheidung äußert sich dann auch noch einmal zu einer Bewährungsfrage. Jetzt geht es aber nicht um die Gewährung von Bewährung, sondern um den Bewährungswiderruf (§ 56f StGB).

Der Verurteilte ist zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt; die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wird auf drei Jahre fest und der Verurteilte der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt.  Den Berichten des zuständigen Bewährungshelfers ist dann zu entnehmen, dass sich die Bewährungsaufsicht von Beginn an schwierig gestaltete. Es fanden zwar vereinzelte Kontakte statt, es gab aber auch wiederholt mehrmonatige Kontaktabbrüche, während derer der Verurteilte mit den Mitteln der Bewährungshilfe in keiner Form erreicht werden konnte.

Seit dem 01.04.2021 befindet sich der Verurteilte dann in anderer Sache in Strafhaft, das Strafende ist auf den 05.05.2023 notiert.

Die Strafvollstreckungskammer hat die Strafaussetzung zur Bewährung wegen beharrlichen Sich-Entziehens der Bewährungsaufsicht nach § 56f Abs.1 S. 1 Nr. 2 StGB widerrufen. Dagegen das Rechtsmittel, das beim OLG Saarbrücken mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.11.2021 – 4 Ws 162/21 – Erfolg hatte:

„Die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses ist deshalb veranlasst, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung nach § 56f Abs.1 S.1 Nr.2, 2. Alt. StGB im vorliegenden Fall nicht gegeben sind. Danach widerruft das Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass sie erneut Straftaten begehen wird. Demnach verlangt   § 56f StGB, seinem Charakter als Muss-Vorschrift mit möglicherweise harten Konsequenzen entsprechend, Umstände von einer gesteigerten Erheblichkeit (Groß/Kett-Straub in: MüKo, StGB, 4. Auflage, § 56f Rdnr.14). Das Merkmal „beharrlich“ stellt dabei nicht auf die Schwere der Verfehlung im Einzelfall ab, sondern enthält eine Wiederholungskomponente: Es genügt nicht der einmalige, vielleicht sogar „grobe“ Verstoß, sondern dieser muss sich fortsetzen und, ggf. im Zusammenhang mit der bekanntgewordenen Einstellung des Verurteilten, den Schluss erlauben, dass er auch in Zukunft der Weisung keine Folge leisten wird (MüKo a.a.O., Rdnr.15). Eine ablehnende Haltung gegen die erteilte Weisung kann insbesondere aus andauerndem Verhalten (Flucht, Sich-Verstecken) abgeleitet werden (vgl. Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage, § 56f Rdnr.14), das dazu führt, dass die Bewährungshilfe den Einfluss auf den Verurteilten insgesamt verliert (vgl. Hubrach in: LK, StGB, 12. Auflage, § 56f Rdnr.22; Trüg in: Leibold/Tsambikakis/Zöller, StGB, 3. Auflage, § 56f Rdnr.19 m.w.N.).

Vor diesem Hintergrund kann im vorliegenden Fall jedenfalls derzeit nach Aktenlage aufgrund der Inhaftierung des Verurteilten seit dem 1. April 2021 nicht mehr von einem beharrlichen Verstoß gegen die erteilte Weisung in Form der Unterstellung unter die Bewährungshilfe ausgegangen werden, mag dies auch in der Vergangenheit durch die fehlende Kontakthaltung und die wiederholten Kontaktabbrüche der Fall gewesen sein. Denn der Verurteilte ist für die Bewährungshilfe in der Justizvollzugsanstalt erreichbar und es bestehen auch keine begründeten Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte sich einer Zusammenarbeit verweigern und die Bewährungshilfe demnach den Einfluss auf den Verurteilten insgesamt verlieren wird.

Insoweit ergibt sich aus dem Bericht des Bewährungshelfers vom 13. September 2019, dass die mangelnde Kontakthaltung damals mit der schwierigen persönlichen Lebenssituation des Verurteilten zu erklären und nicht etwa Ausdruck einer ablehnenden Haltung gegenüber der erteilten Weisung war.

Da es aufgrund der geschilderten Umstände bereits an dem Tatbestandsmerkmal des beharrlichen Sich-Entziehens fehlt, kommt es auf die weitere einschränkende Voraussetzung des § 56f Abs.1 S.1 Nr.2, dass der Verurteilte aufgrund des Weisungsverstoßes „Anlass zu der Besorgnis gibt, dass er erneut Straftaten begehen wird“ nicht mehr an.“

Bewährung III: Rechtliches Gehör vor Widerruf, oder: Wenn die Anhörung vor der Entscheidung unterbleibt….

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Und als dritte Entscheidung zu Bewährungsfragen dann etwas Verfahrensrechtliches, nämlich zur Frage der Zustellung der Ladung zur mündlichen Anhörung und zur Frage der Folgen, wenn diese unterbleibt. Dazu verhält sich der LG Itzehoe, Beschl. v. 15.10.2021 – 2 Qs 183/21, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, nämlich:

  1. Wird eine sofortige Beschwerde durch das Beschwerdegericht für begründet erachtet, so erlässt es nach § 309 Abs. 2 StPO im Regelfall zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung. Die Zurückverweisung einer Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht kommt nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Betracht.

  2. Die nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO vorgeschriebene Gewährung rechtlichen Gehörs durch mündliche Anhörung ist vor einem Bewährungswwiderruf zwingend. Ist sie unterblieben ist, leide die Widerrufsentscheidung an einem Verfahrensfehler.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin A. Hirsch aus Hamburg geschickt, die in den Neuauflagen meiner Handbücher, die jetzt bald vorliegen, einer meiner neuen „Mitstreiteri“ ist.

Bewährung I: Bewährungswiderruf wegen neuer Straftat, oder: Auch nach Verlängerung der Bewährungszeit?

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Heute dann drei Entscheidungen zu Bewährungsfragen.

Den Opener macht der OLG Bamberg, Beschl. v. 12.08.2021 – 1 Ws 477/21 -zur Frage des Bewährungswiderruf wegen einer neuen Straftat zwischen ursprünglichem Bewährungszeitende und nachträglicher Verlängerung der Bewährungszeit. Da denkt man dann an den Vetrauensschutz, der hier jedoch keine Rolle gespielt hat:

„5. Der Widerruf der Strafaussetzung ist vorliegend gerechtfertigt, da der Verurteilte bei Begehung der Anlasstat trotz Ablaufs der Bewährungszeit aufgrund vorheriger gerichtlicher Mitteilung mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste.

a) Nach ganz überwiegender Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung schließt sich zwar, wie ausgeführt, die verlängerte Bewährungszeit rechnerisch rückwirkend unmittelbar an die abgelaufene Bewährungszeit an, dennoch rechtfertigen aber Straftaten, die zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erlass des Verlängerungsbeschlusses begangen worden sind, den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung grundsätzlich nicht, weil der Verurteilte insoweit zum Tatzeitpunkt unbeschadet der Rückrechnung tatsächlich nicht unter offener Bewährung stand (OLG Bamberg, Beschl. v. 24.03.2015 – 22 Ws 19/15 bei juris, MüKoStGB/Groß/Kett-StraubAufl. § 56f Rn. 19 m.w.N.).

b) Jedoch kann nach verbreiteter Meinung, der sich der Senat anschließt, eine Straftat, die der Verurteilte nach Ablauf der ursprünglich bestimmten Bewährungszeit begeht, dann einen Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen, wenn die in Rede stehende Tat durch nachträgliche Verlängerung nicht nur rückwirkend in die Bewährungszeit fällt, sondern der Verurteilte bei Begehung der Nachtat trotz Ablaufs der Bewährungszeit auch mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste (vgl. OLG Bremen; KG; OLG Saarbrücken; OLG Jena u. OLG Hamm, jew. a.a.O.). Entscheidungen über den Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung sind an Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutz des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) zu messen (BVerfG, Beschl. v. 20.03.2013 – 2 BvR 2595/12 = NJW 2013, 2414 =BVerfGK 20, 260). Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes steht in diesem Fall einer Berücksichtigung der Straftat nicht entgegen, da ein entsprechendes Vertrauen nicht schutzwürdig ist.

aa) Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist es den Gerichten nicht verwehrt, die zwischen dem (vorläufigen) Ende der Bewährungszeit und der Verlängerung liegende neue Straftat zum Anlass für einen späteren Widerruf zu nehmen, wenn kein Vertrauenstatbestand vorliegt. Es wird im Hinblick auf den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des Vertrauensschutzes angenommen, dass für den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nicht Taten herangezogen werden können, die während eines Zeitraums begangen sind, in dem der Täter von dem rückwirkenden Beschluss über die sich nahtlos anschließende Bewährungszeit noch nichts wusste. Ein begründetes Vertrauen auf das Ausbleiben des Widerrufs der Strafaussetzung wegen einer in der sog. ‚bewährungsfreien Zeit‘ begangenen Straftat kann beispielsweise durch gerichtliche Mitteilungsschreiben zerstört worden sein, sodass der Verurteilte nicht mehr davon ausgehen kann, dass die Bewährungszeit mit dem Ablauf der bestimmten 3 Jahre enden wird, sondern – wie jedermann verständlich – davon, dass er sich weiterhin zu bewähren haben werde (BVerfG, Beschl. v. 10.02.1995 – 2 BvR 168/95 = NStZ 1995, 437 = StV 1996, 160).

bb) Die gesetzliche Regelung des § 56f Abs. 1 Satz 2 StGB sieht die Möglichkeit des Widerrufs auch bei neuen Straftaten vor, die zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen werden. Es wird also auch von einem nicht rechtskräftig Verurteilten, der faktisch (noch) nicht unter Bewährung steht, erwartet, in dem Schwebezustand bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss keine neuen Straftaten zu begehen, ohne dass hierbei Gründe des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Eine gleichartige Konstellation liegt vor für den Zeitraum zwischen (vorläufigem) Ablauf der Bewährungszeit und Erlass des Verlängerungsbeschlusses, jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in welchem der Verurteilte von der Möglichkeit der Verlängerung positiv Kenntnis erlangt. Ein sachlicher Grund, warum die Fallkonstellationen unterschiedlich behandelt werden sollten, ist nicht ersichtlich.

cc) Auch der Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB, der als Voraussetzung für einen Bewährungswiderruf benennt, dass der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht, steht dem Widerruf der Aussetzung vorliegend nicht entgegen. Wie dargestellt, schließt sich eine nach Verstreichen der ursprünglichen Bewährungszeit angeordnete Verlängerung rückwirkend zeitlich unmittelbar an die zuvor abgelaufene Bewährungszeit an, so dass auch Straftaten, die im Zeitraum zwischen dem ursprünglichen Ende der Bewährungszeit und der nachträglichen Verlängerung der Bewährungszeit begangen werden, vom Wortlaut der Vorschrift erfasst sind. § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB unterscheidet hingegen nicht nach dem Zeitpunkt, wann sich (hier durch den Verlängerungsbeschluss) ergab, dass eine Tat in die Bewährungszeit fiel. Die gegenteilige Rechtsauffassung, wonach eine Straftat, die zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erlass eines Beschlusses über die Verlängerung der Bewährungszeit begangen wurde, einen Bewährungswiderruf selbst dann nicht rechtfertigt, wenn der Verurteilte vor Begehung der erneuten Straftat auf die Möglichkeit einer Verlängerung der Bewährungszeit hingewiesen wurde (vgl. z.B. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 06.03.2019 – 3 Ws 35/19 = Justiz 2020, 12 = OLGSt StGB § 56f Nr 66 = BeckRS 2019, 25052 m.w.N.) überzeugt nicht. Es käme einer nicht hinnehmbaren Bevorzugung des wiederholt delinquenten und hinreichend informierten Verurteilten gleich, wenn der Zeitraum zwischen (vorläufigem) Bewährungsende und Erlass des Verlängerungsbeschlusses einerseits voll auf die Bewährungszeit angerechnet würde, er sich in diesem Zeitraum andererseits jedoch nicht bewähren müsste, da eine Sanktionierung strafrechtlichen Verhaltens im Bewährungsverfahren nicht möglich wäre. Die Rechtsprechung, die einerseits eine rückwirkende Verlängerung der Bewährungszeit anerkennt, gleichzeitig aber argumentiert, dass die Tat nur formal in die Bewährungszeit falle und hieraus keine Konsequenzen ableitbar seien, berücksichtigt diesen Punkt zu wenig.

dd) Ein ausdrücklicher Hinweis dahingehend, dass die Bewährung auch wegen einer Straftat vor Erlass des Verlängerungsbeschlusses widerrufen werden kann, wird bislang nicht praktiziert und ist aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit auch nicht erforderlich, wenn ein Verurteilter im Zeitpunkt der Begehung der Anlasstat sämtliche Umstände, die den anschließenden Bewährungswiderruf aufgrund dieser Tat rechtfertigten, kennt. Ihm ist dann bewusst, dass er zuvor wegen einer unter laufender Bewährung begangenen Tat rechtskräftig verurteilt worden, dass die ursprüngliche Bewährungszeit zwar inzwischen abgelaufen, jedoch die Strafe noch nicht erlassen, dass diese neue Verurteilung dem Bewährungsgericht bekannt ist und die Staatsanwaltschaft deswegen die Verlängerung der Bewährungszeit beantragt hat. Das Gericht hat ihm mitgeteilt, dass es bewährungsverlängernde Maßnahmen erwäge, so dass ein Verurteilter spätestens in diesem Zeitpunkt der Mitteilung unabhängig von dem genauen Zeitpunkt des Erlasses des Verlängerungsbeschlusses damit rechnen muss, dass eine Verlängerung der Bewährungszeit erfolgen wird und dass neuerliche Delinquenz auch die ihm bekannten weiteren Folgen wie den Widerruf der Bewährung nach sich ziehen kann. Dem Argument, ein Verurteilter könne nach Erhalt der gerichtlichen Mitteilung davon ausgehen, dass er nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und bis zum Erlass einer erneuten Entscheidung, sich zumindest zunächst nicht mehr bewähren muss, ist zu entgegnen, dass ein Verurteilter den Zeitpunkt des Erlasses des Verlängerungsbeschlusses gar nicht kennen und absehen kann und dies der grundsätzlichen Erwartung des § 56f Abs. 1 StGB, dass ein Verurteilter überhaupt (und nicht nur in der Bewährungszeit) keine neuen Straftaten mehr begehen wird, zuwiderläuft.

c) Ausgehend hiervon lagen die Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf vor……“