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Pflichti III: Beschuldigtenanhörung nicht feststellbar, oder: Pflichtverteidigeraustausch zulässig

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Und dann zum Tagesschluss noch der LG Gera, Beschl. v. 18.04.2023 – 11 Qs 70/23.

Es geht um einen Pflichtverteidigerwechsel. Das AG hatte den abgelehnt, das LG kommt dem Antrag hingegen nach:

„Der Beschwerdeführer ist Beschuldigter eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Mord durch Unterlassen gern. §§ 211, 227, 13, 52 StGB.

Die Staatsanwaltschaft Gera beantragte, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Mit gerichtlicher Verfügung vom 31.01.2023 wurde der Beschuldigte zur Auswahl eines Pflichtverteidigers mit einer Stellungnahmefrist von 10 Tagen angehört. Das Schreiben wurde dem Beschuldigten formlos übersandt.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 15.02.2023, dem Beschuldigten am 24.02.2023 zugestellt, wurde dem Beschuldigten Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt. Auf der Zustellungsurkunde erklärte der Beschuldigte, dass er sich um eine Anwältin gekümmert habe, die sich in den nächsten Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde.

Mit Schreiben vom 28.02.2023 zeigte sich Rechtsanwältin pp. unter Vorlage einer Vollmacht für den Beschuldigten an und beantragte, Rechtsanwalt pp. zu entpflichten und stattdessen sie dem Beschuldigten als Pflichtverteidigerin beizuordnen.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 10.03.2023 wurde der Wechsel des Pflichtverteidigers abgelehnt.

Hiergegen wendet sich der Beschuldigte, vertreten durch Rechtsanwältin pp., mit der sofortigen Beschwerde.

II.

Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, §§ 143a Abs. 4, 311 Abs. 1 StPO.

Die Voraussetzungen für einen Wechsel des Pflichtverteidigers gern. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO liegen vor. Demnach ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dem Beschuldigten ein anderer als der von ihm benannte Verteidiger beigeordnet wurde oder ihm zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt wurde, er innerhalb von drei Wochen seit der Bekanntmachung der Beiordnung einen entsprechenden Antrag stellt und dem kein wichtiger Grund entgegensteht.

So liegt der Fall auch hier. Durch die Staatsanwaltschaft Gera wurde beantragt, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Mit gerichtlicher Verfügung vom 31.01.2023 erhielt der Beschuldigte Gelegenheit, sich zur Auswahl eines Pflichtverteidigers binnen einer Frist von 10 Tagen zu äußern. Ein Zugang dieses gerichtlichen Schreibens lässt sich nicht verzeichnen, da das Schreiben an den Beschuldigten formlos gesandt wurde, sodass ein zeitnaher Zugang und damit der Beginn der Frist nicht belegbar sind. Dabei ist unerheblich, dass der Ermittlungsrichter zum Zeitpunkt der Bestellung auf Grund des eingetretenen Zeitablaufs grundsätzlich davon ausgehen durfte, dass der Beschuldigte keinen Verteidiger seiner Wahl benennen wird. Das Gericht hätte jedoch die Möglichkeit gehabt, mittels förmlicher Zustellung des Schreibens den Zeitpunkt des Zugangs beim Beschuldigten nachzuweisen. Auf der Grundlage von üblichen Postlaufzeiten, insbesondere unter Berücksichtigung von stattgefundenen Warnstreiks bei der Deutschen Post AG im Januar und Februar 2023 und der Entfernung kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass mit Beschlussfassung am 15.02.2023 die Frist zur Stellungnahme von 10 Tagen bereits abgelaufen war. Dies steht auch im Einklang mit der Erklärung des Beschuldigten auf der Zustellungsurkunde, dass er sich um eine Anwältin gekümmert habe, die sich in den nächsten Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde.“

Bewährung III: Rechtliches Gehör vor Widerruf, oder: Wenn die Anhörung vor der Entscheidung unterbleibt….

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Und als dritte Entscheidung zu Bewährungsfragen dann etwas Verfahrensrechtliches, nämlich zur Frage der Zustellung der Ladung zur mündlichen Anhörung und zur Frage der Folgen, wenn diese unterbleibt. Dazu verhält sich der LG Itzehoe, Beschl. v. 15.10.2021 – 2 Qs 183/21, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, nämlich:

  1. Wird eine sofortige Beschwerde durch das Beschwerdegericht für begründet erachtet, so erlässt es nach § 309 Abs. 2 StPO im Regelfall zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung. Die Zurückverweisung einer Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht kommt nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Betracht.

  2. Die nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO vorgeschriebene Gewährung rechtlichen Gehörs durch mündliche Anhörung ist vor einem Bewährungswwiderruf zwingend. Ist sie unterblieben ist, leide die Widerrufsentscheidung an einem Verfahrensfehler.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin A. Hirsch aus Hamburg geschickt, die in den Neuauflagen meiner Handbücher, die jetzt bald vorliegen, einer meiner neuen „Mitstreiteri“ ist.