Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Pflichti III. Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, oder: (Mehrfach) prozessordnungswidriges Verhalten?

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Und zum Tagesschluss dann noch etwas zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, und zwar den LG Köln, Beschl. v. 14.09.2023 – 321 Ks 1/23 – zur Aufhebung wegen grob prozessordnungswidrigen Verhaltens des Pflichtverteidigers.

Das LG hat in dem Beschluss die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben und hat das auf drei Gründen gestützt. Wenn man den umfangreich begründeten Beschluss liest und hat man schon den Eindruck, dass es da beim LG hoch her gegangen ist. Ich stelle hier jetzt nicht die ganze Begründung vor. Das ist/wäre zu umfangreich, sondern nehme nur den ersten Punkt. Den Rest bitte selbst lesen.

Das LG führt u.a. aus:

„Die Bestellung von Rechtsanwalt V. als Pflichtverteidiger war gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 2. Alt. StPO aufzuheben, da ein sonstiger Grund i.S.d. Vorschrift vorliegt, der die Aufhebung der Bestellung gebietet. Ein solcher liegt vor, wenn sich der Verteidiger grobe Pflichtverletzungen zuschulden kommen lässt, die den Zweck der Pflichtverteidigung, nämlich dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf sicherzustellen, ernsthaft gefährden. Der Verteidiger ist nämlich verpflichtet, an einer sachdienlichen und prozessual geordneten Verfahrensführung mitzuwirken sowie den Verfahrensabschluss in einer angemessenen Zeit zu fördern. Sein Vorgehen muss er auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken; er hat also insbesondere die verfahrensleitende Rolle des Vorsitzenden, wie sie sich aus §§ 238 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO ergibt, zu akzeptieren und sich rein obstruktiver Maßnahmen zu enthalten. Nehmen störende Unterbrechungen der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden oder andere Maßnahmen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß an, so kann der Pflichtverteidiger folglich im Ausnahmefall als ultima ratio „aus wichtigem Grund“ entlassen werden.

Diese Voraussetzungen sind in mehrfacher Hinsicht erfüllt, da Rechtsanwalt V. auch nach bereits erfolgter Abmahnung vom 12.4.2023 sein grob prozessordnungswidriges Verhalten fortgesetzt hat, indem er den Vorsitzenden erneut in ehrverletzender Weise angegangen ist, diesem dienstpflichtwidrige Verhaltensweisen vorgeworfen, die Durchführung eines Hauptverhandlungstermins verhindert und eine falsche anwaltliche Versicherung abgegeben hat.

Im Einzelnen gilt Folgendes:

1. Anlass für die Abmahnung vom 12.4.2023 waren eine Vielzahl seit Beginn der Hauptverhandlung abgegebener prozessual unzulässiger Äußerungen des Verteidigers, insbesondere solche mit unangemessenen, teilweise beleidigenden und die Autorität, Integrität und Person des Vorsitzenden herabsetzenden Zwischenbemerkungen. Aufgrund des anders nicht abstellbaren Verhaltens des Verteidigers, das insgesamt nicht als anlassbezogene Reaktion anderer Beteiligter oder des Verfahrensablaufs i.S.d. § 43a Abs. 3 BRAO aufzufassen war, wurde Rechtsanwalt V. die o.a. Abmahnung erteilt. Auf den Inhalt wird hiermit ergänzend Bezug genommen. Unter anderem enthielt die Abmahnung folgenden Hinweis:

„…Es wird weiter darauf hingewiesen, dass die vorstehenden herabsetzenden Äußerungen von Rechtsanwalt V. in einer Reihe mit in den vergangenen Hauptverhandlungstagen vielfach von ihm vorgebrachten unangemessenen, teilweise beleidigenden und die Autorität, Integrität und Person des Vorsitzenden herabsetzenden Zwischenbemerkungen waren. Teilweise richteten sich Äußerungen von Rechtsanwalt V. auch gegen die Autorität des gesamten Spruchkörpers. Hinzu kommt, dass Rechtsanwalt V. – verstärkt seit März 2023 – dazu übergegangen ist, dem Vorsitzenden bei seiner Verhandlungsleitung bei sich fast jeder bietenden Gelegenheit ins Wort zu fallen, so dass es für den Vorsitzenden mittlerweile nahezu unmöglich geworden ist, einen Satz ungestört zu Ende führen zu können. Diese Art der – unautorisierten – „Wortmeldung“ ist ebenfalls grob prozessordnungswidrig und führt dazu, dass dem Vorsitzenden seine ihm gem. § 238 Abs. 1 StPO obliegende Prozessleitungsbefugnis erheblich erschwert, teilweise sogar unmöglich gemacht wird, da dieser Verhaltensweise – wie in der Vergangenheit mehrfach praktiziert – nur dadurch – wenn auch nur jeweils für kurze Zeit – begegnet werden kann, dass entweder das Mikrofon stumm geschaltet oder die Sitzung für einen kurzen Zeitraum unterbrochen wird.

Es wird darauf hingewiesen, dass weitere unsachliche, ehrverletzende Äußerungen die Grenze des zulässigen prozessualen Verhaltens weit überschreiten und als grobe Pflichtverletzungen Zweifel an der Bereitschaft zu einer sachgerechten Verteidigung begründen und daher Anlass geben können, die Rücknahme der Beiordnung von Rechtsanwalt V. als Pflichtverteidiger – ohne weitere Abmahnung – in Betracht zu ziehen. Es ist nämlich anerkannt, dass für einen Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung jeder Umstand in Betracht kommt, der den Zweck der Bestellung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand und den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu sichern, ernsthaft gefährdet (BGH NJW 2001, 625; BVerfG NJW 1998, 444.). Grobe Pflichtverletzungen – etwa die fehlende Bereitschaft zur sachgerechten Verteidigung – können daher die Aufhebung einer Beiordnung rechtfertigen (vgl. auch KG NStZ-RR 2009, 209; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2009, 243 ff; OLG Köln NJW 2005, 3588 f. m.w.N.). Der Verteidiger ist verpflichtet, an einer sachdienlichen und prozessual geordneten Verfahrensführung mitzuwirken sowie den Verfahrensabschluss in einer angemessenen Zeit zu fördern (BGH 1 StR 544/09). Sein Vorgehen muss er auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken; er hat also insbesondere die verfahrensleitende Rolle des Vorsitzenden, wie sie sich aus § 238 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO ergibt, zu akzeptieren und sich rein obstruktiver Maßnahmen zu enthalten. Nehmen störende Unterbrechungen der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden oder andere Maßnahmen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß an, so kann der Pflichtverteidiger folglich im Ausnahmefall „aus wichtigem Grund“ entlassen werden (BGH NStZ 1997, 46 f.; NStZ 1988, 510; BVerfG NJW 1975, 1015 ff.).

Der Vorsitzende geht davon aus, dass Rechtsanwalt V. nach dieser Abmahnung von weiteren grob prozessordnungswidrigen Verhaltensweisen einschließlich solcher Äußerungen absehen wird.“

Die Rechtsanwalt V. erteilte Abmahnung ist jedoch ohne dauerhafte Wirkung geblieben. Der Verteidiger hat sein erheblich prozessordnungswidriges Verhalten – wie im Folgenden ausgeführt wird – weiter fortgesetzt.

2. Rechtsanwalt V. hat den Vorsitzenden im Hauptverhandlungstermin vom 00.0.2023 (erneut) in unsachlicher, ehrverletzender Weise angegangen und zu Unrecht einer erheblichen Dienstpflichtverletzung beschuldigt.

a) Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung am 00.0.2023 war die (wiederholte) Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. K.. Diese wurde vor der Unterbrechung zwecks Mittagspause maßgeblich von Rechtsanwalt V. durchgeführt, der den Sachverständigen ausführlich zu einer in dessen Gutachten erwähnten „Experimentalgruppe“ (Menschen mit prothetischer Versorgung) befragte. In der dann eingelegten Mittagspause bestand innerhalb der Kammer Unklarheit, ob der Sachverständige die zur Experimentalgruppe gehörenden Personen – entweder bewusst oder versehentlich – mit „Kontrollgruppe“ bezeichnet hatte, was für die Zulässigkeit der weiteren Befragung Auswirkungen gehabt hätte. Insofern hatte die Kammer in einem zuvor verkündeten Beschluss nämlich ausgeführt, dass abgesehen von den Kontrollgruppen kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den im Gutachten erwähnten Studien und dem im hiesigen Verfahren erstatteten Sachverständigengutachten besteht, sodass etwaige Fragen hierzu keinen Sachbezug aufweisen. Um zu klären, ob die vorherigen Äußerungen des Sachverständigen möglicherweise auf Seiten der Kammer falsch verstanden worden waren, begab sich der Vorsitzende vor Wiedereintritt in die Hauptverhandlung zum Sachverständigen, der sich – wie auch Frau Staatsanwältin A. und (zumindest zeitweise) Rechtsanwalt Z. – bereits im Sitzungssaal befand. Rechtsanwalt V. war zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen.

Nachdem der Vorsitzende gegenüber dem Sachverständigen erklärt hatte, dass eine Unklarheit aufgetreten sei, fragte er bei diesem nach, ob er bei seinen vorherigen Ausführungen die Kontrollgruppe möglicherweise als Experimentalgruppe, also die prothetisch Versorgten dieser Gruppe, bezeichnet habe. Dieser entgegnete, dass er sich daran nicht erinnern könne, dies aber auch nicht gänzlich auszuschließen vermöge. Ferner stellte der Sachverständige erneut klar, dass die Experimentalgruppe Gegenstand seiner Studien gewesen sei, er aber dem Gutachten einen Vergleich mit der Kontrollgruppe zu Grunde gelegt habe. Diese bestünde aus 13 und weiteren 44 Personen. Der Vorsitzende erklärte dem Sachverständigen sodann, dass er diese Unklarheit zu Beginn der sogleich fortzusetzenden Hauptverhandlung noch einmal ansprechen und ihn anschließend dazu befragen werde. Danach war das Gespräch mit dem Sachverständigen beendet.

Nach Eintritt in die Hauptverhandlung wurden die Verfahrensbeteiligten von den aufgetretenen Unklarheiten unterrichtet. Insbesondere stellte der Vorsitzende voran, dass Unklarheit darüber bestanden habe, ob der Sachverständige die zur Experimentalgruppe gehörenden Personen mit „Kontrollgruppe“ bezeichnet hatte und stellte daran anschließend klar, dass künftige Fragen, die die Experimentalgruppe beträfen, entsprechend dem zuvor verkündeten Kammerbeschluss als nicht zur Sache gehörend zurückgewiesen werden könnten. Rechtsanwalt Z. intervenierte, dass er die Unterhaltung mit dem Sachverständigen „über Dinge“ habe beobachten können. Zwar habe er diese wegen der Entfernung „akustisch nicht genau verstehen können“, habe aber deutlich dabei das Wort „Kontrollgruppe“ wahrgenommen. Er bat sodann um Mitteilung des Gesprächsinhalts. Dieser Bitte ist der Vorsitzende nachgekommen und hat Rechtsanwalt Z. mitgeteilt, dass mit dem Sachverständigen „genau über dieses Thema“ (sc. mögliche Verwechslung der Gruppen) gesprochen worden sei und alles, was besprochen worden sei, soeben bekannt gegeben worden sei. Im Fortgang der weiteren Diskussion, die dazu führte, dass der Vorsitzende wiederholt den Inhalt des Gesprächs wiedergab, jedoch eine weitere Stellungnahme ablehnte, äußerte Rechtsanwalt V., dies sei eine Salamitaktik. Der Vorsitzende habe (in dem Gespräch mit dem Sachverständigen Prof. Dr. K.) „wesentliche Teile der Beweisaufnahme durchgespielt“ und dies den Verfahrensbeteiligten „verheimlicht“, dies sei ein „Skandal“, der Vorsitzende betreibe eine „Salamitaktik“, was einem „Teilschweigen eines Beschuldigten“ gleichkomme. Nachdem der Vorsitzende – unter Zurückweisung des Vorwurfs – erklärte, er verwahre sich gegen diese Vorwürfe, und erneut darauf hinwies, dass nunmehr aufgrund einer zwischenzeitlichen Stellungnahme des Sachverständigen zur Zusammensetzung der Kontrollgruppe ausreichend klargestellt sei, was Gegenstand der Besprechung mit dem Sachverständigen gewesen sei, rief Rechtsanwalt V. in den Raum, „… nachdem Sie dies mit ihm geübt haben!“ Daraufhin forderte der Vorsitzende Rechtsanwalt V. erneut und eindringlich auf, die Unterstellung dolosen Verhaltens und den Vorwurf der Manipulation der Beweisaufnahme zu unterlassen. Rechtsanwalt V. erwiderte im weiteren Verlauf der Diskussion gegenüber dem Vorsitzenden, dass dieser sich jetzt „äußerst dünnhäutig“ verhalte und äußerte weiter: „Der getroffene Hund bellt!“.

Die in der Folge gestellten Ablehnungsgesuche der Angeklagten D. und X. wurden mit Beschluss der Kammer vom 00.0.2023 als unbegründet verworfen.

b) Dieses Verhalten von Rechtsanwalt V. ist erneut in erheblicher Weise prozessordnungswidrig, da dieser dem Vorsitzenden zu Unrecht eine Beeinflussung der Beweisaufnahme unterstellt hat. Über den Inhalt des Gesprächs hat der Vorsitzende die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung unverzüglich und vollständig – wie oben wiedergegeben – unterrichtet. Danach bestand kein Grund zu der Annahme, in dem – in Anwesenheit der Sitzungsvertreterin – mit dem Sachverständigen geführten Gespräch sei der weitere Inhalt der Beweisaufnahme vorbesprochen und dem Sachverständigen etwaige Antworten vorgegeben worden. Dies, zumal Rechtsanwalt V. bei dem Gespräch selbst nicht anwesend war und sich lediglich auf die Angaben des Rechtsanwalts Z. stützen konnte, der selbst wiederum angegeben hat, er habe dieses wegen der Entfernung „akustisch nicht genau verstehen können“ und lediglich einige Worte des Gesprächs mitbekommen.

Der vorbezeichnete Vorfall wiegt umso schwerer, als Rechtsanwalt V. bereits zu einem früheren Zeitpunkt dem Vorsitzenden zu Unrecht vorgeworfen hatte, in unlauterer Weise Einfluss auf die Beweisaufnahme nehmen zu wollen, weil er Aktenbestandteile vorenthalten habe. Dieser Behauptung liegt folgendes Geschehen zu Grunde:

In den Hauptverhandlungsterminen vom 00. und 00.0.2022 sollte der Sachverständige T. (geprüfter und zertifizierter Sachverständiger für Foto-/Video-Digitale-Forensik, Identifikation lebender Personen anhand von Lichtbildern und der kriminalistischen Forensik – DGuSV e.V.) sein Gutachten mündlich erstatten. Zur Vorbereitung der Gutachtenerstattung erkundigte sich der Sachverständige insbesondere danach, ob es möglich sei, im Saal seine Präsentation abzuspielen, insbesondere ob der Saal mit entsprechenden Beamern, Leinwänden und Audio-Technik ausgestattet sei. Er gedenke, sein Notebook mitzubringen und von diesem aus die Präsentation durchzuführen. Der Vorsitzende bestätigte dies, da die entsprechende Technik vorhanden sei, wies aber auch darauf hin, dass es möglicherweise zu Kompatibilitätsproblemen zwischen dem PC des Sachverständigen und der Beameranlage kommen könne. Daraufhin schlug der Sachverständige vor, die von ihm in einem gängigen Datenformat angefertigte Video-Präsentation auf einen USB-Stick zu kopieren und diesen für die Präsentation benutzen zu wollen, und zwar dergestalt, dass der Stick in den im Sitzungssaal vorhandenen Arbeitsplatzrechner eingesteckt werden solle, von wo aus dann die Beameranlage angesteuert werden könne. Der Sachverständige T. erschien am 00.0.2022 (28. Hauptverhandlungstermin) vor Aufruf der Sache um 9:15 Uhr im Sitzungssaal. Er übergab dem Vorsitzenden, wie abgesprochen, den mitgebrachten USB-Stick. Dieser wurde dann mit Unterstützung eines ebenfalls anwesenden Mitarbeiters der IT-Abteilung des Landgerichts in den im Saal befindlichen, mit der Beameranlage verbundenen Arbeitsplatzrechner des Vorsitzenden eingesteckt. Zur Erstattung des Gutachtens kam es zunächst nicht, weil die Hauptverhandlung wegen eingetretener Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten D. nicht fortgesetzt werden konnte.

In der Hauptverhandlung am 00.0.2022 (29. Hauptverhandlungstermin) wurde der Sachverständige zu seiner Person befragt und teilte einleitend mit, dass er seine Gutachtenerstattung mit der Präsentation des von ihm erstellten Videos beginnen wolle. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung kam es dann zu einer Diskussion unter den Verfahrensbeteiligten um die prozessuale Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise. Während der Vorsitzende durchgängig die Auffassung vertrat, dass der Sachverständige sich bei seiner Gutachtenerstattung Hilfsmitteln bedienen könne, wozu auch das von ihm gefertigte Video zähle, waren die Verteidiger der Auffassung, eine solche Art der Gutachtenerstattung sei „prozessual unzulässig“, das Gutachten sei mündlich zu erstatten. Neben der Frage, ob der Sachverständige das Video abspielen dürfe, verlagerte sich das Thema der Diskussion auch auf die Frage, ob der von dem Sachverständigen übergebene USB-Stick bzw. das auf diesem vorhandene Video durch Übergabe an den Vorsitzenden Aktenbestandteil geworden sei. Ausgehend von diesem von der Verteidigung eingenommenen Standpunkt wurde beantragt, mit der Gutachtenerstattung nicht vor Gewährung von Akteneinsicht in das Video zu beginnen. Der Vorsitzende erörterte daraufhin mehrfach, wie es zur Anfertigung des USB-Sticks und dessen Übergabe gekommen sei und insbesondere, welcher Zweck hiermit verfolgt werden sollte. Hierbei vertrat der Vorsitzende die Auffassung, dass der USB-Stick bzw. dessen Inhalt kein Aktenbestandteil sei, sondern lediglich ein von dem Sachverständigen zurate gezogenes Hilfsmittel, welches er zur Gutachtenerstattung benutzen wolle. Der Sachverständige habe diesen Stick nicht zur Akte gereicht und auch nicht zur Akte reichen wollen. Vom Inhalt des USB-Sticks habe überdies keiner der Kammermitglieder Kenntnis genommen. In der Folge griff Rechtsanwalt V. die Frage der Akteneinsicht erneut auf und vertrat weiterhin die Ansicht, dass der Vorsitzende den USB-Stick in seiner Eigenschaft als Vorsitzender entgegengenommen habe und er damit ein der Akteneinsicht unterliegender Aktenbestandteil geworden sei. Da dieses bereits mehrfach und umfassend erörterte Thema zum wiederholten Male vorgetragen wurde, äußerte der Vorsitzende gegenüber Rechtsanwalt V., dass er „mal etwas Neues“ beanstanden solle. Zur Verdeutlichung seiner Rolle bei der Entgegennahme des Sticks erklärte der Vorsitzende, dass er bei der Entgegennahme des USB-Sticks nicht in seiner Eigenschaft als Vorsitzender, sondern lediglich als „Handlanger“ des Sachverständigen tätig geworden sei, wobei er hiermit die Erwartung verbunden hat, durch diese Wortwahl ausreichend verständlich gemacht zu haben, dass der Sachverständige den Stick nicht zur Akte reichen, sondern unter Mithilfe des Vorsitzenden nur die technischen Voraussetzungen für die von ihm beabsichtigte Videopräsentation schaffen wollte. Rechtsanwalt V. vertrat die Auffassung, wenn „etwas“ zum Vorsitzenden gelange, sei dies in amtlicher Funktion als Vorsitzender und nicht als „Handlanger“ des Sachverständigen geschehen. Der Stick sei bereits jetzt Aktenbestandteil. Weiter führte Rechtsanwalt V. wörtlich aus:

„… und wenn Sie und die übrigen Richter unserem Mandanten und seinen Verteidigern diese wesentlichen Akten weiterhin vorenthalten würden, vor einer Erstattung des Gutachtens, …“,

was den Vorsitzenden dazu veranlasste, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und Rechtsanwalt V. zu unterbrechen, und zwar mit den Worten:

„… Ich enthalte Ihnen hier überhaupt nichts vor! Lassen Sie diese Unverschämtheiten sein!“ .

Weiter führte der Vorsitzende aus, Rechtsanwalt V. versuche seine Person und auch sein Vorgehen, eine vernünftige technische Projektion zu ermöglichen, durch die Behauptung einer Unterschlagung zu diffamieren. Rechtsanwalt V. stellte u.a. den Antrag, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, damit mit seinem Mandanten erörtert werden könne, ob der Vorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen sei. Im Übrigen führte er seine weiteren Beanstandungen aus, indem er das Verhalten des Vorsitzenden als „erbärmlich“, wie er es noch nie erlebt habe, bezeichnete.

Das in der Hauptverhandlung vom 00.0.2023 gestellte Ablehnungsgesuch der Angeklagten X. und D. wurde durch Beschluss der Kammer vom 00.0.2023 als unbegründet zurückgewiesen.

….“

Pflichti I: Vier Beiordnungsgrund-Entscheidungen, oder: Gesamtstrafe, Beweisverwertung und Waffengleichheit

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Und heute ist es dann mal wieder so weit, es ist „Pflichti-Tag“, den ich hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen eröffne. Dazu stelle ich vor:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge erfordert eine Pflichtverteidigerbestellung dann, wenn eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und darüber hinaus zu erwarten ist.

Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen.

Die analoge Anwendung des § 140 Abs. Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagte, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, kommt nicht in Betracht.

Von einer Schwierigkeit der Rechtslage ist bereits dann auszugehen, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch dem OLG nicht

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Ich hatte im September über den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392/23 – berichtet (vgl. hier Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht). Dazu liegt jetzt die Beschwerdeentscheidung vor. Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2023 – 1 Ws 233/23 – die Beschwerde der StA gegen die Aufhebung des haftbefehls verworfen:

„Gemäß § 112 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO darf gegen den Angeschuldigten Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn er dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechts-ordnung schwerwiegend beeinträchtigende dem Katalog zu entnehmende Straftat begangen zu haben und bestimmte Tatsachen, die Gefahr begründen, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde. Gleichzeitig muss die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein.

Die Kammer hat in ihrer Begründung ausgeführt, dass es bereits an einer Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO fehlen dürfte, da § 30 a Abs. 2 BtMG in der abschließenden Aufzählung des Katalogs nicht aufgeführt sei und sich eine Analogie verbiete. Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft unter Benennung der Bundestagsdrucksachen 459/03 vom 2. Juli 2023 und 24/11 vom 18. Januar 2011 eingewandt, dass die Berichtigung der Zitierweise bzw. die Berichtigung eines redaktionellen Versehens bezüglich § 30 a Abs. 2 BtMG bereits angestrebt wurde und vor dem Hintergrund der nachträglichen Einführung und des Wortlautes „ebenso bestraft“ eine Gleichstellung mit § 30 a Abs. 1 BtMG anzunehmen sei.

Ob eine entsprechende Anwendung des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO überhaupt in Betracht käme und der Straftatbestand des § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG bei entsprechender Anwendung eine Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO darstelle, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da jedenfalls, was die Kammer auch erkannt hat, das Grunddelikt des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG im dringenden Tatverdacht impliziert ist.

Der Haftbefehl war allerdings aufzuheben, weil die hier wiederholt begangenen Anlasstaten entgegen der Ausführungen der Staatsanwaltschaft zu keiner schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung geführt haben. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung liegt dann vor, wenn die Anlasstat einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt auf-weist (OLG Hamm, Beschluss vom 1. April 2010 Az.: 3 Ws 161/10) und dadurch geeignet ist, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in Sicherheit und Rechtsfrieden zu beeinträchtigen (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Februar 2010 – III-2 Ws 18/10). Es muss sich daher um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat (BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 Az.: 2 BvL 4/73). Daher kann nicht ausschließlich auf die Straferwartung, welche bei den Katalogtaten des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits die generelle schwerwiegende Natur begründet, abgestellt werden. Vielmehr sind auch die Umstände der Tat im Einzelfall heranzuziehen. Der Haftgrund der Wiederholungs-gefahr dient nicht Sicherung des Strafverfahrens, sondern dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, weswegen das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit dem Freiheitsanspruch des bislang nur Angeschuldigten überwiegen muss.

Dem Angeschuldigten wird mit der vorliegenden Anklage zum einen vorgeworfen, im Schlafzimmer seiner Wohnung in Kiel am 13. Juli 2023 insgesamt 8,21 g Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu den Betäubungsmitteln ein Klappmesser -im Fernseher-regal-, eine Machete -auf dem Kleiderschrank- und ein Baseballschläger -zwischen Kleiderschrank und Regal, in dem ein Großteil des Kokains festgestellt werden konnte -vorgehalten zu haben. Des Weiteren wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, am 2. Juli 2023 einem Abnehmer 0,5 g Kokain verbindlich zum Kauf angeboten und am 5. Juli 2023 Verkaufsverhandlungen über den Erwerb von 100 g Marihuana zum Zweck des Weiterverkaufs geführt zu haben. Die Geschäftsanbahnungen sind jeweils über Chat erfolgt. Jede dieser Taten und insbesondere die Tat am 13. Juli 2023 hat nach außen hin keine Wirkung auf die Bevölkerung entfaltet. Es ist durch sie auch kein Schaden angerichtet worden, der nach Art und Umfang geeignet wäre, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in die Sicherheit und den Rechtsfrieden zu beeinträchtigen. Auch, dass der Angeschuldigte bei Tatbegehung wegen einer gleichartigen Tat unter laufender Bewährung stand, vermag daran nichts zu ändern.

Andere Haftgründe sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.“

Verkehrsrecht III: Bewegungsdaten versus Zeugen, oder: Dringender Tatverdacht für Trunkenheitsfahrt?

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Und dann als dritte verkehrsrechtliche Entscheidung noch ein Beschluß des LG Itzehoe. Bei dem hatte die Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) Erfolg. Das LG hat im LG Itzehoe, Beschl. v. 11.10.2023 – 2 Qs 137/23 – den dringenden Tatverdacht für eine „Trunkenheitsfahrt“ verneint, und zwar mit einer ganz interessanten Begründung bzw. aufgrund einer interessanten „Beweiserhebung“:

„Voraussetzung einer Maßnahme nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ist das Vorliegen von dringenden Gründen für die Annahme, dass in einem Urteil die Maßregel nach § 69 StGB angeordnet werden wird. Dies erfordert dringenden Tatverdacht und einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht den Beschuldigten für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen halten und ihm daher die Fahrerlaubnis entziehen werde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 111a Rn. 2). Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs anzusehen und die Fahrerlaubnis deshalb zu entziehen, wenn er ein Vergehen nach § 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr) begangen hat.

Derzeit ist aber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird. Denn es liegen keine dringenden Gründe für die Annahme vor, dass der Angeklagte im Verkehr ein Fahrzeug geführt hat, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der war, das Fahrzeug sicher zu führen.

Die Zeugen pp. und pp. haben zwar angegeben, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug neben ihnen (ein)parkte. Die vorgelegten Bewegungsdaten des Fahrzeugs, mit dem der Angeklagte sich auf den Parkplatz begeben hatte und bei dem es sich um einen Firmenwagen handelt, widersprechen dem aber. Danach ist nicht davon auszugehen, dass der Angeklagte zu einem Zeitpunkt um kurz vor 13.20 Uhr das Fahrzeug führte. Aus ihnen ergibt sich lediglich, dass das Fahrzeug um 11.27 Uhr entriegelt und um 13.16 Uhr verriegelt wurde. Eine Bewegung in der Zwischenzeit ist dem nicht zu entnehmen. Die Bewegungsdaten hat ausweislich der schriftlichen Angaben des Herrn pp. des Arbeitsgebers des Angeklagten, er selbst und nicht der Angeklagte ausgelesen. Dem Privatgutachten liegen zwar nur diese von Herrn pp. an den Angeklagten übermittelten Screenshots der Bewegungsdaten zugrunde, allerdings lässt sich dem Gutachten zumindest entnehmen, dass man die Daten nicht manipulieren könne. Der den 02.06.2023 betreffenden Übersicht kann man zudem auch geringe Entfernungen von unter einem Kilometer entnehmen, das System erfasst also auch sehr kurze Strecken.

Letztlich muss die Klärung des Sachverhalts der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben und der Widerspruch dort geklärt werden. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist aber nicht davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird.“

BtM II: Verwertbarkeit des ANOM-Chatverkehrs, oder: LG Memmingen nimmt Beweisverwertungsverbot an

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Und als zweite Entscheidung dann etwas Verfahrensrechtliches zu BtM-Verfahren, und zwar die Frage, ob die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ verwertbar sind oder nicht.

Das LG Memmingen hat die Frage im LG Memmingen, Urt. v. 21.8.2023 – 1 Kls 401 Js 10121/22 -, das mir der Kollege A. Hamburg aus Ulm geschickt hat, verneint, und den Angeklagten, da weitere Beweismittel nicht zur Verfügung standen, frei gesprochen. Zu Verwertbarkeit des „ANOM“-Chatverkehr“ führt das LG aus:

„Das einzige Beweismittel zum Nachweis der angeklagten Taten stellen die gesicherten Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ dar.

Über diesen Messengerdienst kommunizierte der Angeklagte unter der Jabber-ID „pp.“ mit dem anderweitig Verfolgten pp. (Jabber-ID „pp.“) offen über die angeklagten Betäubungsmittelgeschäfte.

Die Erkenntnisse aus der Auswertung dieser Chatverläufe sind jedoch nicht verwertbar. Die Kammer geht vom Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots aus.

5.1 Der Krypto-Messengerdienst ,ANOM“ stellt ein verschlüsseltes Kommunikationssystem dar, welches durch das amerikanische FBI entwickelt und inkognito unter kriminellen Organisationen vermarktet wurde.

Den Nutzern wurde Anonymität garantiert, denn die Mobiltelefone sollten ab-hörsicher und verschlüsselt, von Strafverfolgungsbehörden also nicht zu verfolgen sein.

Tatsächlich hatte das FBI aber die Möglichkeit, sämtliche über „ANOM“ verschickte Nachrichten zu entschlüsseln und mitzulesen, was den Nutzern der Krypto-Handys nicht bekannt war.

Die überwiegenden Nutzer der „ANOM“-Krypto-Handys waren nicht Staatsbürger der USA und nicht ansässig in den USA.

Das FBI suchte im Sommer 2019 im Zuge der Entwicklung von „ANOM“ nach einem „Drittland“ außerhalb der USA, um dort einen Server zur Erhebung der „ANOM“-Daten einzurichten. Dem „Drittland“ wurde auf dessen Bitte hin zugesichert, dass dessen Identität geheim gehalten wird.

Das „Drittland“ erhob ab Oktober 2019 aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses die Daten des ,,ANOM“-Servers und leitete sie an das FBI im Wege der Rechtshilfe weiter.

Im Rahmen des daraufhin vom FBI eingeleiteten Verfahrens namens „Trojan Shield“ wurden unter anderern Taten mit Deutschlandbezug bekannt.

Der nationale gerichtliche Beschluss des Drittlands lief zum 07.06.2021 aus, sodass ab diesem Zeitpunkt keine Daten mehr erhoben wurden.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main stellte am 21.04.2021 und am 28.09.2021 Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Justizbehörden, woraufhin die „ANOM“-Daten über das Bundeskriminalamt übermittelt wurden.

Mit Schreiben vom 03.06.2021 erteilte das FBI die Erlaubnis zur offiziellen Verwendung der Daten in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren.

In diesem Zusammenhang stellte das FBI jedoch im Schreiben vom 03.06,2021 wie auch in einem weiteren Schreiben vom 22.12.2021 ausdrücklich klar, dass es keine Zusicherungen hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung, wie etwa in Bezug auf Zeugenaussagen oder Dokumentenauthentifizierung im Rahmen von Gerichtsverfahren, macht.

In seinem Schreiben vom 22.12.2021 führte das FBI aus:

„Das FBI ist weder jetzt noch in der Zukunft in der Lage, die Identität des vorgenannten Drittlandes freizugeben.“

Seitens des FBI wurde in einem weiteren Schreiben an die GenStA Frankfurt a.M. vom 27.04.2022 lediglich die Information erteilt, dass es sich bei dem „Drittland“ um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handle und dass die Daten in dem Drittland nach dem dortigen nationalen Recht auf der Grundlage einer gerichtlichen Anordnung erhoben worden seien.

Ferner wurde mitgeteilt, dass die überwiegende Mehrheit der die „ANOM“-Handys nutzenden Personen nicht Staatsbürger der USA und auch nicht in den USA ansässig seien.

Da die Identität des Drittlands unbekannt ist, liegen auch keine entsprechenden Gerichtsbeschlüsse aus dem Drittland vor.

Dem Bundeskriminalamt ist der Drittstaat ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI (vgl. BT-Drucksache 20/1249, S. 6). Dies bestätigte auch der Zeuge EKHK pp. (BKA Wiesbaden), wonach dem BKA nie mitgeteilt worden sei, wo der Server stand und wie die Datenerhebung durch das FBI abgelaufen ist.

Auch der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. sind weder das Drittland noch die dort nach den Behauptungen des FBI ergangenen Gerichtsbeschlüsse bekannt, wie sich aus den beim Landgericht Memmingen am 05.05.2023 und 08.05.2023 eingegangenen verlesenen dienstlichen Stellungnahmen vom 06.04.2022 und vom 13.04.2023 der zuständigen Staatsanwälte, Oberstaatsanwältin pp., Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. und Staatsanwalt pp., nun Staatsanwaltschaft Frankfurt a. M., ergibt.

Die Strafkammer konnte mit der ihr zur Verfügung stehenden Mitteln keine weitergehenden Informationen gewinnen.

Eine Einsichtnahme und Überprüfung der Gerichtsbeschlüsse zur Erhebung der „ANOM“-Daten ist den Verfahrensbeteiligten und der Kammer daher nicht nur derzeit, sondern aufgrund der auch für die Zukunft verweigerten Preisgabe weiterer Informationen durch das FBI auch künftig nicht möglich.

5.2 Zwar sieht das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten vor.

Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschluss des BGH vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) lässt aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichtet die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.

Beweisverwertungsverbote greifen nur in Ausnahmefällen ein, etwa, wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente.

Es muss also ein so schwerer Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das kann ein deutsches Gericht prüfen und feststellen.

Diese Ansicht haben in Bezug auf „ANOM“-Verfahren diverse Oberlandesgerichte (OLG Saarbrücken, Beschluss vorn 30.12.2022 – 4 HE 35/22; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22.11.2021 – 1 HEs 427/21; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.02.2022 – 1 HEs 509/21, 1 HEs 510/21, 1 HEs 511/21, 1 HEs 512/21, 1 HEs 513/21, 1 HEs 514/21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29.11.2021 – HE 1 Ws 313-315/21; OLG Thüringen, Beschluss vom 17.01.2022 – 3 Ws 476/21; OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.12.2021 – H 6 Ws 176-177/21) im Rahmen von Haftvorlagen bzw. Beschwerdeentscheidungen geteilt und sich so positioniert, dass die „ANOM“-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit bzw. vorläufig als verwertbar angesehen werden.

Zwar hat der BGH am 08.02.2022 in Bezug auf den Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ entschieden, dass die durch die französischen Ermittlungsbehörden gewonnenen Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung mittels „EncroChat“ im Ergebnis verwertbar sind (Beschluss vom 08.02.2022, 6 StR 639/21).

Die in der Rechtsprechung zu den „EncroChat“-Fällen vertretene Ansicht, dass kein „Befugnis-Shopping“ im Sinne einer planmäßigen Umgehung eigener nationaler Vorschriften durch den Bezug von Beweisen aus dem Ausland vorliege, kann nach Ansicht der Kammer jedoch nicht für den vorliegenden Fall übernommen werden.

Denn bei den „EncroChat“-Fällen steht fest, dass sich der die Daten liefernde Server in Frankreich befand und dass durch das örtlich und sachlich zuständige französische (Ermittlungs-)Gericht die erforderlichen Beschlüsse zur Datenerhebung erlassen worden waren,

So konnten die nationalen Gerichte die ihnen bereitgestellten französischen Beschlüsse auf eine eventuelle Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder auf einen eventuellen Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ hin überprüfen.

Hingegen scheitert in den „ANOM“-Verfahren eine solche Überprüfung daran, dass durch das FBI oder das amerikanische Justizministerium nicht einmal das den Server beherbergende „Drittland“ genannt wird geschweige denn die dort ergangenen gerichtlichen Beschlüsse zur Datenerhebung zur Verfügung gestellt werden. Die gerichtlichen Beschlüsse des Drittlands sind damit bislang nur vom „Hörensagen“ bekannt.

Mit diesem Umstand haben sich die o.g. Entscheidungen der Oberlandesgerichte ersichtlich nicht befasst. Angesichts der zeitlich frühen Befassung der Oberlandesgerichte mit dem „ANOM-Komplex kann diesen auch kaum der im hiesigen Verfahren erlangte Kenntnisstand vorgelegen haben, zumal zeitlich später erfolgte Rechtshilfemaßnahmen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. und wesentliche erst Anfang 2023 erlangte Erkenntnisse von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. zurückgehalten und erst im Laufe der Hauptverhandlung im Verfahren 1 KLs 401 Js 22809/21, welches von der ersten Kammer des Landgerichts Memmingen parallel verhandelt wurde, zur Verfügung gestellt worden sind.

Für einen Beschuldigten besteht bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss gerichtlich zur Wehr zu setzen.

Der zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union etablierte Grund-satz der gegenseitigen Anerkennung im Sinne eines gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und in der Grundrechtscharta anerkannten Grundrechte zu bieten, darf sich für den Beschuldigten nicht dergestalt negativ auswirken, dass er keine Möglichkeit hat, die Ursprungsmaßnahme (hier in Bezug auf die Datenerhebung in dem Drittstaat) gerichtlich überprüfen zu lassen. Es besteht für den Beschuldigten demnach eine mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht zu vereinbarende Rechtsschutzlücke.

Unabhängig davon besteht auch für die nationalen Gerichte wie vorliegend für die Kammer im Rahmen eines Strafverfahrens keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob bei Erlass des Beschlusses bzw. der Beschlüsse die rechtsstaatlichen Mindestgrundsätze eingehalten worden sind.

Wenn keinerlei Beschlüsse vorliegen, um die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen zu prüfen, unter welchen Umständen die Daten erlangt wurden und ob die Daten manipuliert wurden, muss von einer Beweislastumkehr ausgegangen werden, sodass die Staatsanwaltschaft nachweisen muss, dass rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt wurden und kein Beweisverwertungsverbot vorliegt.

So hat auch der EGMR in seinem Urteil vom 23.10.2014 (54648/09 (Furcht/Deutschland), MW 2015, 3631) ausgeführt, dass es der Strafverfolgungsbehörde obliegt, zu beweisen, dass keine zu einem Beweisverwertungs-verbot führende Situation vorgelegen hat.

Ferner stellte der EGMR in dieser Entscheidung fest, dass dieser Beweislast nur schwerlich genügt werden kann, wenn die Ermittlungsmaßnahme nicht förmlich genehmigt war, und wies auf die Notwendigkeit eines verständlichen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen und deren ordnungsgemäße Überwachung hin.

Die Kammer betont darüber hinaus, dass es – anders als bei den „Encro-Chat“-Fällen, in denen bekannt ist, dass der Server in Frankreich stand und überprüfbare Beschlüsse eines französischen Ermittlungsgerichts existieren bei den „ANOM“-Verfahren nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei dem vom FBI unter Verschluss gehaltenen „Drittland“ nicht sogar um Deutschland handelt.

Dies würde zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass ein sich mit einem „ANOM“-Verfahren befassendes deutsches Gericht daran gehindert wäre, einen nach den nationalen Vorschriften der StPO zur Telekommunikationsüberwachung und von einem deutschen Ermittlungsrichter erlassenen Beschluss zur Erhebung von Kommunikationsdaten zu überprüfen, obwohl die Ermittlungsmaßnahme in Deutschland erfolgt ist.

Damit läge eine bewusste und vorsätzliche Umgehung der maßgeblichen Vor-schriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung vor, weiche die Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise zur Folge haben muss.

In Ermangelung hinreichender Informationen zur Auswahl des „Drittstaats“ durch das FBI, zu den zwischenstaatlichen Absprachen und zu den im Drittstaat ergangenen gerichtlichen Beschlüssen kann außerdem ein sog. Befugnis-Shopping im Sinne einer planmäßigen Umgehung der eigenen nationalen Vorschriften nicht ausgeschlossen werden:

Es besteht die Möglichkeit, dass die deutschen Behörden durch ein planmäßiges Vorgehen zur Umgehung der maßgeblichen Vorschriften der StPO zur Kommunikationsüberwachung an der vorn FBI betriebenen Datengewinnung in einem anderen Land der Europäischen Union mitgewirkt haben, oder aber auch, dass das FBI zur Umgehung der in den USA geltenden maßgeblichen Vorschriften zur Kommunikationsüberwachung einen „Drittstaat“ ausgewählt hat, in dem niedrigere Hürden für die Anordnung einer Kommunikationsüberwachung als in den USA gelten, um dort gezielt Daten zu erheben.

Für die zweitgenannte Möglichkeit spricht insbesondere der Umstand, dass die erhobenen „ANOM“-Daten Staatsbürger der USA oder in den USA ansässige bzw. aufhältige Personen nicht betreffen. Die US-Behörden legten insbesondere Wert darauf, dass amerikanisches Hoheitsgebiet nicht tangiert wird.

Letztlich ist die Kammer auch nicht davon überzeugt, dass gegen jeden Erwerber bzw. Nutzer eines „ANOM“-Kryptohandys ein Anfangsverdacht der Begehung von Straftaten besteht. Vielmehr handelt es sich bei der von den Ermittlungsbehörden aufgestellten These, dass jeder Erwerber bzw. Nutzer dem kriminellen Milieu zuzuordnen ist und ausschließlich strafbare Inhalte auf den Kryptohandys generiert werden, um einen pauschalisierten Generalverdacht. Im Ergebnis läuft diese auf einem Generalverdacht beruhende, vollumfassende Überwachung aller Aktivitäten der „ANOW-Nutzer auf eine anlasslose Massen-überwachung und damit eine im Kern geheimdienstliche Maßnahme hinaus. So erlangte Informationen können nicht zur Verwertung im Strafverfahren um-gewidmet werden, da eine solche Maßnahme nach der StPO nicht zulässig ist und auch mit grundgesetzlichen Wertungen nicht in Einklang zu bringen ist (vgl. BVerfG, NJW 2002, 2235, 2256).

Da weitere verwertbare Beweismittel nicht zur Verfügung stehen, um den Tatnachweis zu führen, ist der Angeklagte in vollem Umfang aus tatsächlichen Gründen frei zu sprechen.“

Kann man so sehen. Damit ist dann die nächste Runde eröffnet. Man darf gespannt darauf sein, was der BGH dazu sagt. Denn die Staatsanwaltschaft hat das nicht „hingenommen“ haben und ist in die Revision gegangen. Näheres/Weiteres dann demnächst vom 1. Strafsenat des BGH.