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Terminsvertreter des Pflichtverteidigers für einen Tag, oder: OLG Hamm ändert LG Essen unrichtig ab

daumen

Und dann noch nochmal etwas zu den Gebühren des Terminsvertreters des Pflichtverteidiger. Folgender Sachverhalt in Kürze: Die Kollegin ist durch Beschluss der Vorsitzenden einer großen Strafkammer des LG Essen vom 03.03.2022 in einem dort anhängigen Strafverfahren gegen u.a. den Angeklagten als Terminsvertreterin für den Pflichtverteidiger dieses Angeklagten, Rechtsanwalt R. für den ersten Hauptverhandlungstag beigeordnet worden. Der erste Hauptverhandlungstermin fand am 07.03.2022 statt und dauerte dreißig Minuten, es wurde im Wesentlichen die Anklageschrift verlesen. Eine Einlassung des Angeklagten erfolgte zunächst nicht.

Die Kollegin hat dann beantragt, ihre Gebühren festzusetzen. Sie hat Festsetzung der Grundgebühr Nr. 4101, VV RVG, der Verfahrensgebühr Nr. 4113 VV RVG, der Terminsgebühr Nr. 4115 VV RVG, der Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG sowie von Fahrtkosten, Tage- und Abwesenheitsgelder sowie USt beantragt.

Das LG hat die dann auch festgesetzt im LG Essen, Beschl. v. 06.07.2023 – 27 KLs 43/21, der folgenden Leitsatz hat:

    1. Der nur für einen Termin als Terminsvertreter beigeordnete Rechtsanwalt rechnet nach Teil Abschnitt 1 VV RVG ab.
    2. Der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin, einen Haftprüfungstermin oder den Termin zur Haftbefehlseröffnung als Verteidiger des Beschuldigten/Angeklagten bestellt worden ist, beschränkt sich nicht auf die Terminsgebühr, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände.

Es kommt dann natürlich das, was zu erwarten war, nämlich das Rechtsmittel des Bezirksrevisors. Und dann kommt das OLG Hamm in seiner überbordenden Weisheit und hebt im OLG Hamm, Beschl. v. 30.10.2024 – III-5 Ws 273/23 – die Entscheidung des LG auf und sagt:

Für den „Terminsvertreter“ des Pflichtverteidigers entsteht nur die Terminsgebühr. Grund-, Verfahrensgebühr und Auslagenpauschale entstehen nicht.

Ich fasse die Begründung des Beschlusses des Einzelrichters (!) mal zusammen. Sie lautet. Vertretung ist bei der Pflichtverteidigung zulässig und der Vertreter verdient dann nur die Terminsgebühr. Wer mehr von der falschen Begründung lesen will, der mag das im verlinkten Volltext tun.

Anzumerken ist dazu Folgendes:

Der Entscheidung ist zu widersprechen.

1. Zu widersprechen ist schon der Auffassung des Einzelrichters, dass wegen der ständigen Rechtsprechung des OLG Hamm eine Übertragung auf den und durch den Senat nicht erforderlich sei. Es ist ja schön, wenn das OLG die Frage offenbar schon häufiger entschieden hat. Nur: Die Beschlüsse sind alle unveröffentlicht, hängen also irgendwo beim OLG Hamm im „stillen Kämmerlein“. Man fragt sich., warum man diese Entscheidungen in einer Frage, die ja nun die Rechtsprechung schon seit langem immer wieder beschäftigt nicht, nicht nach außen kund tut. Vielleicht waren die Beschlüsse ja überzeugend, jedenfalls hätten sie zur Diskussion beitragen könne?

Zu einer Übertragung auf den Senat hätte m.E. auf vor allem deshalb Anlass bestanden, weil die Frage, ob der Terminsvertreter des Pflichtverteidigers nur die Terminsgebühr verdient oder auch die Grund- und Verfahrensgebühr ja inzwischen von zahlreichen Gerichten anders gesehen wird als vom OLG Hamm (vgl. nur OLG Bamberg, NStZ-RR 2011, 223 [Ls.]; OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.2.2024 – 1 Ws 13/24 (S), AGS 2024, 171; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.10.2008 – 1 Ws 318/08; OLG Jena, JurBüro 2011, 478; Beschl. v. 14.4.2021 – (S) AR 62/20, AGS 2021, 394 = JurBüro 2021, 576; OLG Karlsruhe, StraFo 2008, 349 = NJW 2008, 2935 = RVGreport 2009, 19 = StRR 2009, 119; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.2.2023 – 2 Ws 13/23, AGS 2023, 164 = NStZ-RR 2023, 159; OLG Köln, RVGreport 2010, 462 = AGS 2011, 286; OLG München, NStZ-RR 2009, 32 = StRR 2009, 120 = RVGreport 2009, 227; OLG München, RVGreport 2016, 145 = AGS 2014, 174 = Rpfleger 2014, 445; OLG Nürnberg, RVGreport 2016, 105 = StraFo 2015, 39 = AGS 2015, 29; OLG Schleswig SchlHA 2010, 269 [Dö/Dr]). Insbesondere die gut begründete Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 9.2.203 (a.a.O.) hätte dem OLG Hamm Anlass sein sollen, sich noch einmal näher mit der streitigen Frage auseinander zu setzen. Aber die wird noch nicht einmal erwähnt. Das lässt – zumindest bei mir – den Eindruck entstehen, es hier mit einer Entscheidung zu tun zu haben, die in die Rubrik: „Das haben wir immer schon so gemacht.“ einzuordnen ist.

2. In der Sache ist dem OLG ebenfalls zu widersprechen. Die Entscheidung steht und fällt mit der Frage, ob die Ansicht des OLG, eine „Vertretung“ i.e.S. des Pflichtverteidigers sei zulässig. Das ist m.E. nicht der Fall. Denn die Beiordnung des Pflichtverteidigers ist auf seine Person beschränkt; sie ist höchst persönlich (so auch Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 142 Rn 15; Hillenbrand in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 3636 f., jeweils m.w.N.; BGHSt 59, 284 = NJW 2014, 3320 m. Anm. Barton StRR 2015, 62; BGH NStZ 2012, 276; OLG Saarbrücken, RVGreport 2015, 64 = StRR 2015, 117). Soweit einige Gerichte (OLG Celle RVGreport 2009, 226; OLG Koblenz JurBüro 2013, 84 = RVGreport 2013, 17; LG Potsdam JurBüro 2011, 417 = AGS 2012, 65; LG Saarbrücken, Beschl. v. 30.6.2014 – 2 KLs 2/13) anderer Ansicht sind, ist das m.E. seit BGHSt 59, 284 nicht mehr haltbar.

3. Im Übrigen: Zu der Frage, dass nicht nur die Terminsgebühr, sondern auch Grundgebühr und Verfahrensgebühr anfallen, ist schon viel geschrieben worden. Das muss man hier nicht wiederholen. Ich verweise dazu auf den o.a. Beschluss des OLG Karlsruhe und auf Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2101 ff.). In dem Zusammenhang liegt der Hinweis des OLG auf die (geringe) Dauer des Hauptverhandlungstermins an dieser Stelle neben der Sache.

Zu der Frage, warum die Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG nicht entstanden ist, enthält der Beschluss des OLG kein Wort der Begründung. Die dürfte hier aber entstanden sein, da sich aus dem Beschluss ergibt, dass die Pflichtverteidigerin auch telefoniert hat. Das reicht aber für das Entstehen der Nr. 7002 VV RVG aus (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 7002 VV Rn 1 m.w.N.).

4. Für den Verteidiger lässt sich aus der Entscheidung ableiten, dass er in diesen Fällen sehr sorgfältig prüfen sollte/muss, welche Entscheidungen ergehen. Ggf. muss gegen einen Beschluss, der einen Antrag nicht voll ausschöpft, so wie hier, da Bestellung als „weiterer Pflichtverteidiger„ beantragt war, sofortige Beschwerde (§ 142 Abs. 7 StPO) eingelegt oder auf Klarstellung gedrängt werden, dass man nicht von einer Vertretung i.e.S. (vgl. auch § 5 RVG) ausgeht.“

OWi III: Überschreitung der Unterbrechungsfrist, oder: Vortrag zum „Ausnahmefall“

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Und zum Tagesschluss dann noch etwas zur Rechtsbeschwerde, und zwar der KG, Beschl. v. 23.4.2024 – 3 ORbs 62/24 – 162 Ss 123/23. Es geht um eine Verfahrensrüge wegen  Überschreitung der Unterbrechungsfrist nach § 229 StPO. Der Betroffene hatte geltend gemacht, das Amtsgericht habe gegen §§ 71 Abs. 1, 229 Abs. 1 StPO dadurch verstoßen, dass es einen außerhalb der zulässigen Frist liegenden Fortsetzungstermin anberaumt und durchgeführt habe.

Ohne Erfolg:

„1. Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe gegen §§ 71 Abs. 1, 229 Abs. 1 StPO dadurch verstoßen, dass es einen außerhalb der zulässigen Frist liegenden Fortsetzungstermin anberaumt und durchgeführt habe, ist nicht in nach §§ 79 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotener Weise ausgeführt.

Die Fristüberschreitung ist kein absoluter Rechtsbeschwerdegrund, so dass die Rechtsbeschwerde im Grundsatz dartun muss, dass das Urteil darauf beruht. Da dies dem Rechtsbeschwerdeführer meist kaum möglich ist, hat sich in der Rechtsprechung die Bewertung durchgesetzt, dass das Urteil in der Regel auf dem Verfahrensmangel beruhen wird (vgl. BGHSt 23, 224; NStZ-RR 2020, 285). Allerdings ist anerkannt, dass „in besonders gelagerten Ausnahmefällen“ der Verstoß ohne Bedeutung sein kann (vgl. BGHSt 23, 224). Ein solcher ist vom BGH angenommen worden, als die Verhandlung bei der Fristüberschreitung bereits ein Jahr angedauert hatte, die Beweisaufnahme abgeschlossen war, die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung die Schlussvorträge gehalten hatten und sich die Kammer ausschließlich mit dem Stoff dieses Strafverfahrens befasst hatte (vgl. BGH a.a.O.). Ein solcher Ausnahmefall kann aber auch bei entgegengesetzter Sachlage gegeben sein, wenn nämlich der Sachverhalt einfach gelagert ist, die Beweislage klar ist und die Hauptverhandlung kurz war (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 229 Rn. 16).

Aus der Anerkennung von Ausnahmefällen leitet sich für die Rechtsbeschwerde das Erfordernis ab, dass die Verfahrensrüge in tatsächlicher Hinsicht dartun muss, dass ein solcher nicht vorgelegen hat. Derartige Ausführungen fehlen hier. Zwar trägt die Rechts-beschwerde im Schriftsatz vom 22. April 2024 noch zum Verfahrensgang und zum Prozessstoff vor. Diese Ausführungen erfolgten aber nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist. Unbeschadet der Frage, ob sie der Verfahrensrüge zur Zulässigkeit oder gar zum Erfolg verhelfen hätten können, sind sie unbeachtlich. „

Muss man im Strafverfahren dann auch wohl drauf achten.

OWi II: Sichtbarkeitsgrundsatz beachtet oder verletzt?, oder: Es kommt auf den Einzelfall an

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Und als zweite Entscheidung dann ein schon etwas älterer Beschluss des OLG Frankfurt am Main. Es handelt sich um den OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 28.08.2023 – 3 ORbs 165/23.

Das AG hatte den Betroffenen vom Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung – Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 72 km/h auf der  A 3, geandet mit einer Geldbuße von 600,- EUR sowie einem Fahrverbot von drei Monaten – frei gesprochen.

Begründung: Die vor der Messstelle angebrachten Beschilderung bei km 151.250 verstoße gegen den Sicherbarkeitsgrundsatz, so dass sie als unwirksam zu betrachten sei. Insoweit hat das Amtsgericht folgende tatsächliche Feststellungen getroffen:

„Bis zur Messstelle bei km 151.990 hatte der Betroffene auf der A 3 folgende Verkehrszeichen zu passieren:

– Km 150,100 : Verkehrszeichen 274 mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 km/h und ein sich unmittelbar darunter befindliches Zusatzzeichen im Sinne des § 39 Abs. 3 StVO (weißer Grund, schwarzer Rand, schwarze Schrift mit der Zeitangabe 22 bis 6 h, 1040-30 VZKat)

– Bei Km 151,200: an jeweils zwei Masten (links und rechts neben den drei Fahrspuren der Autobahn angebracht) senkrecht über-/untereinander zwei Verkehrszeichen (274) mit jeweils einem Zusatzeichen i.S.d. § 39 Abs. 3 StVO wie folgt angebracht:

— Ganz oben ist das Verkehrszeichen 274, welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit für alle drei Fahrspuren auf 120 km/h begrenzt. Darunter ein sich auf dieses Verkehrszeichen beziehendes Zusatzzeichen (weißer Grund, schwarzer Rand, schwarze Schrift mit der Zeitangabe 6 bis 22 h, 1040-30 VZKat).

— Darunter Verkehrszeichen 274, welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf allen drei Fahrspuren auf 100 km begrenzt, darunter erneut ein Zusatzzeichen, diesmal mit einer Zeitangabe 22-6 h (1040-30 VZKat).

Nach der Messstelle findet sich bei km 152.200 eine weitere Beschilderung mit dem Verkehrszeichen 274, welches die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf allen drei Fahrspuren auf 120 km/h begrenzt. Darunter befindet sich das Verkehrszeichen 278, welches die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h aufhebt mit dem darunter befindlichen Zusatzzeichen Zeitangabe 22-6 h (1040-30 VZKat).“

Das AG sieht diese auf einem Autobahnabschnitt von ca. 2.1 km mehrfach angeordneten unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen als irreführend und mit einem „raschen und beiläufigen Blick“ nicht mehr als erfassbar an. Überdies ist es der Auffassung, dass diese Form der Beschilderung nicht mehr mit den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vereinbar ist.

Dagegen die Rechtsbeschwerde der GStA, die u.a. Folgendes ausgeführt hat:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu folgendes ausgeführt:

„Ziffer 11 a) der VwV-StVO zu §§ 39 bis 43 StVO regelt, dass Häufungen von Verkehrszeichen zu vermeiden sind, weil die Bedeutung von Verkehrszeichen bei durchschnittlicher Aufmerksamkeit zweifelsfrei erfassbar sein muss. Am gleichen Pfosten oder sonst unmittelbar über- oder nebeneinander dürfen nicht mehr als drei Verkehrszeichen angebracht werden; bei Verkehrszeichen für den ruhenden Verkehr kann bei besonderem Bedarf abgewichen werden.

Auch Zusatzzeichen sind gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 StVO Verkehrszeichen. Die Häufung bei der Verwendung von Verkehrs- und Zusatzzeichen ist bereits durch § 39 Abs. 3 S. StVO vorgegeben, wonach Zusatzschilder immer direkt unter dem Verkehrsschild, das sie betreffen, anzubringen sind. Für Zusatzzeichen wird Ziffer 11 a) der Verwaltungsvorschrift durch Ziffer 16 der VwV-StVO zu §§ 39 bis 43 StVO zudem dahingehend konkretisiert, dass mehr als zwei Zusatzzeichen an einem Pfosten, auch zu verschiedenen Verkehrszeichen, nicht angebracht werden sollten und die Zuordnung der Zusatzzeichen zu den Verkehrszeichen eindeutig erkennbar sein muss. Damit geht auch der Verordnungsgeber davon aus, dass jedenfalls mindestens zwei Verkehrszeichen mit Jeweils zwei Zusatzzeichen versehen werden können. Dass Zusatzzeichcn nicht vollständig mit Verkehrszeichen gleichzusetzen sind, folgt auch aus Sinn und Zweck des Sichtbarkeitsgrundsatzes. Die Anforderungen an einen Kraftfahrer bei der Wahrnehmung von Schildern, die einen einheitlichen Regelungsgehalt haben, und darum handelt es sich grundsätzlich bei Verkehrszeichen in Verbindung mit Zusatzzeichen, sind schon wesentlich geringer, als bei Verkehrszeichen mit völlig unterschiedlichem Regelungsgehalt. Bei den hier zu beurteilenden zwei Geschwindigkeitsbeschränkungen mit jeweils einem konstitutiven Zusatzzeichen handelt es sich um eine einheitliche, wenn auch etwas komplexere Regelung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, die anders gar nicht möglich war und nicht gegen die einschlägigen Vorgaben verstieß. Bei den durch Verwaltungsvorschrift getroffenen Vorgaben handelt es sich zwar nicht um Rechtsvorschriften, diese binden aber grundsätzlich die nachgeordneten Behörden und stellen für die gerichtliche Entscheidung eine Auslegungshilfe dar (BVerwG, Urteil vom 13.03.2008, 3 C 18/07).

Inwieweit den Anforderungen des Sichtbarkeitsgrundsatzes genügt wurde, ist letztlich von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängig (BVerwG, Urteil vom 06.04.2016, 3 C 10/15; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 18.11.2021, 2 Ss OWi 646/21). Hier ließ die konkret angestrebte Verkehrsregelung, nämlich unterschiedliche Geschwindigkeitsbegrenzungen für unterschiedliche Tageszeiten, keine andere Beschilderungsmöglichkeit zu. Dies erkennt auch das Amtsgericht, das argumentiert, zwar sei die an der Messstelle geltende Beschilderung „für sich alleine genommen noch vereinbar mit dem Grundsatz der Sichtbarkeit“ (UA S. 3), so dass es sich nicht um eine unnötige Häufung von Verkehrsschildern an einem einzelnen Mast, sondern eine solche bezogen auf den gegenständlichen Streckenabschnitt handele (UA S. 6). Es bestehe nämlich für den Verkehrsteilnehmer nicht die Möglichkeit, die Bedeutung der Verkehrszeichen in der aufeinanderfolgenden Reihenfolge zu erfassen, diese führten vielmehr zu „Verwirrung“ (UA S. 6).

Diese Argumentation ist nicht haltbar. Denn die angebliche Häufung von Verkehrszeichen sieht das Amtsgericht darin, dass ca. 1.1 km vor der hier maßgeblichen Geschwindigkeitsbegrenzung bereits eine Geschwindigkeitsbeschränkung (nur) für die Nachtzeit erfolgt war und etwa einen weiteren Kilometer nach der hier geltenden Anordnung weitere Regelungen erfolgten (UA S. 3, 4, 6). Hierbei verkennt das Amtsgericht, dass der Betroffene an der Messstelle von der späteren Beschilderung gar nicht verwirrt gewesen sein konnte, weil er sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wahrgenommen hatte. Die spätere Beschilderung ist damit für den hier zu beurteilenden Sachverhalt völlig unbeachtlich. Für den Betroffenen gab es lediglich die erste Beschränkung auf 120 km/h für die Nachtzeit und sodann die der [xxx]Messung zugrundeliegende Beschränkung mit unterschiedlichen Höchstgeschwindigkeiten für die Tag- und die Nachtzeit.

Auch wenn 1.1 km zuvor lediglich eine Beschränkung für die Nachtzeit erfolgt war, tagsüber also keine Geschwindigkeitsbegrenzung galt, hatte der Betroffene jedenfalls ab km 151.250 Anlass, seine gefahrene Geschwindigkeit zu reduzieren, weil ihm auch bei einem beiläufigen Blick erkennbar war, dass nun eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h galt. Unter Zugrundelegung der Argumentation des Amtsgerichts könnte sich ein Verkehrsteilnehmer ansonsten jedes Mal, wenn nach einer Strecke ohne Geschwindigkeitsbeschränkung eine neue Anordnung erfolgt, auf den angeblichen „Gewöhnungseffekt“ (UA S. 4) berufen und behaupten, es sei ihm nicht gelungen, die neue „Information hinreichend schnell und zutreffend zu verarbeiten“ (UA S. 4). Hier lässt das Amtsgericht vor allem außer Acht, dass ein Kraftfahrer so zu fahren hat, dass er Verkehrszeichen jederzeit wahrnehmen und beachten kann, was auch und insbesondere für geschwindigkeitsbeschränkende Verkehrszeichen, bei denen es sich auf einer Autobahn weder um seltene noch überraschende Anordnungen handelt, gilt. Da sich die Messstelle erst 700 m nach der Anordnung befand, hatte der Betroffene auch ausreichend Zeit, seine Geschwindigkeit zu reduzieren, zumal eine Geschwindigkeitsbegrenzung von dem entsprechenden Schild an zu beachten ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 03.01.2001, 2 Ws (B) 582/00 OWiG, juris).

Ob und welche Angaben zur Sache der Betroffene in der Hauptverhandlung gemacht hat, ergibt sich aus den Urteilsgründen, die ausschließlich auf die vermeintliche Unwirksamkeit der getroffenen Anordnung abstellen, nicht. Jedenfalls kann sich der Betroffene nicht darauf berufen, den Sinngehalt dieser Schilder überhaupt nicht erfasst zu haben. Selbst, wenn die konkrete Zeitregelung für ihn – möglicherweise aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeit – nicht unmittelbar erkennbar gewesen sein sollte, musste er doch wahrgenommen haben, dass die Schilder Höchstgeschwindigkeiten von 100 bzw. 120 km/h für verschiedene Zeiten anordneten und deshalb eine Verringerung der gefahrenen Geschwindigkeit von 192 km/h jedenfalls auf 120 km/h erforderten.

Dass das Messprotokoll nicht sämtliche an der Messstelle gültigen Verkehrszeichen aufführt (UA S. 2 f.), beeinträchtigt weder die Gültigkeit der Anordnung noch die Richtigkeit der Messung. Denn es wurde der Messung und dem Protokoll jedenfalls die zum Tatzeitpunkt gültige Geschwindigkeitsbegrenzung zugrunde gelegt, bei der es sich im Übrigen auch um die dem Betroffenen günstigere handelt.

Soweit der erkennende Richter auf die seiner Meinung nach fehlende Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Anordnungen in ihrer Gesamtheit bezogen auf den Streckenabschnitt von km 150.100 bis km 152.200 abstellt (UA S. 6), verkennt es seinen Prüfungsmaßstab und ist diese Argumentation unbeachtlich.“

Diesen ausführlichen und überzeugenden Ausführungen schließt sich der Senat vollumfänglich an. Ergänzend merkt er lediglich an, dass auch die weitere Argumentation des Amtsgerichts, die vermeintliche Häufung der von der Messstelle km 151.990 erfassten Geschwindigkeitsverstöße sei auf eine „Irreführung“ der Verkehrsteilnehmer durch eine „nicht ordnungsgemäße“ Beschilderung zurückzuführen, die Entscheidung nicht trägt. Hierbei handelt es sich um eine nicht tatsachenbelegte Vermutung, kann der Anstieg von Geschwindigkeitsverstößen auch gänzlich andere Ursachen haben. Ausweislich der für den Senat durch die wirksame Bezugnahme auf das Lichtbild Bl. 9 zugänglichen Inaugenscheinnahme des maßgeblichen Streckenabschnitts mit Beschilderung handelt es sich um eine gerade übersichtliche Passage, bei der die deutlich sichtbaren, nach Tages-/Nachtzeit gestaffelten und in ihrer Bedeutung ohne weiteres erfassbaren Geschwindigkeitsbegrenzungen von Autofahrern erfahrungsgemäß auch mangels Regelakzeptanz schlichtweg um des eigenen schnellen Fortkommens ignoriert werden können.“

VR III: Nochmals unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, oder: Unfall mit dem rollenden Einkaufswagen?

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Und dann noch etwas vom OLG Naumburg. Das hat im OLG Naumburg, Beschl. v. 06.05.2024 – 1 ORs 38/24 – zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) Stellung genommen.

Zugrunde liegt ein „Klassiker“, nämlich ein „Unfall“ auf einem Supermarktparkplatz, an dem ein rollender Einkaufwagen „beteiligt“ war.

AG und LG haben den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen des LG im Berufungsurteil stellte der Angeklagte am Tattag seinen Pkw auf dem Parkplatz eines Supermarktes ab. Anschließend holte er einen Einkaufswagen und begab sich zurück zu seinem Fahrzeug. Da sich dort der Hund des Angeklagten losmachte, ließ der Angeklagte den Griff des Einkaufswagens los, um den Hund wieder anzuleinen. Der Einkaufswagen geriet daraufhin auf dem leicht abschüssigen Parkplatz ins Rollen, drehte sich einmal um die Achse und stieß mit dem Griff voran gegen den Pkw des Geschädigten, an dem eine Schramme und eine deutlich sichtbare Eindellung entstanden. Obwohl der Angeklagte den Anstoß bemerkte, begab er sich den Markt, um einzukaufen.

Gegen dieses Urteil wendete sich der Angeklagte mit seiner Revision, die mit der Verfahrensrüge hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg hatte. Im Übrigen hat das OLG die Revision als unbegründet verworfen.

Im Rahmen der Verfahrensrüge beanstandet das OLG, dass nicht ersichtlich, sei worauf das LG seine Überzeugung hinsichtlich der Höhe der durch die verursachten Beschädigungen am Pkw des Geschädigten Reparaturkosten in Höhe von 1.041,89 EUR stütze. Die Angabe eines bis auf den Cent exakten Betrags legt nahe, dass dieser einer Reparaturkostenrechnung, einem Kostenvoranschlag oder einer ähnlichen Urkunde entnommen worden sei. Derartiges ist in der Hauptverhandlung jedoch nicht verlesen worden. Die entsprechende Angabe kann auch nicht im Wege eines Vorhalts durch die Aussage eines Zeugen oder Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein, da weder Zeugen noch Sachverständige vernommen worden seien. Nach den Umständen des Falls erscheine es auch ausgeschlossen, dass die Angabe zur Höhe der Reparaturkosten im Wege eines Vorhaltes an den insoweit nicht sachkundigen und in keinem näheren Verhältnis zum Geschädigten stehenden Angeklagten eingeführt worden sei. Die in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunden verhielten sich ebenfalls nicht zu der Höhe der Reparaturkosten. Auch das in der Berufungshauptverhandlung verlesene Urteil des AG könne die getroffenen Feststellungen nicht begründen, weil dessen Verlesung nicht Teil der Beweisaufnahme, sondern wesentlicher Bestandteil der Berichterstattung nach § 324 StPO sei – dazu vgl. KG, Beschl. v. 4.3.2020 – (2) 121 Ss 32/20 (10/20).

Im Übrigen hat das OLG die Revision verworfen. Insoweit stelle ich hier nur die Leitsätze ein, da die Fragen m.E. in der obergerichtlichen Rechtsprechung, die das OLg auch zitiert, ausreichend ausgekaut sind. Also:

  1. Ein allgemein zugänglicher privater Parkplatz gehört zum räumlichen Bereich des öffentlichen Straßenverkehrs.
  2. Nicht jeder Unfall ist schon deshalb ein „Unfall im Straßenverkehr“ im Sinne des § 142 StGB, weil er sich im öffentlichen Verkehrsraum ereignet. Vielmehr setzt die Annahme eines „Verkehrsunfalls“ nach dem Schutzzweck der Norm des § 142 StGB einen straßenverkehrsspezifischen Gefahrenzusammenhang voraus. In dem „Verkehrsunfall” müssen sich gerade die typischen Gefahren des Straßenverkehrs verwirklicht haben.
  3. Der erforderliche straßenverkehrsspezifische Zusammenhang isz auch dann gegeben ist, wenn sich die Gefahr verwirklicht hat, die dadurch entsteht, dass sich ein Fußgänger auf einem Supermarktparkplatz im räumlichen Bereich der dort abgestellten Kraftfahrzeuge bewegt, etwa um zu seinem Fahrzeug zu gelangen.

Die Entscheidung ist zutreffend. Sie fasst die ständige Rechtsprechung der Obergerichte zum Begriff des „Unfalls im Straßenverkehr“ in § 142 StGB zutreffend zusammen. Man fragt sich allerdings, was das OLG bewogen hat, so ausführlich dazu auszuführen. Die damit zusammenhängenden Fragen sind in der Rechtsprechung zwar vor einigen Jahren kontrovers diskutiert worden, der Streit dürfte sich inzwischen aber erledigt haben, da von der h.M. abweichende Rechtsprechung in den letzten Jahren nicht mehr bekannt geworden ist. Aber vielleicht wollte das OLD zu der Frage auch mal etwas gesagt haben, nachdem der Verteidiger die Frage noch einmal thematisiert hatte. Jedenfalls wird der Stand der Rechtsprechung schön dargestellt, so dass die Entscheidung für die Praxis brauchbar ist, auch wenn das OLG zum Schuldspruch für den Angeklagten nachteilig entschieden hat.

VR II: Urteilsfeststellungen beim Alleinrennen, oder: Wir wollen das Fahrverhalten des Täters kennen

Und im zweiten Posting dann gleich noch einmal etwas vom KG, nämlich der KG, Beschl. v. 01.03.2024 – 3 ORs 16/24 – 161 SRs 4/24 – zu den Urteilsfeststellungen bei „Alleinrennen“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB). Mal wieder.

Das AG hat den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens „mit fahrlässiger Gefährdung von Leib und Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert“  verurteilt. Zugleich hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperre für die Wiedererteilung von sechs Monaten festgesetzt. Schließlich hat das Amtsgericht auch den bei der Tat verwendeten PKW VW Passat eingezogen.

Das AG hat festgestellt, dass der am 03.02.2023 auf einer Fahrstrecke von etwa zwei km Länge ein sogenanntes Einzelrennen durchgeführt und im Zusammenhang mit einem Spurwechsel einen anderen Verkehrsteilnehmer dazu veranlasst zu haben, bis zum Stillstand abzubremsen.

Die hiergegen gerichtete Sprungrevision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg. Das KG rügt unzureichende Feststellungen:

„1. Die Feststellungen erweisen nicht, dass der Angeklagte den Grundtatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verwirklicht hat.

a) Nach dieser Regelung macht sich strafbar, wer sich im Straßenverkehr als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Bei der Anwendung des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB gilt, dass gerade dessen weite Fassung vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) möglichst klar konturierte Feststellungen des für erwiesen erachteten Sachverhalts erfordert (vgl. Senat StraFo 2019, 342 = VRS 135, 267 = NZV 2019, 314 [m. zust. Anm. Quarch]; NJW 2019, 2788 m. Anm. Zopfs; DAR 2020, 149 = NZV 2020, 210; StV 2022, 29 [Volltext bei juris]). Vor dem Hintergrund der weiten gesetzlichen Formulierung dürfen sich Unschärfen bei der Sachverhaltsermittlung nicht einseitig zum Nachteil des Angeklagten auswirken (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]).

b) Die Urteilsfeststellungen leiden, wie dies bei ähnlichen Fallkonstellationen immer wieder vorkommt (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]), daran, dass sie zu weiten Teilen nicht das Fahrverhalten des Angeklagten darstellen, sondern dasjenige des verfolgenden Polizeifahrzeugs. Über dieses soll sich das Rechtsmittelgericht erschließen, welches Fahrverhalten dem Angeklagten zur Last fällt. Bei den Urteilsfeststellungen zu schildern ist aber nicht vorrangig das den Polizeibeamten zur Verfolgung abgenötigte Fahrverhalten, sondern dasjenige des (vorausfahrenden) Täters, welches das Tatgericht nach freier richterlicher Beweiswürdigung für tatbestandsmäßig hält. Hiervon hat sich zuvörderst der Tatrichter selbst ein Bild zu machen, das er im Urteil niederzulegen und dem Revisionsgericht zu vermitteln hat (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]).

Hier heißt es in den Urteilsfeststellungen, der Fahrer des Polizeifahrzeugs habe „stark beschleunigen“ müssen, „um zu dem PKW Passat aufzuholen, wobei der digitale Tachometer des Polizeifahrzeugs 87 km/h anzeigte“. „Trotzdem“, so heißt es weiter, „entfernte sich der PKW immer weiter“ (UA S. 3). Im gleichen Duktus heißt es später, die polizeilichen Zeugen seien dem Angeklagten weiter gefolgt, mit einer „abgelesenen Geschwindigkeit von 95 km/h“ bzw., dass „der Tachometer 85 km/h anzeigte“ (alles UA S. 3). Schließlich heißt es: „Die Polizeibeamten verfolgten den Angeklagten (…) mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h“ (UA S. 4).  All diese Schilderungen betreffen das Fahrverhalten des Polizeifahrzeugs. Ersichtlich soll das Rechtsmittelgericht daraus Schlussfolgerungen in Bezug auf die Fahrweise des Angeklagten und die von diesem erzielte Geschwindigkeit ziehen. Diese Folgerungen auszuformulieren und sie – in der Beweiswürdigung – zu begründen, ist aber die ureigene Aufgabe des Tatgerichts. Wenn es, wie hier, unterschiedliche Möglichkeiten gibt, die Beweise zu würdigen, ist das Revisionsgericht weder befugt noch in der Lage, dies zu tun.

Hier bleibt unklar, welche vom Angeklagten tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit, die sowohl für den äußeren Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB als auch für die subjektiv erforderliche „Höchstgeschwindigkeitserzielungsabsicht“ zentral ist, das Tatgericht für erwiesen erachtet. Die Feststellung, der Tachometer des Polizeifahrzeugs sei digital, sagt nichts darüber aus, ob er geeicht war und ob das Amtsgericht einen Toleranzabzug vorgenommen hat. Dieser hätte bei einem geeichten Geschwindigkeitsmesser geringer ausfallen können als bei einem ungeeichten. Bei letzterem wird – zudem unter jedenfalls in Bezug auf Messstrecke und Abstand im Ansatz standardisierten Bedingungen – von der Rechtsprechung in Bußgeldsachen überwiegend 20% in Abzug gebracht (vgl. Senat DAR 2015, 99).

In diesem Zusammenhang gilt es nicht, einen Rechtssatz mit dem Inhalt zu formulieren, diese Grundsätze seien auf die Feststellung einer Straftat nach § 315d StGB ohne Abweichung zu übertragen. Vielmehr können in Bezug auf Geschwindigkeiten auch valide Schätzungen versierter – ggf. zur Verkehrsüberwachung eingesetzter – polizeilicher Zeugen erwartet werden (vgl. allg. BayObLG NZV 2001, 139; OLG Hamm NZV 1998, 169) und vom Tatgericht in freier richterlicher Beweiswürdigung sogar ohne Abschlag übernommen werden (vgl. Senat StV 2022, 29 [Volltext bei juris]). Aber die Urteilsfeststellungen müssen das Ergebnis dieser Überlegungen in Form der für erwiesen erachteten Geschwindigkeit mitteilen, und im Rahmen der Beweiswürdigung ist klarzustellen, ob ein Toleranzabzug vorgenommen wurde. Unterbleibt dies, bedarf es regelmäßig einer Erklärung.

Nicht bei den Feststellungen, sondern im Rahmen der Beweiswürdigung teilt das Amtsgericht mit, von welcher tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit es ausgeht, nämlich „von bis zu 100 km/h auf einer Strecke von 2 km“ (UA S. 6 u.). Sollte es sich hierbei um eine zusätzliche Urteilsfeststellung handeln, so setzt sie sich in Widerspruch zu den zuvor getroffenen Feststellungen (UA S. 3 – 4), und zudem fehlt ihr eine tragende Beweiswürdigung. Zwar hat einer der polizeilichen Zeugen „von gefahrenen Geschwindigkeiten bis 100 km/h“ gesprochen (UA S. 5). Insoweit fehlt es aber, wie dargelegt, an einer Überprüfung der Validität. Insbesondere wäre mitzuteilen gewesen, ob die Geschwindigkeit mit einem geeichten Tachometer ermittelt und ob ein Toleranzabzug vorgenommen worden ist.“

Auch hier: Immer wieder.

Und bei der Segelanweisung bzw. dem Teil: Wir wollen die Sache nicht wieder sehen, führt das KG aus:

„2. Für den weiteren Verfahrensgang weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Gegen die auf § 315f StGB gestützte Einziehung eines vom Täter bei der Tat geführten PKW ist im Grundsatz nichts zu erinnern. Allerdings wird das Amtsgericht zu beachten haben, dass es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, die im Hinblick auf die Tat und die Persönlichkeit des Täters entsprechend zu begründen ist (vgl. hierzu NK-GVR/Quarch, a.a.O., § 315f StGB Rn. 1). Dies ist hier unterblieben. Das angefochtene Urteil erwähnt lediglich das Baujahr des Fahrzeugs (2011) (UA S. 7).

b) Die Einziehung hat den Charakter einer Nebenstrafe und stellt damit eine Strafzumessungsentscheidung dar. Wird dem Täter auf diese Weise ein Gegenstand von nicht unerheblichem Wert entzogen, so ist dies ein bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafe und insoweit im Wege einer Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen angemessen zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 2020, 214). Sollte das Amtsgericht erneut zur Einziehung des vom Angeklagten geführten PKW gelangen, so wird es bei der Strafzumessung deutlich zu machen haben, dass es dies als bestimmenden Gesichtspunkt erkannt und berücksichtigt hat.

c) Schließlich ist auch fraglich, ob die bisherigen Feststellungen die Verurteilung wegen der Qualifikation des § 315d Abs. 2 StGB tragen. Die Anforderungen an die hierzu erforderliche konkrete Gefährdung entsprechen denjenigen des § 315b und § 315c StGB (vgl. NK-GVR/Quarch, 3. Aufl., § 315d StGB Rn. 13). Eine konkrete Gefährdung liegt vor, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Notwendig ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (vgl. BGH NStZ 2023, 415).

Die hierzu im Urteil festgestellte Verkehrssituation ist wenig klar. Geschildert wird ein Fahrstreifenwechsel des Angeklagten, in dessen Folge sowohl dieser als auch ein anderer Fahrzeugführer bis zum Stillstand abbremsen mussten. Allerdings erschließt sich der Vorgang nicht gänzlich, zumal die Fahrzeuge des Angeklagten und des anderen Verkehrsteilnehmers offenbar nebeneinander zum Stehen kamen. Das auf diese Weise geschilderte Verkehrsgeschehen ist jedenfalls nicht ohne Weiteres als „Beinaheunfall“ einzustufen, zumal unklar bleibt, ob der andere Fahrer aus einer nicht ganz geringen Geschwindigkeit und zudem stark abbremsen musste. „