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StPO III: „Vorweihnachtliches Pflichti-Potpourri“, oder: Haftentlassung, Gesamtstrafe und Rückwirkung

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Und zum Tagesschluss dann noch die Pflichtverteidigungsentscheidungen, die sich seit dem letzten Pflichti-Tag angesammelt haben. Es sind (nur) vier Stück, das reicht also nicht für einen ganzen Tag. Daher habe ich sie in diesem Posting zusammengefasst, stelle aber jeweils nur die Leitsätze vor.

Zunächst kommen hier zwei Entscheidungen zur Aufhebung der Bestellung des Pflichtverteidigers für den inhaftierter Mandanten nach dessen Haftentlassung, also ein Fall des § 140 Satz 1 Nr. 5 StPO. Das AG Siegen hatte im AG Siegen, Beschl. v. 24.10.2024 – 401 Ds-69 Js 794/24-745/24 – aufgehoben. Das hat das LG Siegen dann im Beschwerdeverfahren „gehalten“. Der LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 – 10 Qs-69 Js 794/24-94/24 – hat folgenden Leitsatz:

1. Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Es ist aber zu prüfen, ob nicht aus anderen Gründen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.

2. Zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Und dann hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 – 21 Qs 80/24 -, der sich noch einmal zur „Schwere der Tat“ äußert und auch zum Bestellungsverfahren – ohne Antrag – und zum Bestellungszeitpunkt, nämlich:

1. Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.

2. Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers.

Und natürlich der Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ mit zwei Entscheidungen, nämlich dem LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.11.2024 – 5/06 Qs 51/24  – und dem LG Meiningen, Beschl. v. 09.10.2024 – 6 Qs 141/24. Das LG Frankfurt am Main hat es richtig gemacht und hat die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen, das LG Meinigen hat sich hingegen bei den „ewig Gestrigen“ eingereiht, die von Unzulässigkeit der rückwirkenden Bestellung ausgehen. Die Leitsätze schenke ich mir hier, die sind bekannt 🙂 .

Pflichti I: Unfähigkeit einer Selbstverteidigung, oder: Im „Betreuungsfall“ grundsätzlich immer

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Ich stelle heute dann einige „Pflichti-Entscheidungen“ vor. Das Schwergewicht liegt heute Nachmittag bei den Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung. Ansonsten ist es nicht ganz so viel wie sonst schon mal.

Hier zum Warmwerden erst mal LG Münster, Beschl. v. 23.10.2024 – 11 Qs 58/24 – zu den Beiordnungsgründen, und zwar dem Beiordnungsgrund: Unfähigkeit der Selbstverteidigung. Es handelt sich um einen „Betreuuungsfall“. Da hat das LG Münster nicht viel „Theater“ gemacht, sondern hat auf Beschwerde des Verteidigers gegen den AG-Beschluss, der die Bestellung abgelehnt hatte, bestellt:

„Die zulässige sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Der Beschuldigte steht seit Jahren unter nahezu umfassender Betreuung, die insbesondere auch den Aufgabenkreis der Vertretung vor Behörden umfasst, so dass ihm schon allein aus diesem Grund gem. § 140 Abs.2 StPO wegen der daraus folgenden erheblichen Zweifel an seiner Selbstverteidigungsfähigkeit ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 67.Aufl., § 140 Rn.30, OLG Celle , Beschluss vom 04.05.2023 – 2 Ws 135/23 jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Überdies belegen sowohl das ärztliche Gutachten vom 15.09.2013 als auch das Attest vom 08.11 2023 eine nicht bloß unerhebliche und zudem fortbestehende geistige Beeinträchtigung des Beschuldigten.“

Richtig so.

Pflicht II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: LG Magdeburg topp, LG Arnsberg ein Flopp

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Und im zweiten Posting dann zwei weitere Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, eine topp und eine hopp, und  zwar:

1. Nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens kommt die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Allerdings ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung vieler Landgerichte eine rückwirkende Bestellung – unabhängig davon, ob eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 154 Abs. 1 StPO, § 170 Abs. 2 StPO oder der Eintritt der Rechtskraft eines Urteils oder Strafbefehls eine Verfahrensbeendigung herbeigeführt hat – ausnahmsweise dann zulässig, wenn ein entsprechender Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorgelegen haben und die Entscheidung durch justizinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

2. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers, zumal für einen begrenzten Zeitraum, kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn auf Wunsch des Angeschuldigten die Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger tatsächlich inzwischen erfolgt ist.

Nun, der Entscheidung des LG Magdeburg ist nichts hinzuzügen. Sie ist zutreffend.

Die des LG Arnsberg ist unzutreffend und eröffnet – wie überhaupt die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung – der Einflussnahme des Richters auf die konkrete Person des Verteidigers Tür und Tor. Zum Hintergrund muss man wissen – so hat es mir der Kollege, der mir den Beschluss geschickt hat, mitgeteilt: Gegen den Mandanten war ein europäischer Haftbefehl erlassen und er in den Niederlanden beim Ermittlungsrichter vorgeführt worden. Der Kollege hatte sich unter Vollmachtsvorlage im Januar 2023 für den bereits früher von ihm vertretenen Mandanten (ebenfalls früher beigeordnet) bestellt und seine Beiordnung beantragt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung lag erkennbar vor. Das AG Arnsberg ließ seinen Antrag, ebenso wie zwei seiner Erinnerungen schlicht unbeachtet.

Nachdem der Kollege die Akte von der Staatsanwaltschaft ohne Angabe von Gründen ebenfalls einen Monat nicht erhalten hat, hat der Mandant offenbar das Vertrauen verloren und beauftragte, ohne den Kollegen, zu informieren eine andere Kollegin, die ihre Beiordnung beantragte und beigeordnet wurde. Erst hiernach erhielt der Kollege eine Zuschrift vom Ermittlungsrichter, ob er nach der nunmehr vom Mandanten beauftragten Anwältin noch an meinem Antrag festhalten würde. Der Kollege hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass er einer Umbeiordnung nicht entgegen treten werde. da inzwischen (wenige Tage zuvor) das Mandat beendet worden sei, dass er jedoch auf seiner Beiordnung bisher bestehe, da es keinen Grund gab, ihn nicht beizuordnen. Die o.a. Entscheidung ist das Resultat. Sie ist – im Grunde – eine Frechheit: Da passiert offenbar monatelang nichts – die StPO spricht von „unverzüglich“ – und dann wird eine anderer Rechtsanwalt beigeordnet und dem Antragsteller, den man schlicht – warum? Faulheit? Keine Lust? – ignoriert hat, wird dann gesagt: Nee, Rückwirkung gibt es nicht. Armselig.

 

 

 

 

Pflichti I: 5 x etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Höhe der Strafe, Berufung der StA, Betreuer, KiPo

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Und heute ist dann mal ein „Pflichti-Tag“ mit einigen Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Da hat sich in der letzten Zeit einiges angesammelt.

Ich starte hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar – wie gehabt – nur mit den Leitsätzen, da es sonst zu viel wird:

Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in der Regel erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu bejahen.

Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten in der Regel ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung, wenn dem Beschuldigten ein Betreuer bestellt ist.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge im Sinne des § 68 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, drohen.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in einem sog. KiPo-Verfahren.
2. Die Sachlage ist unter anderem dann im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt. Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist.

Anwalt II: Zweimal etwas zum Beiordnungsgrund, oder: Schwere Rechtsfolge oder psychiatrisches Gutachten

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Und dann hier im Mittagsposting zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Von einer schweren Rechtsfolge ist ab einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen, wobei auch schwerwiegende mittelbare Nachteile, wie ggf. eine Bewährungswiderruf und eine Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Führungsaufsicht in anderer Sache zu berücksichtigen sind.

Liegt ausweislich eines psychiatrischen Gutachtens bei dem Angeschuldigten eine seelische Behinderung, nämlich eine psychotische Störung durch multiplen Substanzgebrauch (F19.5) vorm die ihn nach der Bewertung der Ärztin daran hindert seine Angelegenheiten in Bezug auf die Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und der Krankenkasse, die Vertretung in Wohnungsangelegenheiten, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, die Hilfe im Insolvenzverfahren sowie die Gesundheitssorge selbst zu besorgen, ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung zu bejahen.