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Pflichti II: Unübersichtliche Akten, Geldstrafe, oder: Steuerhinterziehung, Beweisverwertungsverbot

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Im zweiten Posting stelle ich die in den letzten Tagen eingesandten Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen vor, und zwar zwei LG-Beschlüsse und einen AG-Beschluss.

Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, ist dann anzunehmen, wenn die Gefahr besteht, dass der Angeklagte seine Rechte ohne die Mitwirkung eines Verteidigers nicht mehr ausreichend wahrnehmen kann. Das kann nach der gebotenen Gesamtbetrachtung der Fall sein, wenn Umfang der Akte mit 12 weiteren Fallakten und die Anzahl von 14 enthaltenen Ermittlungsverfahren es dem gerade 20-jährigen Beschuldigten erschwert, ohne anwaltliche Hilfe deutlich, den Überblick über die Vorwürfe zu behalten.

Für die Beurteilung, ob die Rechtslage wegen eines behaupteten Beweisverwertungsverbotes schwierig ist, kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich von einem Verwertungsverbot auszuge-hen ist. Ausreichend ist vielmehr, dass fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Beweisverwer-tungsverbot unterliegt. Die sich insoweit stellenden Rechtsfragen wird ein juristischer Laie nicht beantworten könne. Hinzu kommt, dass die Frage, ob von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen ist, regelmäßig ohne vollständige Aktenkenntnis nicht zu beantworten ist.

1. Bei einer drohenden Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen oder mehr kann im Einzelfall eine Verteidigung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten sein.

2. Bei Tatvorwürfen der Steuerhinterziehung über mehrere Veranlagungszeiträume, die auf Schätzungsgrundlagen beruhen, ist eine Verteidigung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage jedenfalls dann geboten, wenn weitere Umstände in der Person des Angeklagten hinzutreten, die befürchten lassen, dass der Angeklagte den Sachverhalt in seiner Komplexität nicht erfasst, was z.B. bei sprachliche. Schwierigkeiten und der Erforderlichkeit eines Dolmetschers der Fall sein kann.

Pflichti II: Notwendige Einsicht in andere Akten, oder: Selbstverteidigung bei Artikulationsstörung?

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Im zweiten Posting habe ich hier dann zwei Entscheidungen zun den Beiordnungsgründen, und zwar.

„Hier ist jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sachlage gemäß § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich.

Als schwierig ist die Sachlage eines Verfahrens nämlich unter anderem dann zu bewerten, wenn die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann. Hier ist die Akteneinsicht, insbesondere in die Akte des bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main geführten Ermittlungsverfahrens gegen den gesondert Verfolgten pp., bei verständiger Betrachtung für eine sachdienliche Vorbereitung und Durchführung der Verteidigung unerlässlich. Anhand der gegenständlichen Ermittlungsakte lässt sich der Tatvorwurf der Haupttat gegen den gesondert Verfolgten pp. – und somit auch der Tatvorwurf der Anstiftung zu ebenjener Haupttat gegen die Beschwerdeführerin – nicht hinreichend prüfen. Hierzu bedarf es der Akteneinsicht in die Ermittlungsakte bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main. Da die Beschwerdeführerin nicht Beteiligte des weiteren Ermittlungsverfahrens ist, erhält sie als Privatperson keine Einsicht in die Ermittlungsakten. Hierzu bedarf es gemäß § 475 Abs. 1 StPO der Beiziehung eines Rechtsanwalts.“

Für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen „Unfähigkeit der Selbstverteidigung“ muss nicht gänzliche Verteidigungsunfähigkeit gegeben sein. § 140 Abs. 2 StPO ist bereits dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das ist bei einer attestierten Dysarthrie (Artikulationsstörung) des Angeklagten der Fall, da dann erhebliche Zweifel bestehen, dass dieser in der Lage ist, seine Interessen selbst zu wahren und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vorzunehmen.

„Pflichti 2“: Aussage-gegen-Ausage, dann Pflichtverteidiger

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Ich setze dann die Pflichtverteidigungsreihe (vgl. Klein aber fein, AG Backnang zum “Pflichti” bei Unfähigkeit der Selbstverteidigung – “Pflichti 1?) fort mit dem KG, Beschl. v. 25.09.2013 – (4) 121 Ss 147/13 (184/13), in dem es um die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Berufungsverfahren wegen Schwierigkeit der Sachlage ging. Das KG hat sie bejaht, denn:

„Die Schwierigkeit der Sachlage macht die Mitwirkung eines Verteidigers an der Berufungshauptverhandlung in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation notwendig, wenn aus weiteren Indizien allein nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen geschlossen werden kann, so dass eine besondere Glaubwürdigkeitsprüfung erforderlich ist, und weitere, die Beweiswürdigung zusätzlich erschwerende Umstände hinzukommen. In dieser Konstellation kann eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben des Belastungszeugen, nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhaltes gewährleistet werden. Dieser ist aber – auch nach der Neufassung des § 147 StPO – nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung des Pflichtverteidigers unumgänglich ist.“

Letztlich hat, wenn man den Beschluss liest, ein „Umständebündel“ zur Beiordnung geführt, wobei allerdings die Frage der erforderlichen Aktenkenntnis schon im Vordergrund gestanden hat. Man fragt sich allerdings, ob nicht – unabhängig von den vom KG herausgearbeiteten Umständen – ein Pflichtverteidiger auch deshalb hätte beigeordnet bleiben müssen, weil sich der Angeklagte bis kurz vor dem HV-Termin in U-Haft befunden hatte. Damit hat sich das KG allerdings nicht befasst.

Der Verteidiger hat im Übrigen im Hinblick auf § 338 Nr. 5 StPO alles richtig gemacht. denn:

„Nach dem Plädoyer der Verteidigung, welches Rechtsanwalt Z. im Termin zur Berufungshauptverhandlung am 19. März 2013 gehalten hatte, verließ dieser den Sitzungssaal mit der Erklärung, an diesem Tag nicht mehr zurückzukehren. Die Hauptverhandlung wurde für 13 Minuten unterbrochen und sodann in Abwesenheit des Verteidigers mit dem Plädoyer des Vertreters der Staatsanwaltschaft fortgesetzt. Der Angeklagte erklärte sich abschließend und hatte das letzte Wort. Das angefochtene Urteil wurde nach Beratung verkündet. Ein Verteidiger nahm bis zum Schluss der Sitzung nicht mehr für den Angeklagten an der Berufungshauptverhandlung teil.“

Und dazu dann das KG:

Bei den in Abwesenheit eines Verteidigers vorgenommenen Verfahrenshandlungen handelte es sich – hinsichtlich des Schlussvortrags des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, des letzten Wortes des Angeklagten und der Verlesung der Urteilsformel – auch um wesentliche Teile der Hauptverhandlung (vgl. Meyer-Goßner, StPO 56. Aufl., § 338 Rn. 37 m.w.Nachw.).“

Falsche Verdächtigung ist schwierig,

jedenfalls dann, wenn die Tat offenbar so kompliziert ist, wie es im LG Essen, Beschl. v.06.04.2011 -56 Qs 25/11 offenbar der Fall war. Mehrere Einlassungen, schwierige subjektive Seite. Da kann man nur mit einem Pflichtverteidiger arbeiten. Und den hat das LG dann auf die Beschwerde hin beigeordnet und dazu u.a.  ausgeführt:

„Hinzu kommt, dass die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis, die nur einem Vertei­diger gemäß § 147 StPO zusteht, hier nicht umfassend vorbereitet werden kann, was die Schwierigkeit der Sachlage vertieft (vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 140 Rz. 22 mit Nachweisen aus der obergerichtlichen Rspr.). Denn um die Tatvorwürfe zu prüfen, ist die Kenntnis der Einlassungen und der Zeugenaussagen von Bedeutung. Diese können wegen des Zeitablaufs auch nicht mehr aus dem Ge­dächtnis rekonstruiert werden.

Zwar hat der unverteidigte Angeklagte auf seinen Antrag einen Anspruch auf Aus­künfte und Abschriften aus den Akten, wenn er sich sonst nicht angemessen vertei­digen könnte (§ 147 Abs. 7 StPO). Doch erscheint die Angeklagte M. im vorlie­genden Fall nicht in der Lage, die für ihre Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und in ihrer Bedeutung einzuschätzen, so dass (vollständige) Aktenein­sicht durch einen Verteidiger zwingend erforderlich ist...“