Im zweiten Posting dann drei LG-Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung.
Zunächst hier der schön begründete LG Köln, Beschl. v. 30.01.2025 – 111 Qs 6/25 -, der zutreffend ausführt:
1. Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein eingestelltes Verfahren ist in der Regel unzulässig, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger oder der Rechtsanwalt, den der Beschwerdeführer als den zu bestellenden Pflichtverteidiger benannt hatte, rechtzeitig und auch begründet seine Bestellung beantragt hatte. Eine Ausnahme ist dann anzunehmen, soweit der Antrag auf Beiordnung gestellt worden ist und pflichtwidrig eine unverzügliche Entscheidung über diesen unterlassen worden ist.
2. Aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ergibt sich die Verpflichtung auf zeitnahe Entscheidung über seinen Pflichtverteidigerantrag. Die Bemessung dieser Prüfungs- und Überlegungsfrist kann dabei nicht starr erfolgen. Sie muss vielmehr an den Umständen des Einzelfalls und Zweck der Pflichtverteidigung ausgerichtet sein, der darin besteht, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz bestimmten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und dass ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist.
Und dann noch der ebenso schöne/richtige LG Hannover, Beschl. v. 05.02.2025 – 101 Qs 7/25 -:
1. Wenn der Beschuldigte vor der Verfahrenseinstellung die Beiordnung eines Verteidigers beantragt hat, die Voraussetzungen der Bestellung vorlagen und die rechtzeitige Bescheidung aus rein justizinternen Gründen unterblieben ist, ist eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung zulässig.
2. Eine Frist von zwei Wochen zwischen Eingang des Beiordnungsantrags bei der Polizei und dem Eingang bei der Staatsanwaltschaft ist zu lang.
An dritter stelle aber leider auch der LG Stuttgart, Beschl. v. 17.01.2025 – 3 Qs 3/24, über den man lieber das „Mäntelchen des Schweigens“ legen sollte. Denn das LG Stuttgart schreibt „Tünkram„. Anders kann man es m.E. nicht bezeichnen.
Wegen des Sachverhalts verweise ich auf den verlinkten Volltext. Den stelle ich, da er etwas umfangreicher ist, hier nicht ein. Nur so viel: Das „Gezerre“ um die Pflichtverteidigerbestellung und die vom Verteidiger beantragte Akteneinsicht geht seit Anfang 2023. Akteneinsicht wird dem Verteidiger dann endlich im Dezember 2023 gewährt, Anfang 2024 wird dann nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Gegen die Ablehnung der rückwirkenden Bestellung legt der Verteidiger dann am 13.02.2024 Beschwerde ein. Ohne Erfolg.
Das LG bejaht zwar – insofern ist der Beschluss richtig – die grundsätzliche Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Es verneint dann aber das Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen:
„Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO liegen jedoch nicht vor, weil dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf nicht eröffnet wurde. Die Kammer vertritt wie bereits im Beschluss vom 21.08.2023 weiterhin die Auffassung, dass die Eröffnung des Tatvorwurfs einen förmlichen Akt der Strafverfolgungsbehörden voraussetzt und es nicht genügt, dass der Betroffenen auf sonstige Art und Weise von einem Tatverdacht Kenntnis erhält. Die Neuregelung der Verteidigerbestellung erfordert auch unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien keine abweichende richtlinienkonforme Auslegung (zum Ganzen KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; offen gelassen BGH, Beschluss vom 09.02.2023 – StB 3/23 -, juris = NStZ 2023, 686 mwN). Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert. Relevant ist, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des Beschuldigten, darstellt (zum Ganzen Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 09.02.2023 – StB 3/23 – , juris = NStZ 2023, 686 mwN). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers setzt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die betreffende Person Beschuldigter in einem Strafverfahren ist und die Strafverfolgungsbehörde ihr durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise die Einleitung gegen sie gerichteter Ermittlungen zur Kenntnis gebracht hat. Vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sowie im Zeitraum noch nicht offen geführter Ermittlungen ist für eine Pflichtverteidigerbestellung kein Raum (zum Ganzen BGH, Beschluss vom 06.08.2024 StB 45/24 – , juris mwN). Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung, die ohne vorangegangene förmliche Mitteilung lediglich aufgrund von Mutmaßungen über Ermittlungen gestellt werden, sind unzulässig (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 06.08.2024 -StB 45/24 -, juris mwN). In der Gewährung von Akteneinsicht an Rechtsanwalt Pp. lag im vorliegenden Fall keine Eröffnung des Tatvorwurfs gegenüber dem ehemaligen Beschuldigten im Sinn des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein Verteidiger bzw. Beschuldigter hat gemäß § 147 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich ein Akteneinsichtsrecht. Dieses kann gemäß § 147 Abs. 2 S. 1 StPO vor Abschluss der Ermittlungen nur versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart gab dem Antrag von Rechtsanwalt Pp. auf Akteneinsicht unter Verweis hierauf zunächst nicht statt, teilte diesem aber mit, die Akteneinsicht werde vorgemerkt. Rechtsanwalt Pp. wiederholte den Akteneinsichtsantrag in der Folge mehrfach mit zum Teil ausführlicher Begründung seines Rechts auf Akteneinsicht. Nach Vorlage der Akte durch die Polizei nach Abschluss deren Ermittlungen wurde Rechtsanwalt Pp. dann durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart Akteneinsicht gewährt. Hierdurch wurde, wie sich aus dem geschilderten Verfahrensablauf ergibt, dessen Recht auf Akteneinsicht stattgegeben. Dagegen war seitens der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorliegend nicht beabsichtigt, dem ehemaligen Beschuldigten dadurch den Tatvorwurf zu eröffnen. Es erfolgte mit der Gewährung von Akteneinsicht auch in der Wahrnehmung des ehemaligen Beschuldigten – keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wies Rechtsanwalt Pp. hierauf – wenngleich nachträglich – ausdrücklich hin. Unabhängig hiervon ergibt sich dies ebenfalls aus dem Gang des Verfahrens. Die vorangegangenen polizeilichen Ermittlungen gegen den ehemaligen Beschuldigten hatten sich in Feststellungen zu dessen Person und der Untersuchung dessen Reisepasses auf Echtheit sowie einem augenscheinlichen Vergleich von Lichtbildern von seiner Person mit von einem Zeugen gefertigten Videoaufnahmen von den Tätern und Wahllichtbildvorlagen bei eventuellen Zeuginnen, die zu keinem Ergebnis geführt hatten, erschöpft. Einer polizeilichen Anregung auf Beantragung eines Haftbefehls gegen den ehemaligen Beschuldigten kam die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht nach. Kurze Zeit nach Erledigung des Akteneinsichtsgesuchs von Rechtsanwalt Pp. stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten ohne weitere Ermittlungen oder Erkenntnisse gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.“
Dazu ist anzumerken – so steht es demnächst auch im StRR: M.E. hätte hier beigeordnet werden müssen, da dem dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf im Sinn des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nämlich eröffnet war. Man fragt sich, warum das LG so viel Worte macht, um den Leser seines Beschlusses vom Gegenteil zu überzeugen, was dann aber nicht gelingt. Zutreffend ist der Ansatz des LG, wonach regelmäßig der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert wird (BGH, Beschl. v. 9.2.2023, StB 3/23, NStZ 2023, 686). Aber das LG unterschlägt, die davon abweichende Mehrzahl von Entscheidungen, die jegliche Kenntnisnahme genügen lassen (LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22; LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.9.2022 – 6 Qs 41/22, StV 2023, 159; LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20, StV 2021, 162; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.7.2021 – 23 Qs 86/21; s. vor allem auch AG Hagen, Beschl. v. 16.2.2021 – 67 Gs 115/21, das Kenntnis des Beschuldigten vom neuen Verfahren angenommen hat, weil dem Verteidiger insoweit Akteneinsicht gewährt wurde). Und diese abweichende Meinung ist zutreffend, denn es war gerade Absicht des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidiger, den Beiordnungszeitpunkt ganz bewusst weg vom gerichtlichen Verfahren hin zum Ermittlungsverfahren vorzuverlagern wollte. Dem und auch dem LG selbst angeführten Unverzüglichkeitsgebot würde es zuwider laufen, würde man den Beschuldigten, der Kenntnis von dem gegen ihn geführten Verfahren erlangt hat, darauf verweisen, in jedem Fall abzuwarten, bis die Ermittlungsbehörden förmlich an ihn herantreten. Überdies hätte es sonst die Staatsanwaltschaft in der Hand, Verteidigerbestellungen durch schlichte Untätigkeit zu verhindern, indem sie den Beschuldigten einfach nicht anhört. Der hier gegebene Verfahrensablauf ist dazu gerade ein Paradebeispiel. Zudem haben auch die der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung zugrundeliegenden europäischen Richtlinien keine förmliche Mitteilung des Tatvorwurfs verlangt (so zutr. LG Magdeburg, a.a.O. und Burhoff/Hillebrand, EV, Rn 3799). Daran ändert auch nichts, wenn die Staatsanwaltschaft – wie hier – den ehemaligen Beschuldigten – und das auch noch nachträglich – darauf hingewiesen hat, dass in der Gewährung von Akteneinsicht keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft liege. Das wäre ja noch schöner, wenn die Staatsanwaltschaft es in der Hand hätte, die einmal geschaffenen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wieder rückgängig zu machen. Unverständlich sind schließlich auch die Ausführungen des LG dazu, dass in der Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger keine Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens/ Manifestation des Verfolgungswillens liege. Was soll es denn sonst sein, wenn der Verteidiger (sic!!) Akteneinsicht erhält von einem Verfahren, in dem die Polizei ja sogar schon einen Haftbefehl angeregt hatte. Insgesamt kann man nur sagen: Gewogen und erheblich zu leicht befunden.
Und dann noch: Die sofortige Beschwerde des Verteidigers datiert vom 13.02.2024 (!!), der LG-Beschluss vom 1701.2025 (!!). Man fragt sich, warum die Stuttgarter Strafverfolgungsbehörden fast ein Jahr gebraucht haben, um diese einfache Frage zu entscheiden. Einen nachvollziehbaren Grund sehe ich nicht, zumal nicht, wenn man solchen „Tünkram“ schreibt.