Schlagwort-Archive: LG Köln

Pflichti II: Zulässigkeit rückwirkender Bestellung?, oder: LG Köln/Hannover topp, LG Stuttgart mit „Tünkram“

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Im zweiten Posting dann drei LG-Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung.

Zunächst hier der schön begründete LG Köln, Beschl. v. 30.01.2025 – 111 Qs 6/25 -, der zutreffend ausführt:

1. Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein eingestelltes Verfahren ist in der Regel unzulässig, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger oder der Rechtsanwalt, den der Beschwerdeführer als den zu bestellenden Pflichtverteidiger benannt hatte, rechtzeitig und auch begründet seine Bestellung beantragt hatte. Eine Ausnahme ist dann anzunehmen, soweit der Antrag auf Beiordnung gestellt worden ist und pflichtwidrig eine unverzügliche Entscheidung über diesen unterlassen worden ist.

2. Aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ergibt sich die Verpflichtung auf zeitnahe Entscheidung über seinen Pflichtverteidigerantrag. Die Bemessung dieser Prüfungs- und Überlegungsfrist kann dabei nicht starr erfolgen. Sie muss vielmehr an den Umständen des Einzelfalls und Zweck der Pflichtverteidigung ausgerichtet sein, der darin besteht, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz bestimmten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und dass ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist.

Und dann noch der ebenso schöne/richtige LG Hannover, Beschl. v. 05.02.2025 – 101 Qs 7/25 -:

1. Wenn der Beschuldigte vor der Verfahrenseinstellung die Beiordnung eines Verteidigers beantragt hat, die Voraussetzungen der Bestellung vorlagen und die rechtzeitige Bescheidung aus rein justizinternen Gründen unterblieben ist, ist eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung zulässig.
2. Eine Frist von zwei Wochen zwischen Eingang des Beiordnungsantrags bei der Polizei und dem Eingang bei der Staatsanwaltschaft ist zu lang.

An dritter stelle aber leider auch der LG Stuttgart, Beschl. v. 17.01.2025 – 3 Qs 3/24, über den man lieber das „Mäntelchen des Schweigens“ legen sollte. Denn das LG Stuttgart schreibt „Tünkram„. Anders kann man es m.E. nicht bezeichnen.

Wegen des Sachverhalts verweise ich auf den verlinkten Volltext. Den stelle ich, da er etwas umfangreicher ist, hier nicht ein. Nur so viel: Das „Gezerre“ um die Pflichtverteidigerbestellung und die vom Verteidiger beantragte Akteneinsicht geht seit Anfang 2023. Akteneinsicht wird dem Verteidiger dann endlich im Dezember 2023 gewährt, Anfang 2024 wird dann nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Gegen die Ablehnung der rückwirkenden Bestellung legt der Verteidiger dann am 13.02.2024 Beschwerde ein. Ohne Erfolg.

Das LG bejaht zwar – insofern ist der Beschluss  richtig – die grundsätzliche Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Es verneint dann aber das Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen:

„Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO liegen jedoch nicht vor, weil dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf nicht eröffnet wurde. Die Kammer vertritt wie bereits im Beschluss vom 21.08.2023 weiterhin die Auffassung, dass die Eröffnung des Tatvorwurfs einen förmlichen Akt der Strafverfolgungsbehörden voraussetzt und es nicht genügt, dass der Betroffenen auf sonstige Art und Weise von einem Tatverdacht Kenntnis erhält. Die Neuregelung der Verteidigerbestellung erfordert auch unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien keine abweichende richtlinienkonforme Auslegung (zum Ganzen KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; offen gelassen BGH, Beschluss vom 09.02.2023 – StB 3/23 -, juris = NStZ 2023, 686 mwN). Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert. Relevant ist, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des Beschuldigten, darstellt (zum Ganzen Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 09.02.2023 – StB 3/23 – , juris = NStZ 2023, 686 mwN). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers setzt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die betreffende Person Beschuldigter in einem Strafverfahren ist und die Strafverfolgungsbehörde ihr durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise die Einleitung gegen sie gerichteter Ermittlungen zur Kenntnis gebracht hat. Vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sowie im Zeitraum noch nicht offen geführter Ermittlungen ist für eine Pflichtverteidigerbestellung kein Raum (zum Ganzen BGH, Beschluss vom 06.08.2024 StB 45/24 – , juris mwN). Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung, die ohne vorangegangene förmliche Mitteilung lediglich aufgrund von Mutmaßungen über Ermittlungen gestellt werden, sind unzulässig (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 06.08.2024 -StB 45/24 -, juris mwN). In der Gewährung von Akteneinsicht an Rechtsanwalt Pp. lag im vorliegenden Fall keine Eröffnung des Tatvorwurfs gegenüber dem ehemaligen Beschuldigten im Sinn des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein Verteidiger bzw. Beschuldigter hat gemäß § 147 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich ein Akteneinsichtsrecht. Dieses kann gemäß § 147 Abs. 2 S. 1 StPO vor Abschluss der Ermittlungen nur versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart gab dem Antrag von Rechtsanwalt Pp. auf Akteneinsicht unter Verweis hierauf zunächst nicht statt, teilte diesem aber mit, die Akteneinsicht werde vorgemerkt. Rechtsanwalt Pp. wiederholte den Akteneinsichtsantrag in der Folge mehrfach mit zum Teil ausführlicher Begründung seines Rechts auf Akteneinsicht. Nach Vorlage der Akte durch die Polizei nach Abschluss deren Ermittlungen wurde Rechtsanwalt Pp. dann durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart Akteneinsicht gewährt. Hierdurch wurde, wie sich aus dem geschilderten Verfahrensablauf ergibt, dessen Recht auf Akteneinsicht stattgegeben. Dagegen war seitens der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorliegend nicht beabsichtigt, dem ehemaligen Beschuldigten dadurch den Tatvorwurf zu eröffnen. Es erfolgte mit der Gewährung von Akteneinsicht auch in der Wahrnehmung des ehemaligen Beschuldigten – keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wies Rechtsanwalt Pp. hierauf – wenngleich nachträglich – ausdrücklich hin. Unabhängig hiervon ergibt sich dies ebenfalls aus dem Gang des Verfahrens. Die vorangegangenen polizeilichen Ermittlungen gegen den ehemaligen Beschuldigten hatten sich in Feststellungen zu dessen Person und der Untersuchung dessen Reisepasses auf Echtheit sowie einem augenscheinlichen Vergleich von Lichtbildern von seiner Person mit von einem Zeugen gefertigten Videoaufnahmen von den Tätern und Wahllichtbildvorlagen bei eventuellen Zeuginnen, die zu keinem Ergebnis geführt hatten, erschöpft. Einer polizeilichen Anregung auf Beantragung eines Haftbefehls gegen den ehemaligen Beschuldigten kam die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht nach. Kurze Zeit nach Erledigung des Akteneinsichtsgesuchs von Rechtsanwalt Pp. stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten ohne weitere Ermittlungen oder Erkenntnisse gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.“

Dazu ist anzumerken – so steht es demnächst auch im StRR: M.E. hätte hier beigeordnet werden müssen, da dem dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf im Sinn des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nämlich eröffnet war. Man fragt sich, warum das LG so viel Worte macht, um den Leser seines Beschlusses vom Gegenteil zu überzeugen, was dann aber nicht gelingt. Zutreffend ist der Ansatz des LG, wonach regelmäßig der Verfolgungswille der Strafverfolgungsbehörde durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert wird (BGH, Beschl. v. 9.2.2023, StB 3/23, NStZ 2023, 686). Aber das LG unterschlägt, die davon abweichende Mehrzahl von Entscheidungen, die jegliche Kenntnisnahme genügen lassen (LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22; LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.9.2022 – 6 Qs 41/22, StV 2023, 159; LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20, StV 2021, 162; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.7.2021 – 23 Qs 86/21; s. vor allem auch AG Hagen, Beschl. v. 16.2.2021 – 67 Gs 115/21, das Kenntnis des Beschuldigten vom neuen Verfahren angenommen hat, weil dem Verteidiger insoweit Akteneinsicht gewährt wurde). Und diese abweichende Meinung ist zutreffend, denn es war gerade Absicht des Gesetzgebers bei der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidiger, den Beiordnungszeitpunkt ganz bewusst weg vom gerichtlichen Verfahren hin zum Ermittlungsverfahren vorzuverlagern wollte. Dem und auch dem LG selbst angeführten Unverzüglichkeitsgebot würde es zuwider laufen, würde man den Beschuldigten, der Kenntnis von dem gegen ihn geführten Verfahren erlangt hat, darauf verweisen, in jedem Fall abzuwarten, bis die Ermittlungsbehörden förmlich an ihn herantreten. Überdies hätte es sonst die Staatsanwaltschaft in der Hand, Verteidigerbestellungen durch schlichte Untätigkeit zu verhindern, indem sie den Beschuldigten einfach nicht anhört. Der hier gegebene Verfahrensablauf ist dazu gerade ein Paradebeispiel. Zudem haben auch die der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung zugrundeliegenden europäischen Richtlinien keine förmliche Mitteilung des Tatvorwurfs verlangt (so zutr. LG Magdeburg, a.a.O. und Burhoff/Hillebrand, EV, Rn 3799). Daran ändert auch nichts, wenn die Staatsanwaltschaft – wie hier – den ehemaligen Beschuldigten – und das auch noch nachträglich – darauf hingewiesen hat, dass in der Gewährung von Akteneinsicht keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft liege. Das wäre ja noch schöner, wenn die Staatsanwaltschaft es in der Hand hätte, die einmal geschaffenen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wieder rückgängig zu machen. Unverständlich sind schließlich auch die Ausführungen des LG dazu, dass in der Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger keine Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens/ Manifestation des Verfolgungswillens liege. Was soll es denn sonst sein, wenn der Verteidiger (sic!!) Akteneinsicht erhält von einem Verfahren, in dem die Polizei ja sogar schon einen Haftbefehl angeregt hatte. Insgesamt kann man nur sagen: Gewogen und erheblich zu leicht befunden.

Und dann noch: Die sofortige Beschwerde des Verteidigers datiert vom 13.02.2024 (!!), der LG-Beschluss vom 1701.2025 (!!). Man fragt sich, warum die Stuttgarter Strafverfolgungsbehörden fast ein Jahr gebraucht haben, um diese einfache Frage zu entscheiden. Einen nachvollziehbaren Grund sehe ich nicht, zumal nicht, wenn man solchen „Tünkram“ schreibt.

AVP-Erstattung für den ortsansässigen Verteidiger II, oder: LG Köln macht es richtig

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Dass es mit der Erstattung der Aktenversendungspauschale auch anders als beim AG Tiergarten (s. dazu AG Tiergarten, Beschl. v. 12.11.2024 – 332a OWi 64/22) = richtig geht, zeigt der schon etwas ältere LG Köln, Beschl. v. 24.01.2024 – 110 Qs 8/24 -, den ich trotz „seines Alters“ hier vorstelle. Eben weil er es richtig macht:

„1. Zu Unrecht hat das Amtsgericht indes die Festsetzung der angefallenen Aktenversendung i.H.v. 12,00 € abgelehnt.

Es steht außer Zweifel, dass eine Akteneinsicht für eine sachgerechte Verteidigung unumgänglich ist. Die Einsichtnahme in die Ermittlungs- und Gerichtsakten ist in einem Strafverfahren für eine ordentliche Verteidigung notwendig. Es ist Sache der Verteidigerin, wie sie ihr Akteneinsichtsrecht wahrnimmt, also ob sie die Akten auf der Geschäftsstelle einsieht oder – in Ruhe – in ihrer Kanzlei. Vorliegend wurde von der durch die Justiz selbst angebotenen kostenpflichtigen Versendung Gebrauch gemacht. Die hierdurch angefallenen Aufwendungen sind dann auch erforderlich. Die Erstattung kann auch nicht etwa mit der Begründung versagt werden, dass ein ortsansässiger Anwalt sich die Akte hätte abholen können. und damit keine Pauschale angefallen wäre. Es ist bereits zu beachten, dass der pekuniäre Gegenwert des damit einhergehenden Zeitaufwandes (ggf. zzgl. damit verbundener Fahrtkosten) die verhältnismäßig geringe Versendungspauschale bereits mit Sicherheit übersteigen würde. Ein Beschuldigter bzw. Betroffener ist auch nicht etwa verpflichtet, sich einen Verteidiger auszusuchen, der ein Gerichtsfach unterhält, um damit den Zeitaufwand einer Abholung (bzw. der Aktenversendungskosten) zu ersparen. Eine nähere Begründung, warum es sich bei der geltend gemachten Aktenversendungspauschale i.H.v. 12,00 € hier nicht um notwendige Kosten handele, enthält die Stellungnahme der Bezirksrevisorin, auf die der angefochtene Beschluss offensichtlich allein Bezug nimmt, nicht.“

Na bitte, geht doch 🙂 .

Die vom LG bestätigten Absetzungen bei Grund- und Verfahrensgebühr lassen sich nicht beurteilen. Geltend gemacht war jeweils die Mittelgebühr, AG und LG haben unter der Mittelgebühr festgesetzt. Ob das zutreffend ist, kann man ohne weitere Angaben zu den Verfahrensumständen nicht sagen. Allerdings sprechen die mitgeteilten Umstände schon dafür, dass schon Gebühren unterhalb der Mittelgebühren festzusetzen waren. Das gilt insbesondere für die Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG. Denn wenn nach der ersten Einarbeitung, die durch die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG abgegolten wird, keine oder nur geringe weitere Tätigkeiten erbracht worden sind, ist die Verfahrensgebühr, die immer neben der Grundgebühr entsteht, unterhalb der Mittelgebühr, ggf. sogar nur als Mindestgebühr festzusetzen. Das hat das LG richtig aus Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 26. Aufl. 2023, 4104 Rn 11 m.w.N. zitiert. 🙂

Pflichti II: Strafe, Analphabet, Waffengleichheit, oder: Unverzügliche Bestellung

© santi_ Fotolia.com

Im zweiten Posting gibt es dreo Beschlüsse, und zwar zweimal von einem LG und einmal von einem AG.

Im LG Köln, Beschl. v. 11.12.2024 – 111 Qs 118/24 -, den ich ja heute morgen schon einmal vorgestellt hatte, hat das LG auch zu den Bestellungsgründen Stellung genommen, und zwar:

1. Von einem Fall der notwendigen Verteidigung wird regelmäßig erst ab einem Jahr drohender Freiheitsstrafe auszugehen sein.

2. Es kann aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist, wenn Mitangeklagte anwaltlich verteidigt werden, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten oder die Gefahr gegenseitiger Belastung besteht.

Das LG Bonn hat im LG Bonn, Beschl. v. 23.12.2024 – 63 Qs 61/24 – ebenfalls zur Schwere der Tat im Hinblick auf eine drohende Gesamtstrafe und dann noch einmal zur unverzüglichen Bestellung in Zusammenhang mit der rückwirkenden Bestellung Stellung genommen:

1. Eine Beschwer des Beschuldigten durch die Verweigerung einer nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung ist dann gegeben, wenn der Beschuldigte einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers gestellt hat, die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung offensichtlich vorgelegen haben, das Gebot der unverzüglichen Pflichtverteidigerbestellung missachtet wurde und dies auf behördeninterne Vorgänge zurückzuführen ist.

2. Zwar muss die Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden. Eine Entscheidung erst nach Ausermittlung ist nicht mehr „unverzüglich“.

3. Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist dabei, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht.

Und dann noch der Beschluss des AG Osnabrück. Das hat im AG Osnabrück, Beschl. v. 09.12.2024 – 245 Gs 1185/24 – zum Beiordnungsgrund der Unfähigkeit der Selbstverteidigung bei einem Analphabet Stellung genommen. Das AG hatte beigeordnet, dagegen die Beschwerde der StA, der das AG nicht abgeholfen hat:

„Die Unfähigkeit zur Selbstverteidigung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Beschuldigte Analphabetin ist. Unfähigkeit der Selbstverteidigung ist anzunehmen für einen Beschuldigten, der nur eingeschränkt lesen o. schreiben kann (OLG Celle StV 1983, 187; 1994, 8; LG Schweinfurt StraFo 2009, 105; LG Bielefeld StV 2020, 580) o. an Legasthenie leidet (LG Hildesheim StV 2008, 132), u. somit erst recht, wenn der Beschuldigte Analphabet ist (LG Berlin Beschl. v. 18.4.2019 – 504 Qs 52/19; LG Dortmund BeckRS 2017, 141444; LG Chemnitz BeckRS 2017, 125200; AG Bremen StV 2020, 580). Dem Gericht ist dabei bewusst, dass die Beschuldigte nicht glaubhaft gemacht hat, dass diese Angaben zutreffen. Im Zweifel ist jedoch zu ihren Gunsten davon auszugehen, dass die Angaben zutreffen.“

Pflichti I: Terminsvertreter/weiterer Pflichtverteidiger, oder: Aufhebung der Bestellung

© pedrolieb -Fotolia.com

Und dann am vorletzten Tag des Jahres – vielleicht ja noch irgendwo ein Arbeitstag? 🙂 – noch einmal etwas zur Pflichtverteidigung. Es ist nicht viel, im Moment ist es an der „Front“ recht ruhig.

Ich stelle zunächst vier Entscheidungen vor, in denen es um das Verfahren betreffend die Pflichtverteidigung geht. Und zwar:

1. Die Entscheidung eines Vorsitzenden einen als Pflichtverteidiger bestellten Rechtsanwalt zu entpflichten ist nicht zu beanstanden, wenn keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet (§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO). Das ist z.B. der Fall, wenn gesundheitliche Beschwerden des Rechtsanwalts eine konkrete Gefahr tage- und wochenlanger Ausfälle begründen und dieses Risiko sich bereits an mehreren Hauptverhandlungstagen verwirklicht hat und zudem die Gefahr eingeschränkter Reisefähigkeit vom Kanzleisitz des Rechtsanwalts zum weiter entfernten „Hauptverhandlungsort“ besteht.

2. Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers dient nicht der Entlastung eines weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal – von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung anwesend zu sein hat.

Wird die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht angefochten und wird auch hiernach kein Antrag auf Aufhebung der Beiordnung gestellt, so ist allein die Beiordnung eines für den beigeordneten Rechtsanwalt erschienenen Terminsvertreters nicht ohne Weiteres mit der Begründung anfechtbar, die Voraussetzungen der Beiordnung hätten zu keinem Zeitpunkt bestanden.

Der Beschluss, durch den eine Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben worden ist, muss eine Begründung enthalten, damit für die Beschwerdekammer die Entscheidung des aufhebenden Gerichts entweder bezogen auf eine fehlerfreie Rechtsanwendung oder auf eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung nachprüfbar ist.

Eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat oder sich die für die Bestellung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben. Unter dieser Voraussetzung kann die Aufhebung auch in Betracht kommen, wenn entgegen erwarteter Anklageerhebung zum Schöffengericht tatsächlich nur zum Strafrichter angeklagt wird. In diesem Fall wird aber unter besonderer Berücksichtigung der Umstände, die zunächst die Erwartung der Anklageerhebung zum Schöffengericht begründet haben, das Vorliegen notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 zu prüfen sein.

 

 

StGB III: Richterbeleidigung durch Freislervergleich?, oder: LG Köln eröffnet – nicht nur Meinungsfreiheit?

entnommen wikidmedia.org
Lizenz: Bundesarchiv_Bild_151 -17-15, Volksgerichtshof,_Roland_Freisler.jpg

Ich hatte im April des Jahres den AG Brühl, Beschl. v. 27.02.2024 – 51 Ds-74 Js 273/23-280/23 – vorgestellt (vgl. hier StGB II: Richterbeleidigung durch Freislervergleich?, oder: Meinungsfreiheit?). Mit dem Beschluss hatte das AG Brühl die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen Rechtsanwalt abgelehnt, der wegen Beleidigung eines Richters (§ 185 StGB) angeklagt war. Der Rechtsanwalt hatt in einem zivilrechtlichen Verfahren bei einem Streit um die Höhe des Streitwertes einen sog. Freisler-Vergleich betreffend den Richter angestellt. Wegen der weiteren Einzelheiten verweise ich auf das o.a. Posting

Die Staatsanwaltschaft ist gegen die Nichteröffnung in die Beschwerde gegangen. Dazu liegt jetzt die Entscheidung des LG Köln vor. Das hat im LG Köln, Beschl. v. 12.07.2024 – 120 Qs 31/24 – das Hauptverfahren vor dem AG eröffnet. Begründung:

„Die gemäß § 210 Abs. 2 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist gemäß § 311 Abs. 2 StPO zulässig und begründet. Das Amtsgericht hat durch den angefochtenen Beschluss zu Unrecht die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abgelehnt.

Nach den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens hat sich der Angeschuldigte wegen Beleidigung gem. § 185 StGB hinreichend verdächtig gemacht, indem er den vorbezeichneten Schriftsatz vom 28.03.2023 samt Bildabfolge zur Gerichtsakte einreichte. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Brühl lässt die sachliche Bezugnahme der in diesem Schriftsatz enthaltenen Bildfolge zu einer (vorläufigen) Streitwertentscheidung im laufenden Zivilverfahren eine Strafbarkeit der diesem Schriftsatz in seiner Gesamtheit zu entnehmenden beleidigenden Äußerung über die Person des (mit-)erkennenden Vorsitzenden Richters am Landgericht – bei vorläufiger Würdigung – nicht nach § 193 StGB entfallen.

1. Die Kammer schließt sich den Ausführungen des Amtsgerichts insoweit an, als die gegenständliche Äußerung bei Anlegung der auch im angefochtenen Beschluss zutreffend dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäbe in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit fällt, so dass eine Strafbarkeit nur nach Gewichtung der Beeinträchtigung, die einerseits der Meinungsfreiheit des sich Äußernden und andererseits der persönlichen Ehre des von der Äußerungen Betroffenen droht, in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 93, 266 (319)). Eine dem Schutzbereich entzogene Schmähkritik, bei der die in einer Äußerung liegende persönliche Kränkung ein etwaiges sachliches Anliegen von vorneherein völlig in den Hintergrund drängt, ist hier nicht ersichtlich. Vielmehr wird ein sachlicher Bezug der Äußerung zu einer konkreten Streitwertentscheidung im laufenden Verfahren nicht nur aus dem Anlass ihrer Tätigung – hier der Antwort auf die Rückfrage einer Rechtspflegerin, ob angesichts der Kritik an der (vorläufigen) Streitwertentscheidung an dem gestellten PKH-Festsetzungsantrag festgehalten werde –, sondern auch an zahlreichen Stellen der bildhaften Darstellung ersichtlich. Dies von der ersten Sprechblase, welche sinngemäß auf einen PKH-Festsetzungsantrag verweist, über die in weiteren Sprechblasen erörterte Sinnhaftigkeit der Anwaltsvergütung und – rolle bis hin zum abschließenden Schriftzug, welcher nicht nur den Wert der im laufende Verfahren erfolgten Streitwertfestsetzung von 6.000,- EUR, sondern auch deren Begründung aufgreift. Zutreffend führt das Amtsgericht vor diesem Hintergrund aus, dass eine Auseinandersetzung mit der Sache erfolge, welche von dem ehrbeeinträchtigenden Gehalt der Darstellungen nicht von vornherein völlig in den Hintergrund verdrängt werde.

Dem steht der hier in dem historischen Vergleich zum nationalsozialistischen Unrechtsregime begründete übersteigert polemische Charakter der Darstellung nicht entgegen. Dabei besteht durchaus Anlass in Frage zu ziehen, ob es sich noch um eine bloß überspitzte Darstellungsform handelt, wenn die (vermeintliche) Fehlerhaftigkeit bzw. Willkür einer Einzelfallentscheidung ohne Not in die Nähe des Unwertes des nationalsozialistischen Unrechtsregimes gerückt wird, oder hierdurch nicht entweder das nationalsozialistische Unrecht geschmälert oder aber der von der Darstellung betroffenen Person eine nationalsozialistische Gesinnung unterstellt werden soll. Zumal einem Rechtsanwalt angesichts langjähriger Studien- und Ausbildungszeiten andere sprachliche Mittel zur Verfügung stehen sollten, um seine Rechtsansichten und Anliegen zu unterstreichen (zur Relevanz der Ausdrucksfähigkeit des jeweiligen sich Äußernden s. BVerfG, Beschluss v. 19.05.2020, 1 BvR 2397/19, Rn. 28). Wegen seines bereits den Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen jedoch eng zu verstehen. Die Grenze zulässiger Meinungsäußerung liegt nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (BVerfG, Beschluss v. 8.02.2017, 1 BvR 2973/14, juris Rn. 14). Historische Vergleiche mit nationalsozialistischer Praxis können für sich besehen daher nicht die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik begründen (BVerfG, Beschluss v. 14.06.2019, 1 BvR 2433/17, juris Rn. 19;).

2. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts kann die Äußerung in ihrer Gesamtheit indes nicht – aufgrund des aufgezeigten Sachbezugs – dahingehend gedeutet werden, dass dem Vorsitzenden Richter keine nationalsozialistische Gesinnung unterstellt wird, sondern sich die Äußerung in dem Vorwurf der vermeintlichen Fehlerhaftigkeit und Willkür einer konkreten gerichtlichen Entscheidung erschöpft. Das Amtsgericht verkennt insoweit, dass die der bildhaften Darstellung einleitend vorweggestellte Textpassage das dem Schriftsatz in seiner Gesamtheit zu entnehmende Werturteil von einer konkreten gerichtlichen Entscheidung hin zu der Person des Vorsitzenden Richters lenkt und damit aus dem Kontext eines Sachbezugs weitgehend herauslöst.

Demnach ist unerheblich, dass die bildhafte Darstellung für sich genommen – wie das Amtsgericht im Ergebnis wohl zutreffend ausführt – angesichts des vielschichtigen Sachbezugs zu dem (vorläufigen) Streitwertbeschluss in einem laufenden Verfahren als eine lediglich überpointierte Kritik im „Kampf um das Recht“ erscheint, die der Vorsitzende Richter von Berufs wegen (vgl. BVerfGE 76, 171) unter Berücksichtigung der zum gegenwärtigen Verfahrenszeitpunkt bekannten Gesamtumstände gem. § 193 StGB auszuhalten haben dürfte. Denn die einleitend vorangestellte Textpassage enthält eine konkrete Bezugnahme auf die Person des Vorsitzenden Richters, welche den nach der bildhaften Darstellung auf einen Einzelfall bezogenen Willkürvorwurf zu einem allgemeinen Charakterzug erhebt. So handelt es sich bei den in Bezug genommenen „dunkle(n) Momente(n)“, die in dem Vorsitzenden Richter „hier und da“ durchbrächen, ausweislich der Gegenüberstellung zu dessen „nette(n) Seiten“ um einen ebenfalls vorhandenen Wesenszug. Die sodann gewählte Interpunktion – hier des Doppelpunktes – verdeutlicht, dass es sich bei der nachfolgenden bildhaften Darstellung lediglich um einen plakativen Beispielsfall für diesen allgemeinen Wesenszug handele. Dies wird durch die der Schule der Analytischen Psychologie von C.G. Jung entlehnte Wortwahl des „Schattens“ wie auch des „kollektiven Unbewusstseins“ nur noch verdeutlicht. Zwar zielt die genannte Schule auf einen Prozess des Erkennens, Akzeptierens und Integrierens von verdrängten Aspekten der Persönlichkeit (sog „Schatten“) ab, um den Einzelnen zu einer größeren humanitären Reife und sozialen Verantwortlichkeit zu führen. Die Begrifflichkeit dient indes erkennbar dazu, dem Vorsitzenden Richter eine besondere Ausprägung des genannten Wesenszuges bzw. jedenfalls eine besondere Anfälligkeit für das Durschlagen dieses – möglicherweise auch der gesamten „deutschen Richterschaft“ eigenen – Wesenszuges auf seine Handlungen zu unterstellen. Damit handelt es sich nicht lediglich um eine überpointierte Kritik an einer konkreten richterlichen Entscheidung, sondern um eine Diffamierung eben der Person des Richters selbst, die lediglich anlässlich der – als solche möglicherweise überpointiert kritisierten richterlichen Entscheidung vorgetragen wurde.

3. Angesichts des erheblichen Gewichts der Ehrkränkung, welche den Vorsitzenden Richters in die Nähe einer Ideologie vergleichbar mit derjenigen der Unterstützter des nationalsozialistischen Unrechtsregimes rückt (vgl. OLG Köln, Urt. v. 10.12.2019 – III- 1 RVs 180/19, juris), und des – wie aufgezeigt – nur mittelbaren sachlichen Bezugs der getätigten Meinungsäußerung fällt die die erforderliche Gesamtwürdigung – bei vorläufiger Bewertung nach derzeitigem Verfahrensstand – zulasten des Beschwerdeführers aus, weswegen ein hinreichender Tatverdacht bezüglich des Vorliegens einer Beleidigung gem. § 185 StGB vorliegt. Dabei hat die Kammer auch die vom Amtsgericht zutreffend zugunsten des Beschwerdeführers herangezogenen weiteren Umstände – soweit bekannt – berücksichtigt, namentlich die Parteiöffentlichkeit der Äußerung und die persönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers in Vergütungsfragen in einem langjährigen Verfahren, in welchem es mehrfach zu Konflikten zwischen dem Beschwerdeführer und dem Vorsitzenden Richter gekommen war. Hingegen war auch zu beachten, dass die gegenständliche Äußerung nicht ad hoc in einem (hitzigen) Gespräch gefallen war, sondern schriftsätzlich auf Anfrage nicht etwa des Vorsitzenden Richters selbst, sondern einer Rechtspflegerin vorgetragen wurde, so dass die Spontanität der freien Rede hier nicht zugunsten des Beschwerdeführers sprechen kann (vgl. BVerfGE 7, 198 (112)).“

Ich wage – na ja, dazu gehört nicht viel „Mut“ – die Behauptung, dass ich über die Sache sicherlich nicht das letzte Mal berichtet habe.