Keine Ende bei der Brieffreundschaft mit der RSV, oder: Der Stoff, den man offenbar raucht, scheint gut zu sein

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Und dann komme ich – vor dem heutigen Gebührenrätesel – noch einmal auf ein schon älteres Gebührenrätsel zurück, zu dem ich schon mal „nachgekartet“ hatte.

Gefragt hatte ich vor ein paar Wochen. Ich habe da mal eine Frage: Sind auch Gebühren im Bußgeldverfahren entstanden? Da ging es um die Problematik, ob dem Verteidiger nach Einstellung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft und Abgabe an die Verwaltungsbehörde wegen einer möglichen OWi-Angelegenheit für den Verteidiger nach Einstellung des OWi-Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG für den Verteidiger auch (noch) die Nrn. 5103, 5115 VV RVG entstanden sind. Die RSV – ich hatte offen gelassen, welche – hatte das abgelehnt.

Geantwortet hatte ich mit: Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Sind auch Gebühren im Bußgeldverfahren entstanden?. Die Antwort hatte der fragende Kollege an die RSV geschickt, die daraufhin einen Teil der Gebühren übernommen hatte, einen Teil jedoch abgelehnt hat (vgl. „.. zitierten Entscheidungen .. nicht mehr anwendbar“, oder: „Was rauchen die bei der RSV„?

Der Kollege hat dann auf die von mir angeführte Entscheidung  AG Dresden, Beschl. v. 09.03.2022 – 217 OWi 635 Js 16243/21, AGS 2022, 262  bei der RSV hingewiesen. Und darauf kommt dann noch das:

„Gestern teilte mir die ARAG mit, dass sie bei ihrer Entscheidung verbleibe.

Es heißt dort: ”Im Hinblick auf die von Ihnen zitierte Entscheidung dürfen wir mitteilen, dass diese – gemeint offenbar AG Dresden AGS 2022, 262 – sogar unsere Auffassung stützt. Der dortige Verteidiger hat trotz einer Einspruchseinlegung und sodann erfolgten Einstellung die Gebühr Nr. 5115 VV RVG nicht zugesprochen erhalten.”

Ich habe dem Kollegen dann noch einmal geantwortet:

2… nur noch soviel zur ARAG. Es geht doch beim AG Dresden gar nicht um die Frage der Fortwirkung. Ich würde der ARAG dringend empfehlen, die Entscheidungen richtig zu lesen, sondern um die Qualität der Mitwirkung, die das AG Dresden bestreitet. Es ist aber müßig, sich mit denen zu streiten, denn die wollen einfach nicht.

Ich würde klagen.

Im Übrigen hatte ich im AGS geschrieben:

„III. Bedeutung für die Praxis

M.E. ist die Entscheidung unzutreffend. Denn nach allgemeiner Meinung in der Rechtsprechung reicht als Mitwirkung i.S. der Nr. 5115 VV RVG bzw. der 4141 VV RVG jede zur Förderung der Einstellung geeignete Tätigkeit aus (s. außer dem BGH, a.a.O., noch OLG Stuttgart RVGreport 2010, 263 = RVGprofessionell 2010, 119 = AGS 2010, 292 m. abl. Anm. N. Schneider AGS 2010, 295 = VRR 2010, 320; LG Hamburg DAR 2008, 611 = AGS 2008, 597; LG Köln AGS 2007, 351 = StraFo 2007, 305; LG Oldenburg VRR 2013, 316 = RVGreport 2013, 320 = RVGprofessionell 2013, 114 = zfs 2013, 467 (für Nr. 5115 VV); LG Stralsund RVGreport 2005, 272 = AGS 2005, 442; AG Gießen RVGreport 2016, 348 = AGS 2016, 394 = RVGprofessionell 2017, 62). Eine besondere Qualität der Tätigkeit, wie offenbar das AG meint, ist nicht erforderlich. Insbesondere muss der Verteidiger den Einspruch und/oder einen Einstellungsantrag nicht besonders begründen. Diese Forderung stünde auch im diametralen Gegensatz dazu, dass allein die Mitteilung, dass der Mandant schweigen werde, als Mitwirkung ausreicht, wenn dann das Ermittlungsverfahren eingestellt wird. Offenbar war es hier ja auch so, dass die Erklärung im Ermittlungsverfahren dazu geführt hat, dass die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren eingestellt und dann das Verfahren an die Bußgeldbehörde abgegeben hat. Dort wirkte die Erklärung dann offenbar so nach, dass auch das AG eingestellt hat. Die Gebühr Nr. 5115 VV RVG hätte also festgesetzt werden müssen.“

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder kennt man bei der RSV die AGS nicht oder man kennt/bezieht sie, liest sie aber nicht, weil man ja eh alles besser weiß. Beides ist gleich schlimm.

Ich bin gespannt, ob der Kollege bzw. der Mandant klagt und was sich darauf ergibt. Jedenfalls eins ist sicher: Der Stoff, den man da offenbar raucht, scheint gut zu sein.

Terminsvertreter II: Gebühren des Terminsvertreters, oder: Teilweise ok, aber drei Beanstandungen

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Die zweite Entscheidung zum Terminsvertreter ist ganz frisch „rein gekommen“. Sie stammt vom LG Ulm. Das hatte im LG Ulm, Beschl. v. 12.03.2024 – 1 Qs 7/24 – über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

Vor dem AG fanden am 12.06.2023 und 14.06.2023 Hauptverhandlungstermine gegen den Angeklagten statt, dem u.a. schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wurde. Der Vorsitzende hatte dem Angeklagten Rechtsanwalt R 1 als Verteidiger beigeordnet. Wegen dessen Verhinderung am 14.06.2023 bestellte er im Termin am 14.06.2023 Rechtsanwalt R 2 zum Verteidiger. Die Verfügung lautet wie folgt: „Herr Rechtsanwalt R 2 wird für die heutige Sitzung dem Angeklagten pp. als notwendiger Verteidiger wegen der Verhinderung des Rechtsanwalts R 1. zum heutigen Termin beigeordnet.“

Rechtsanwalt R 2 hat dann beantragt, ihm eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG, eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4106 VV RVG, eine Terminsgebühr nach Nr. 4108 VV RVG, sowie Auslagen und USt festzusetzen. Nach Auffassung der Kostenbeamtin waren weder Grund- noch Verfahrensgebühr noch eine Kostenpauschale angefallen. Das hält das AG. Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Dem Beschwerdeführer stehen neben der Terminsgebühr eine Grundgebühr sowie eine Verfahrensgebühr und darüber hinaus auch die Kostenpauschale zu.

1. Ob eine zeitlich befristete Bestellung zu einem weiteren Verteidiger oder eine auf einen Sitzungstag beschränkte Bestellung zum Vertreter vorliegt, hängt in erster Linie von der Formulierung der Verfügung des Vorsitzenden ab. Jedoch kann auch von Bedeutung sein, ob der zusätzlich bestellte Verteidiger gehalten ist, sich umfassend in den Verfahrensstoff einzuarbeiten und/oder eine zeitaufwendige den Termin vorbereitende Tätigkeit zu entfalten. In diesen besonderen Fällen liegt keine bloße Vertretung mehr vor. Dann können über die Terminsgebühr hinaus weitere Gebühren (Grundgebühr, Verfahrensgebühr) anfallen. Ob dies der Fall ist, ist gegebenenfalls im Verfahren über die Festsetzung der dem Verteidiger zustehenden Gebühr zu ermitteln. Sofern dies angezeigt ist, sind Stellungnahmen der beteiligten Rechtsanwälte und des Vorsitzenden einzuholen. Auf diese Weise können auch etwaige Veränderungen, die sich wider Erwarten nach der Bestellung des weiteren Verteidigers ergeben haben, berücksichtigt werden. Lediglich eine Vertretung des Pflichtverteidigers liegt beispielhaft in folgenden Fällen vor: Der zunächst bestellte Verteidiger ist in der letzten Stunde eines Termins verhindert und die Beweiserhebung betrifft weitgehend einen Mitangeklagten. Der Verteidiger ist an einem sogenannten „Schiebetermin“ verhindert, an dem lediglich Registerauszüge oder Urteile aus früheren Verfahren verlesen werden. In einem Verfahren gegen mehrere Angeklagten betrifft die Beweisaufnahme ganz überwiegend einen Mitangeklagten, nicht aber den vom bestellten Verteidiger vertretenen Angeklagten (OLG Stuttgart, Beschluss vom 03. Februar 2011 – 4 Ws 195/10, BeckRS 2011, 3142).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Verfahren der Beschwerdeführer nicht als Vertreter des ursprünglich bestellten Verteidigers, sondern als zweiter Pflichtverteidiger anzusehen. Zwar spricht der Wortlaut der Verfügung lediglich für eine Beiordnung als Vertreter, jedoch besteht hier die Besonderheit, dass im Termin am 14. Juni 2023 die aussagepsychologische Sachverständige Dr. pp ihr Gutachten erstattete, eine weitere Zeugin vernommen wurde und die Plädoyers gehalten wurden. Angesichts dieses Umfangs der Hauptverhandlung kann nicht von einem bloßen Terminsvertreter ausgegangen werden.

Dies hat zur Folge, dass Rechtsanwalt Pp2. über die Terminsgebühr hinaus eine Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG und eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4106 VV RVG sowie die Kostenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG zustehen.

3. Die Kammer weist darauf hin, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23. Januar 2023 (Az. 4 Ws 13/23) für den vorliegenden Fall nicht einschlägig ist. Bereits aus dem amtlichen Leitsatz dieser Entscheidung ergibt sich, dass diese sich allein zu den Gebühren verhält, die dem ausschließlich für die Vorführung und Vernehmung vor den zuständigen Richter (§ 115 Abs. 1 und Abs. 2 StPO) beigeordneten Verteidiger zustehen. Dass diesbezüglich die Oberlandesgerichte Stuttgart und Karlsruhe unterschiedliche Auffassungen vertreten, ist hinzunehmen. Maßgeblich für die im Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart ansässigen Gerichte ist dabei die Rechts-auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart.

Eine Übertragung des Verfahrens auf die Kammer gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1, § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG ist nicht veranlasst. Die mit der Entscheidung verbundenen Rechtsfragen sind durch das Oberlandesgericht Stuttgart für seinen Zuständigkeitsbereich geklärt. Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art liegen nicht vor.“

Anzumerken ist: Die Entscheidung ist im Ergebnis zutreffend, die Begründung ist hingegen nicht zutreffend. Auch im Übrigen muss man dem LG widersprechen.

M.E. ist es nicht zutreffend, wenn das LG hinsichtlich der dem Pflichtverteidiger zustehenden Gebühren auf die Umstände des Einzelfalls abstellt (so allerdings auch OLG Hamm, RVGreport 2009, 309 = StRR 2009, 438). Das hatte hier für den (zusätzlichen) Pflichtverteidiger zwar keine Nachteile, da der Umfang der von ihm erbrachten Tätigkeiten auf jeden Fall dazu führen musste, dass ihm nicht nur die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG, sondern auch Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG zu gewähren waren. In anderen Fällen, in denen der Umfang der erbrachten Tätigkeiten geringer ist, kann dieser Ansatz jedoch für den Pflichtverteidiger nachteilig sein. Dieser Ansatz ist zudem auch falsch, denn der „zusätzliche“ Pflichtverteidiger rechnet nach inzwischen wohl überwiegenden Meinung nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG ab und ihm stehen Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, die jeweilige gerichtliche Verfahrensgebühr und die jeweilige gerichtliche Terminsgebühr zu  (zu allem eingehend Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Teil A 2102 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung; jüngst auch OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.02.2024 – 1 Ws 13/24 [S]). Die mit den Gebühren des Terminsvertreters zusammenhängenden Fragen werden in Rechtsprechung und Literatur immer wieder diskutiert. Von daher wäre es vielleicht angebracht gewesen, wenn der Einzelrichter der Strafkammer vielleicht dann doch mal einen Kommentar zu Rate gezogen hätte.

Hätte der Einzelrichter einen Kommentar zu Rate gezogen, würden sich ggf. auch die weiteren „Beanstandungen“ erübrigen.

Zu widersprechen ist der Aussage im „Hinweis des Gerichts“: „Maßgeblich für die im OLG Stuttgart ansässigen Gerichte ist dabei die Rechtsauffassung des OLG Stuttgart“. Das sehe ich nicht so, zumindest nicht so absolut – „ist“ – wie das LG. Zwar ist es sicherlich zutreffend, wenn sich die Instanzgerichte im Bezirk – schon wegen der Einheitlichkeit – der Rechtsprechung „ihres“ OLG anschließen. Aber eine (gesetzliche) Bindungswirkung, wovon offenbar das LG ausgeht, besteht nicht. Das wäre auch mehr als misslich, denn eine solche Bindungswirkung hätte zur Folge, dass sich die Rechtsprechung in einem OLG-Bezirk praktisch nie ändern würde/könnte, weil die Instanzgerichte ja immer so entscheiden, wie das OLG mal entschieden hat. Das OLG wäre nie in der Lage, seine Rechtsprechung/Auffassung an die eines Instanzgerichts, dass ggf. von seiner Rechtsprechung abgewichen ist, anzupassen. Dass das nicht sein soll, zeigt m.E. gerade das Rechtsmittelsystem des RVG, das ja eine weitere Beschwerde (§§ 56 Abs. 1, 33 Abs. 6 RVG) vorsieht.

Mit dem Vorstehenden korrespondiert ein weiteres Manko. Der Einzelrichter der Strafkammer meinte, selbst entscheiden zu können/müssen und die weitere Beschwerde nicht zulassen zu müssen. M.E. war das falsch. Vielmehr hätte die Sache auf die Kammer übertragen und die weitere Beschwerde zugelassen werden müssen. Denn die zugrunde gelegte Entscheidung des OLG Stuttgart stammt aus dem Jahr 2011. Seitdem hat es eine Flut von Entscheidungen anderen OLG gegeben, die die Frage, welche Gebühren dem „Vertreter“ des Pflichtverteidigers anders entschieden haben, als das OLG Stuttgart. Die Frage hat also nach wie vor „grundsätzliche Bedeutung“ (vgl. dazu § 33 Abs. 6 S. 1 RVG). So ist die Chance vertan, dass das OLG Stuttgart ggf. seine unzutreffende Rechtsauffassung im OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.02.2011 – 4 Ws 195/10  aufgegeben und sich der zutreffenden herrschenden Auffassung in der Rechtsprechung angeschlossen hätte. Auch OLG sollen ja nicht gegen bessere Erkenntnis gefeit sein.

Terminsvertreter I: Gebühren aus Teil 4 Abschnitt 1 VV, oder: Aber keine Verfahrensgebühr?

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Am Gebührenfreitag stelle ich heute zwei Entscheidungen zu den Gebühren des Terminsvertreters vor. Beide Entscheidungen sind m.E. nur teilweise zutreffend.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.02.2024 – 1 Ws 13/24 (S). Ergangen ist der Beschluss in deinem vor einer Strafkammer geführten Strafverfahren gegen sechs Angeklagte wegen Verbrechen nach dem BtmG, In dem hat der Kammervorsitzende mit Einverständnis des Angeklagten B. Rechtsanwalt R für den Hauptverhandlungstag am 26.09.2022 als Pflichtverteidiger beigeordnet, nachdem der für das Verfahren beigeordnete Pflichtverteidiger für diesen Tag seine Verhinderung angezeigt hatte. In der Hauptverhandlung am 26.09.2022 wurde das Hauptverfahren gegen einen Mitangeklagten wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit „auf unbestimmte Zeit“ abgetrennt,

Rechtsanwalt R hat beantragt seine Gebühren festzusetzen. Geltend gemacht worden sind eine Grundgebühr Nr. 4100 Verteidiger, eine Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG und eine Terminsgebühr Nr. 4114 VV RVG sowie Auslagen und Umsatzsteuer. Die Kostenbeamtin hat bei der Kostenfestsetzung die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr, jeweils nebst Umsatzsteuer, in Abzug gebracht . Auf die gegen diese Kostenfestsetzung erhobene Erinnerung des Rechtsanwalts R hat das LG  die Kostenfestsetzungsentscheidung dahingehend geändert, dass auch die beantragten Grund- und Verfahrensgebühr festzusetzen seien. Gegen diese Entscheidung hat dann der Bezirksrevisor, Beschwerde eingelegt, denn es darf ja nicht sein, was nicht sein kann. Und: Die Beschwerde hatte beim OLG teilweise Erfolg.

Ich lasse mal die Ausführungen des OLG zu den beiden zu den Gebühren des Terminsvertreters vertretenen Auffassungen weg. Das OLG schließt sich der (zutreffenden) h.M. an und führt aus:

„Dem anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen gerichtlichen Termin beigeordneten Verteidiger ist für den in der Beiordnung bezeichneten Verfahrensabschnitt die Verteidigung ohne jede inhaltliche Beschränkung mit sämtlichen Verteidigerrechten und -pflichten übertragen. Eine Beiordnung eines Verteidigers lediglich als „Vertreter“ des bereits bestellten Verteidigers sieht die Strafprozessordnung nicht vor. Dies folgt bereits daraus, dass der bestellte Verteidiger eine Untervollmacht für die Verteidigung des Angeklagten einem anderen Rechtsanwalt nicht erteilen kann, auch nicht mit Zustimmung des Gerichts, weil die Bestellung zum Verteidiger auf seine Person beschränkt ist (vgl. BGH StV 1981, 393; BGH StV 2011, 650, BGH, Beschluss vom 15, Januar 2014, 4 StR 346/13, zit. nach juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023, 2 Ws 13/23, zit. n. juris). Eine solche Vertretung in der Verteidigung ist nur dem entweder amtlich (§ 53 Abs. 2 Satz 3 BRAO) oder vom Verteidiger selbst (§ 53 Abs. 2 Satz 1 oder 2 BRAO) bestellten allgemeinen Vertreter des Pflichtverteidigers möglich (BGH, Beschluss vom 15. Januar 2014, a.a.O.). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers wird vielmehr ein eigenständiges, öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Eine solche umfassende, eigenverantwortliche Verteidigung setzt auch eine Einarbeitung in den Fall voraus, ohne die eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist. Gerade für diese erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall entsteht die Grundgebühr. Eine Unterscheidung danach, welchen Aufwand diese Einarbeitung im Einzelfall erfordert (vgl. dazu OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Februar 2011, 4 Ws 195/10, NJOZ 2012, 213) verbietet sich schon deshalb, weil es sich bei den Gebühren des Pflichtverteidigers nach Anlage 1 Teil 4 Abschnitt 1 zu § 2 Abs. 2 RVG um Festgebühren handelt, die grundsätzlich unabhängig von dem im Einzelfall erforderlichen Aufwand anfallen (ausf. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023, 2 Ws 13/23, zit. n. juris). Der Anspruch des wegen Verhinderung des zuvor bestellten Verteidigers zeitlich beschränkt bestellten weiteren Verteidigers scheitert auch nicht daran, dass die Gebühr aus VV Nr. 4100/4101 pro Rechtsfall nur einmal entsteht und auf Seiten des ursprünglich bestellten Pflichtverteidigers bereits entstanden ist; denn die Einmaligkeit der Gebühr pro Rechtsfall ist ausschließlich personen- und nicht verfahrensbezogen zu verstehen (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; Knaudt in BeckOK RVG, a.a.O. RVG VV Vorbemerkung, Rn. 20). Auch im Falle eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a StPO steht die Grundgebühr sowohl dem zunächst bestellten Pflichtverteidiger als auch dem an seiner Stelle bestellten neuen Pflichtverteidiger zu.

c) Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze steht dem Beschwerdegegner für seine am 26. September 2022 erbrachte Pflichtverteidigertätigkeit die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG in Höhe von 176,00 Euro, die Termingebühr nach Nr. 4114 VV RVG in Höhe von 282,00 Euro, die Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen nach Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 20,00 Euro, die Fahrtkosten nach Nr. 7003 VV RVG in Höhe von 33,60 E, das Tage- und Abwesenheitsgeld nach Nr. 7005 VV RVG, jeweils nebst gesetzlicher Umsatzsteuer, zu.

Hingegen ist die Verfahrensgebühr nach Nr. 4112 VV RVG für das Betreiben der Geschäfte einschließlich der Information im vorliegenden Fall nicht angefallen. Eine in den Geltungsbereich der Verfahrensgebühr fallende Tätigkeit hat der Pflichtverteidiger nicht entfaltet. Zwar wird mit der Verfahrensgebühr die Tätigkeit des Pflichtverteidigers im Strafverfahren des ersten Rechtszuges nach Abschluss des vorbereitenden Verfahrens abgegolten. Ausgenommen sind davon aber Tätigkeiten, für die besondere Gebühren vorgesehen sind, wie z.B. die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und die Termingebühr für die Hauptverhandlung Nr. 4114 VV RVG (vgl. OLG München, Beschluss vom 27. Februar 2014, 4c Ws 2/14, zit. n. juris m.w.N.). Aus dem Protokoll der Hauptverhandlung vom 12. Verhandlungstag am 26. September 2022 ergibt sich, dass an diesem Tage keine Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, für die eine Einarbeitung in das bisherige Beweisergebnis oder das Entwerfen einer Verteidigungsstrategie erforderlich gewesen wäre. Dem Protokoll über die 20 Minuten dauernde Hauptverhandlung ist lediglich die Beiordnung von vier Pflichtverteidigern für den Verhandlungstag sowie die Abtrennung des Verfahrens gegen den Mitangeklagten pp wegen Verhandlungsunfähigkeit „auf unabsehbare Zeit“ zu entnehmen…..“

Der Entscheidung ist – wie gesagt – teilweise zuzustimmen, teilweise aber auch zu widersprechen.

Zuzustimmen ist der grundsätzlichen Aussage des OLG zu den für den Terminsvertreter entstehenden Gebühren. Es ist zutreffend, wenn sich das OLG der insoweit herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur anschließt (vgl. dazu auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Vorbem. 4.1 VV Rn 5 mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur).

2. Aber: Das war es dann aber auch schon. Denn nicht folgen kann man m.E. dem OLG hinsichtlich seiner Begründung, warum eine Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG nicht entstanden sein soll. Zwar beschränkt das OLG seine Ausführungen auf den vorliegenden Fall, wenn es mit „im vorliegenden Fall“ formuliert. Aber unabhängig davon sind die Ausführungen nicht zutreffend. Denn die Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG ist auf jeden Fall entstanden. Das OLG übersieht nämlich, dass nach den Änderungen durch das 2. KostRMoG Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und jeweilige Verfahrensgebühr immer nebeneinander entstehen (vgl. zur Grundgebühr Burhoff AGS 2022, 433 m.w.N.). Dabei kommt es auf den Umfang der jeweiligen Tätigkeit beim Pflichtverteidiger, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht an. Denn er erhält unabhängig vom Umfang der von ihm erbrachten Tätigkeiten Festgebühren, die mit Erbringung der ersten Tätigkeit für den Mandanten entstehen. Und das OLG irrt bzw. wählt den falschen Ansatz, wenn es für die Frage des Entstehens der Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG allein darauf abstellt, was in dem Termin am 26.09.2022 geschehen ist. Das ist unerheblich, da diese Tätigkeiten durch die Terminsgebühr Nr. 4112 VV RVG abgegolten werden. Alle übrigen Tätigkeiten werden aber durch Grundgebühr- bzw. Verfahrensgebühr abgegolten. Und das ist eben nicht nur, wie das OLG offenbar meint, die Vorbereitung auf eine Beweisaufnahme, sondern jede zusätzliche Tätigkeit die vom Rechtsanwalt  erbracht wurde. Ausreichend sind eine Gespräch mit dem eigentlichen Pflichtverteidiger über die Übernahme der Vertretung im Termin, ein Gespräch mit dem Mandanten, das im Zweifel vor der dem Hauptverhandlungstermin geführt worden ist, usw. Dass es sich dabei um nur geringe Tätigkeiten handelt, ist wegen der Festgebührencharakter der Pflichtverteidigergebühren ohne Bedeutung. Daher hätte hier die Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG auch festgesetzt werden müssen. Die Entscheidung des LG war zutreffend. Dort hatte man offenbar mal in einen Kommentar geschaut. 🙂

StPO III: Der Nebenkläger stirbt während des Verfahrens, oder: Rechtsmittelbefugnis der Erben?

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Und zum Schluss des Tages dann noch etwas auf dem Rechtsmittelbereich, und zwar etwas zur Rechtsmittelbefugnis der Erben des verstorbenen Nebenklägers.

Das AG hat den Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen. Ihm war vorgeworfen worden, als Autofahrer die Vorfahrt des mit einem Fahrrad fahrenden späteren Nebenklägers missachtet und diesem hierdurch schwere Verletzungen zugefügt zu haben, die zu einer gänzlichen Lähmung führten. Gegen das freisprechende Urteil hat der durch seinen Rechtsanwalt vertretene Nebenkläger Berufung eingelegt. Noch bevor es zur Berufungshauptverhandlung gekommen ist, ist der Nebenkläger am 24.06.2023 verstorben. Der Rechtsanwalt hat dies dem Berufungsgericht mitgeteilt und zugleich – schriftlich – beantragt, den Angeklagten nunmehr wegen „Körperverletzung mit Todesfolge bzw. fahrlässiger Körperverletzung zu verurteilen“. Hiernach hat der Rechtsanwalt die Vertretung des Sohnes des verstorbenen Nebenklägers angezeigt und erklärt, dass „dieser die Nebenklage nach dem Tod des Nebenklägers fortführt“. Weiter hat er beantragt, diesen „als Nebenkläger zuzulassen in dem Sinne, dass dieser die Position des verstorbenen Nebenklägers übernimmt und die Berufung mit den in der Berufungsschrift gestellten Anträgen fortführt“.

Das LG hat festgestellt, dass die Anschlusserklärung durch den Tod des Nebenklägers seine Wirkung verloren habe. Durch denselben Beschluss sind dem verstorbenen Nebenkläger die Kosten der Berufung mit der Folge auferlegt worden, dass sie aus dessen Nachlass zu erstatten seien. Der Rechtsanwalt hat „sofortige Beschwerde“ gegen den gesamten Beschluss eingelegt. Das Rechtsmittel stellt sich nach Auffassung des KG als sofortige Beschwerde des verstorbenen Nebenklägers gegen die Kostenentscheidung sowie als Beschwerde des Sohnes gegen die Versagung der Zulassung als Nebenkläger dar.

Beide Rechtsmittel blieben beim KG ohne Erfolg. Das führt im KG, Beschl. v. 22.01.2024 – 3 Ws 66-67/23 – aus:

„1. Die Beschwerde des Y gegen die Versagung der Zulassung als Nebenkläger ist unbegründet, weil das Strafprozessrecht eine Fortführung der Nebenklage durch An-gehörige nicht vorsieht (a) und eine eigene Anschlusserklärung nach dem Versterben des Nebenklägers nicht mehr möglich war (b).

a) Ein „Eintreten“ in die Nebenklage oder eine Fortführung durch Angehörige des verstorbenen Nebenklägers ist durch die StPO nicht vorgesehen (vgl. BGH NStZ 2009, 174; Allgayer in Karlsruher Kommentar, StPO 9. Aufl., § 402 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 402 Rn. 4). Eine solche Sukzession normiert zwar § 383 Abs. 2 StPO für die Privatklage. Für die Nebenklage fehlt eine entsprechende Regelung indes. Mit dem Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 hat der Gesetzgeber die Verweisung in § 397 Abs. 1 a. F. StPO auf Vorschriften der Privatklage vielmehr bewusst beseitigt, so dass eine analoge Anwendung nicht mehr in Betracht kommt (vgl. Valerius in Münchener Kommentar, StPO, § 402 Rn. 8). Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn der Tod des Nebenklägers, was hier keinesfalls fernliegt, durch die zu seinem Anschluss berechtigende Straftat herbeigeführt worden ist (vgl. Valerius in Münchener Kommentar, a.a.O.).

b) Auch konnte sich der Beschwerdeführer Y nach dem Tod des Nebenklägers nicht mehr aus eigenem Recht wirksam der erhobenen öffentlichen Anklage anschließen.

Zwar steht diese Befugnis im Grundsatz auch dem Kind eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten zu (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Dies gilt jedoch dann nicht, wenn sich der öffentlichen Klage bereits der Verstorbene, noch zu Lebzeiten, als Neben-kläger angeschlossen hatte. Denn nach § 402 StPO verliert die Anschlusserklärung durch den Tod des Nebenklägers ihre Wirkung. Da die Nebenklage mit dem Versterben beendet ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 402 Rn. 6) und die vom Nebenkläger eingelegte Berufung als zurückgenommen gilt (vgl. OLG Celle NJW 1953, 1726; Allgayer in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 402 Rn. 5), wird das zunächst angefochtene Urteil in der juristischen Sekunde des Versterbens rechtskräftig.

Angesichts der durch das Versterben des Nebenklägers eingetretenen Rechtskraft des Freispruchs konnte auch der Beschwerdeführer Y nicht mehr den Anschluss nach § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO erklären. Im Zeitpunkt der Anschlusserklärung gab es die durch § 395 Abs. 1 StPO vorausgesetzte öffentliche Klage nicht mehr.

2. Die sofortige Beschwerde des verstorbenen Nebenklägers gegen die vom Landgericht für das Berufungsverfahren getroffene Kostengrundentscheidung ist zulässig, jedoch nicht begründet.

a) Dass der Nebenkläger verstorben ist, steht der Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht entgegen. Zwar ist umstritten, ob die zu Lebzeiten erteilte Vertretungsvollmacht über den Tod des Vollmachtgebers hinaus fortwirkt und den Vertreter jedenfalls zur Stellung von Kosten- und Auslagenerstattungsanträgen sowie zur Einlegung von Beschwerden gegen ablehnende Entscheidungen ermächtigt (bejahend Hanseatisches OLG, NJW 1971, 2183; 1983, 464; OLG Hamm NJW 1978, 177; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 246; OLG Celle NJW 2002, 3720; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., Vor § 137 Rn. 7; Kühl, NJW 1978, 977, 980 [allesamt den Verteidiger betreffend]; a. A. Hanseatisches OLG wistra 2004, 39). Der Senat geht jedoch mit der wohl herrschenden Meinung von einem solchen Fortbestehen aus. Nach § 168 BGB bestimmt sich das Erlöschen der Vollmacht nämlich nach dem zu Grunde liegenden Rechtsverhältnis, hier also nach dem zwischen dem Nebenkläger und seinem Vertreter bestehenden Geschäftsbesorgungsvertrag (§ 675 BGB). Auf diesen ist § 672 BGB anzuwenden, wonach der Auftrag im Zweifel nicht durch den Tod des Auftrag-gebers erlischt. Dieses Ergebnis ist hier auch sachgerecht, weil nach dem Tod des Nebenklägers noch über die Verfahrenskosten und die Tragung der notwendigen Auslagen zu entscheiden war. Die durch diese Konstellation erzeugte Interessenlage legt es nahe, dass der Vertreter die Interessen des Verstorbenen (und damit „indirekt“ die der Erben) auch weiterhin vertritt (vgl. Kühl, NJW 1978, 977).

b) Die sofortige Beschwerde des verstorbenen Nebenklägers ist jedoch nicht begründet. Denn nach § 402 StPO hat die Anschlusserklärung des Nebenklägers durch dessen Tod ihre Wirkung verloren. Damit ist die Nebenklage beendet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 402 Rn. 6), und das ausschließlich vom Nebenkläger ein-gelegte Rechtsmittel, die Berufung, gilt als zurückgenommen (vgl. OLG Celle NJW 1953, 1726; Allgayer in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 402 Rn. 5).

Die Kosten eines zurückgenommenen Rechtsmittels treffen nach § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO grundsätzlich denjenigen, der es eingelegt hat. Nach § 473 Abs. 1 Satz 3 StPO gilt dies auch ausdrücklich für die Nebenklage. Damit hat das Landgericht dem verstorbenen Nebenkläger zutreffend die Kosten des Berufungsverfahrens und die dem Freigesprochenen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt. Gleichfalls zutreffend hat das Landgericht formuliert, dass dies zur Folge hat, dass die auferlegten Kosten „aus dem Nachlass zu erstatten sind“ (vgl. OLG Celle NJW 1953, 1726; Thüringisches OLG MDR 1995, 1071; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 402 Rn. 6).

3. Die Beschwerdeführer haben gemäß § 473 Abs. 1 StPO die Kosten ihrer erfolglosen Rechtsmittel zu tragen, der verstorbene Nebenkläger nach § 473 Abs. 1 Satz 3 StPO zugleich die notwendigen Auslagen des Freigesprochenen. In Bezug auf den verstorbenen Nebenkläger ergeht die Kostenentscheidung mit der Maßgabe, dass die Kosten aus dem Nachlass zu erstatten sind.“

StPO II: Schwurgericht auf Schöffen-/Schöffinnensuche, oder: Statthaftes Vorabentscheidungsverfahren?

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Und dann als Mittagslektüre der OLG Köln, Beschl. v. 16.02.2024 – 2 Ws 58-61/24. Thematik: Vorabentscheidungsverfahrens nach § 222b Abs. 3 StPO.

Folgender Verfahrensgang Folgendes: Das Schwurgericht des LG hatte den Angeklagten u.a.  wegen Totschlags verurteilt. Auf die Revision der Nebenkläger hat der BGH das Urteil des LG Köln aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Der Vorsitzende der nunmehr zuständigen Schwurgerichtskammer hat dann om 12.01.2024 bis zum 12.04.2024 22 Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung anberaumt. Als Hauptschöffin war u. a. die Krankenschwester F. G. dem Verfahren zugelost worden und per Postzustellungsurkunde vom 07.12.2023 ordnungsgemäß geladen worden. Die erscheint am 12.01.2024 nicht. Es gelingt dann die Kontaktaufnahme. Die Schöffin teilt mit, sie habe bei Gericht angerufen und mitgeteilt, sie sei aufgrund ihrer Arbeitstätigkeit an der Terminswahrnehmung gehindert und habe daher ihre Teilnahme „abgesagt“. Sie teilt außerdem mit, sie sei durch ihre Arbeitstätigkeit verhindert. Sie könne zwar zum Hauptverhandlungstermin noch nachträglich erscheinen, aber alle Hauptverhandlungstermine könne sie unmöglich wahrnehmen, da ihr Chef damit nicht einverstanden sei.

Der Vorsitzende hat dann verfügt, die Schöffin G. werde von ihrer Dienstleistung in der Hauptverhandlung nach § 54 Abs. 2 S. 2 StPO entbunden. Nach der Entpflichtung der Schöffin G. ist der Strafkammer um 11:29 Uhr als nächste bereite Schöffin von der Ersatzschöffenliste Frau V. P. zugewiesen worden. Da die Schöffin P. in einem sogleich durch den Vorsitzenden geführten Telefonat mitgeteilt hat, sie befinde sich vom 16.02. bis 26.02.2024 auf einer Schiffsreise, hat der Vorsitzende daraufhin vermerkt und verfügt, die Ersatzschöffin P. werde von ihrer Dienstleistung gemäß § 54 Abs. 1 S. 2 StPO entbunden. Die Reise der Schöffin betreffe vier Hauptverhandlungstage. Da diese mit umfangreichem Beweisprogramm und der Vernehmung des psychiatrischen Sachverständigen belegt seien, komme eine Aufhebung der Hauptverhandlung nicht in Betracht.

Nach der Entpflichtung der Hilfsschöffin P. ist der Strafkammer die Schöffin Z. um 11:45 Uhr als Ersatzschöffin zugewiesen worden. Nach Wiederbeginn der Hauptverhandlung um 14:00 Uhr hat die Schöffin Z. der Hauptverhandlung beigewohnt.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 19.01.2024, eingegangen beim LG über das beA am selben Tag, hat der Angeklagte die vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts mit der Schöffin E. F. Z. gerügt. Er ist der Ansicht, die Schöffin F. G. sei die richtige gesetzliche Richterin, da eine Entpflichtung nach § 54 Abs. 2 GVG zu Unrecht erfolgt sei. Das Gericht habe die wesentlichen Voraussetzungen einer Unerreichbarkeit im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 2 GVG verkannt.

Das LG hat den Besetzungseinwand als unbegründet zurückgewiesen. Der Einwand hatte dann auch beim OLG keinen Erfolg:

„Die Besetzungseinwände haben keinen Erfolg.

Das Vorabentscheidungsverfahren nach § 222b Abs. 3 StPO erweist sich auf der Grundlage der dem Senat unterbreiteten Sachlage für den Angeklagten bzw. die Nebenkläger 1) – 3) als nicht statthaft. Aufgrund des Rügevortrags kann der Senat nicht davon ausgehen, dass eine auf die Schöffin Z. bezogene Besetzungsmitteilung nach § 222a Abs. 1 StPO spätestens bis zu dem Beginn der Hauptverhandlung erfolgt ist.Gemäß § 222b Abs. 1 S. 2 StPO sind bei der Geltendmachung des Einwands, dass das Gericht vorschriftswidrig besetzt sei, die Tatsachen anzugeben, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll. Das Vorabentscheidungsverfahren nach § 222b Abs. 3 StPO soll im Wesentlichen an das Revisionsverfahren angelehnt sein (BT-Drucks. 19/14747, S. 29). Das hat zur Folge, dass der Besetzungseinwand in der gleichen Form geltend zu machen ist wie die als Verfahrensrüge ausgestaltete Besetzungsrüge der Revision nach Maßgabe von § 344 Abs. 2 StPO (vgl. SenE v. 21.06.2021, 2 Ws 296/21; SenE v. 11.12.2020, 2 Ws 680/20; SenE v. 27.08.2020, 2 Ws 464/20; OLG Hamm, Beschl. v. 18.08.2020, III-1 Ws 325/20; OLG Bremen, Beschl. v. 14.04.2020, 1 Ws 33/20; KG Berlin, Beschl. v. 01.03.2021, 4 Ws 14/21; OLG München, Beschlüsse v. 12.02.2020, 2 Ws 138-139/20, und v. 10.03.2020, 2 Ws 283/20; OLG Celle, Beschl. v. 27.01.2020, 3 Ws 21/20; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.11.2021, 1 Ws 73/21; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 222b Rdn. 6). Der Besetzungseinwand muss ohne Bezugnahmen und Verweisungen (vgl. BGH, Urteil v. 04.09.2014, 1 StR 75/14; Schmitt a.a.O.) aus sich heraus Inhalt und Gang des bisherigen Verfahrens so konkret und vollständig wiedergeben, dass eine abschließende Prüfung durch das nach § 222b Abs. 3 S. 1 StPO zuständige Rechtsmittelgericht ermöglicht wird. Denn es ist nicht Aufgabe des Senats im Vorabentscheidungsverfahren gemäß § 222b Abs. 3 StPO, das revisionsrechtlichen Grundsätzen folgt, den Revisionsvortrag aus anderen Unterlagen zusammenzufügen oder zu ergänzen (vgl. BGH, Urteil v. 04.09.2014, 1 StR 75/14). Dabei sind als erforderlicher Inhalt des Besetzungseinwands auch Angaben anzusehen, aus denen sich dessen Statthaftigkeit ergibt. Widrigenfalls bedürfte es des bei einer revisionsähnlichen Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens nicht zulässigen Rückgriffs auf die Akten, um dem Rechtsmittelgericht die Prüfung zu ermöglichen, ob der Besetzungseinwand in statthafter Weise in Bezug auf eine spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung erfolgende Besetzungsmitteilung erhoben wurde (OLG Bremen, Beschl. v. 14.04.2020, 1 Ws 33/20).

Dem Rügevorbringen des Angeklagten, dem sich die beteiligten Nebenkläger lediglich ohne eigenen Sachvortrag angeschlossen haben, ist indes nicht zu entnehmen, dass spätestens bis zur Vernehmung des Angeklagten zur Person nach § 243 Abs. 2 S. 2 StPO (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts im Rahmen der §§ 222a, 222b: BGH, Urteil v. 12.07.2001, 4 StR 550/00; BVerfG, Beschl. v. 19.03.2003, 2 BvR 1540/01) eine Besetzungsmitteilung erfolgt ist, die sich (auch) auf die Schöffin Z. bezog. Der Vortrag beschränkt sich vielmehr darauf, die Umstände darzulegen, die letztlich zu ihrer Zuweisung zu der Strafkammer führten, und mitzuteilen, dass sie seit „Sitzungsbeginn“ um 14:00 Uhr des 12.01.2024 an der Hauptverhandlung teilnehme.

Dabei kann dem Vortrag bereits nicht entnommen werden, ob die Hauptverhandlung vor dem Eintritt der Schöffin Z. schon durch Aufruf der Sache im Sinne des § 243 Abs. 1 S. 1 StPO begonnen hatte und nach § 229 StPO unterbrochen worden war. In diese Richtung deutet allerdings die in der Rügeschrift verwendete Formulierung, der Vorsitzende habe „nach Unterbrechung der Hauptverhandlung zunächst bis 10:45 Uhr“ das Tätigwerden einer Polizeistreife veranlasst. In diesem Fall wäre bereits fraglich, ob eine nach dem Aufruf der Sache eingetretene, gegenüber einer zuvor erteilten Besetzungsmitteilung – zu der der Angeklagte gleichfalls nichts vorträgt – geänderte Besetzung überhaupt noch dem Anwendungsbereich des § 222a StPO unterliegt. Hierfür dürfte allerdings sprechen, dass der Begriff des „Beginns der Hauptverhandlung“ im Rahmen dieser Vorschrift bezogen auf den spätestmöglichen Mitteilungszeitpunkt den Zeitraum bis vor der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Person umfasst (BGH, Urteil v. 12.07.2001, 4 StR 550/00; BVerfG, Beschl. v. 19.03.2003, 2 BvR 1540/01).

Selbst wenn aber davon auszugehen wäre, dass der Eintritt der Schöffin Z. zu einem Zeitpunkt erfolgt ist, der noch eine Mitteilungspflicht nach § 222a StPO auslöste, kann der Senat auf Grund des hierzu schweigenden Rügevorbringens nicht zu Grunde legen, dass eine solche Mitteilung auch tatsächlich erfolgt ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich insoweit um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne von § 273 Abs. 1 StPO handelt, die ausdrücklich und eindeutig zu erfolgen hat. Bloß konkludentes Verhalten, etwa ein Aushang der Besetzung an der Türe des Sitzungssaals, genügt nicht (BGHSt 29, 162; BGH, Beschl. v. 06.01.2021, 5 StR 519/20, NStZ-RR 2021, 81; Ritscher in BeckOK StPO, 50. Edition, Stand: 01.01.2024, § 222a Rn. 7; vgl. auch Lantermann, HRRS 2022, 32, 33).

2, Steht somit zumindest das Fehlen einer Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO konkret im Raum, hat dies zur Folge, dass das Vorabentscheidungsverfahren nach § 222b Abs. 3 StPO nicht statthaft ist.

a) Für den – hier auf Grund des dargelegten defizitären Rügevorbringens zum genauen Ablauf der Hauptverhandlung am 12.01.2024 jedenfalls nicht auszuschließenden – Fall einer Besetzungsänderung, die erst zu einem Zeitpunkt in der Hauptverhandlung erfolgt, der schon vom Anwendungsbereich des § 222a StPO nicht mehr erfasst ist, entspricht dies der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschl. v. 02.02.2022, 5 StR 153/21, NJW 2022, 1470, insb. Tz. 11; vgl. dieser Entscheidung zu Grunde liegend OLG Bremen, Beschl. v. 14.04.2020, 1 Ws 33/20; vgl. zur Unstatthaftigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens außerhalb des Anwendungsbereichs des § 222a StPO auch SenE v. 01.10.2020, 2 Ws 534/20).

b) Nach Ansicht des Senats setzt die Statthaftigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens nach § 222b Abs. 3 StPO aber auch in Konstellationen, in denen eine Besetzungs(änderungs)mitteilung nach § 222a StPO geboten ist, voraus, dass diese auch tatsächlich bis spätestens zu Beginn der Hauptverhandlung im Sinne dieser Vorschrift erfolgt ist (so auch Lantermann, a.a.O., 34, 36, 41)……“