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StPO II: Akteneinsicht bei Vergewaltigungsvorwurf, oder: (Theoretische) Möglichkeit der „Präparierung“

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Und im zweiten Posting dann mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.03.2024 – 2 Ws 56/24 – noch einmal etwas zur Akteneinsicht der Verletzten in einem Vergewaltigungsverfahren. Der Vertreterin der Verletzten ist vom LG Akteneinsicht gewährt worden. Dagegen die Beschwerde des Angeschuldigten, die keinen Erfolg hatte:

„1. Die Beschwerde des Angeschuldigten ist zulässig, insbesondere gemäß §§ 304 Abs. 1, 406e Abs. 4 S. 4 StPO – die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage erhoben – statthaft (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 06.07.2020 – 1 Ws 81/20,-, BeckRS 2020, 17128; KG, Beschluss vom 10.05.2021 – 5 Ws 85/21161 AR 62/21 -, BeckRS 2021, 55985; Senat, Beschluss vom 05.02.2021 – 2 Ws 27/21 -, juris; BeckOK/Weiner, StPO, 50. Ed. Stand 01.01.2024, § 406e StPO Rn. 19).

2. In der Sache erweist sich die Beschwerde des Angeschuldigten indes als unbegründet.

a) Auch wenn dem Vorsitzenden bei seiner Entscheidung darüber, ob einem Akteneinsichtsbegehren § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO entgegensteht, ein weiter Ermessensspielraum zusteht (BGH NJW 2005, 1519; OLG Schleswig StraFo 2016, 157), ist der Senat nicht auf eine Prüfung der angefochtenen Entscheidung auf Ermessensfehler beschränkt. Vielmehr hat er – mangels abweichender gesetzlicher Regelung – gemäß § 309 Abs. 2 StPO als Beschwerdegericht selbst die in der Sache gebotene Entscheidung zu treffen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 309 Rn. 4; KK-Zabeck, StPO, 9. Aufl., § 309 Rn. 6).

b) Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks ist zwar auch dann anzunehmen, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte (BT-Drs. 10/5305 S. 18).

Allerdings ist auch in Verfahrenskonstellationen, in denen der Aussage des Verletzten für die Wahrheitsfindung besondere Bedeutung zukommt – namentlich wenn allein seine Aussage gegen die des Beschuldigten steht oder sich dieser nicht zur Sache einlässt – nicht generell davon aus-zugehen, dass eine Beeinflussung der Aussage durch die Gewährung von Akteneinsicht zu be-sorgen ist. Vielmehr ist auch dann eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls geboten (BGH NStZ 2016, 367). Allein die (theoretische) Möglichkeit einer „Präparierung“ oder ggf. auch unbewussten Beeinflussung des Verletzten und seiner Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht, auf die der Nebenkläger gemäß § 406e Abs. 1 StPO grundsätzlich einen Anspruch hat, nicht aus (KG a.a.O.; OLG Brandenburg, a.a.O.).

Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die Nebenklägerin bereits polizeilich und richterlich, in Anwesenheit der ihr damals beigeordneten Rechtsanwältin, vernommen wurde und dass dieser bereits umfassend Akteneinsicht seitens der Staatsanwaltschaft gewährt worden war. Die Sachverständige hat in ihrem vorläufigen schriftlichen Gutachten nach sorgfältiger Aussageanalyse keinerlei Anhalte für eine suggestive Beeinflussung der Nebenklägerin ermitteln können. Eine nachträgliche Beeinflussung der Zeugin durch Vermittlung von Aktenkenntnis oder gar durch die ihr nunmehr beigeordnete Rechtsanwältin selbst erscheint fernliegend. Der Senat hält im Übrigen an seiner Auffassung fest, dass jedenfalls die anwaltliche Zusicherung der mit der Akteneinsicht betrauten Rechtsanwältin, keinerlei Aktenkenntnis an die Nebenklägerin weiterzugeben, geeignet ist, eine Beeinflussung der Aussage der Verletzten und damit eine Gefährdung des Untersuchungszwecks auszuschließen (vgl. Senat, Beschluss vom 05.02.2021, a.a.O.). Eine entsprechende Zusicherung hat Rechtsanwältin pp. vorliegend abgegeben.“

StPO I: Wesentliche Änderung des Tatbildes, oder: Rechtlicher Hinweis erforderlich

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Und heute dann noch einmal StPO-Entscheidungen.

Hier zunächst ein Beschluss zum rechtlichen Hinweis nach § 265 StPO, und zwar der OLG Braunschweig, Beschl. v. 08.04.2024 – 1 ORs 6/24.

Das LG hat den  Angeklagten wegen Bestechlichkeit zu einer Geldstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen des LG haben die Ermittlungsbehörden vermutet, dass der Gefangene pp. auch aus der Haft heraus weiter Drogengeschäfte in erheblichem Umfang vornehme. Daher sei der Telefonanschluss seiner Frau im Rahmen einer genehmigten Telekommunikationsüberwachung überwacht worden. Im Rahmen dieser TKÜ-Aufzeichnung am 29.09.2018 habe die Polizei festgestellt, dass der inhaftierte Zeuge mit seinem Handy telefoniert habe. Da das Handy im Vollzug nicht gestattet sei, sei der Leiter des Sicherheitsdienstes der JVA, der Zeuge pp., informiert worden, der daraufhin angeordnet habe, den Haftraum des Gefangenen unverzüglich aufzusuchen und sofort das Handy sicherzustellen. Diesen Zugriff habe der Angeklagte mit dem weiteren Justizvollzugsbeamten und Zeugen pp. vornehmen sollen.

Im Rahmen dieser Haftraumprüfung habe der Angeklagte aufgrund eines Zahlungsangebotes von 20,- EUR mit dem Inhaftierten pp. eine Vereinbarung dahingehend getroffen, er (der Angeklagte) werde das Handy des Inhaftierten an sich nehmen, um es anschließend bewusst verschwinden zu lassen, oder den Inhaftierten blitzschnell in die direkt angrenzende Nasszelle rennen lassen, das Handy in der Toilette versenken und anschließend die Spülung ziehen lassen, ohne dass der Angeklagte Versuche unternehmen würde, diese Beseitigung des Handys zu verhindern, weil er ihm sein Einverständnis mit dem Belassen des Handys bzw. dessen Entsorgung signalisiert habe.

Während der Haftraumprüfung habe die Telefonverbindung (TKÜ-Aufzeichnung) noch bestanden, sodass das in der Zelle geführte Gespräch aufgenommen werden konnte.

Das der getroffenen Vereinbarung zugrundeliegende Gespräch hatte nach den Feststellungen der Kammer den folgenden Inhalt (UA Seite 7):

„Angeklagter: Mahlzeit
pp.: Hallo
Angeklagter: Na, biste am Telefonieren?
pp.: hmm
pp: Zwanni geb ich dir       bis zwanzig vor….
Angeklagter: Du hast schon länger Zeit 
pp.: Noch 5 Minuten, gucken sie mal an wie viel….
Angeklagter: Komm mal her!
pp.: Guck doch rein, ich hab doch nicht pp. guck doch mal hier.
Angeklagter: Komm mal her!
pp.: Ja ich komme….“

Auf der Grundlage dieses Gesprächs ist das LG davon ausgegangen, dass der Gefangene dem Angeklagten tatsächlich ein Angebot unterbreitet habe und der Angeklagte dieses auch angenommen habe. Die ursprünglich beabsichtigte Durchsuchung des Zeugen und die Sicherstellung des Handys habe sich seit dem Angebot für den Angeklagten erledigt. Nach der vorgenommenen Beweiswürdigung des LG habe der Angeklagte das Handy bereits gehabt oder er habe mit dem Gefangenen mittels Zeichen, Tuscheln, Signalen oder Gesten verabredet, dass dieser das Handy schnell in der Toilette entsorgen oder ihm zu Entsorgung übergeben könne, ohne seinen Kollegen pp., der als zweiter Beamter mit der Zellenprüfung betraut war, in diese Vereinbarung mit einzubeziehen, damit dieser nicht bösgläubig würde.

Das OLG hat auf die Revision des Angeklagten das LG-Urteil aufgehoben:

„Die mit Eröffnungsbeschluss zugelassene Anklage hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, sich einer Bestechlichkeit gemäß § 332 Abs. 1 StGB schuldig gemacht zu haben, indem er sich bei einer durchgeführten Haftraumkontrolle als Gegenleistung für das Belassen des Handys beim Zeugen (dem Inhaftierten pp.) und das wahrheitswidrige Mitteilen, es sei kein Handy gefunden worden, von diesem 20,- € versprechen ließ. Demgegenüber hat das Landgericht festgestellt, um 1:28:47 Uhr sei die Aufzeichnung des Gesprächs entweder deshalb abgebrochen, weil der Angeklagte aufgrund des Zahlungsangebotes das Handy an sich genommen habe, um es anschließend bewusst verschwinden zu lassen oder pp. blitzschnell in die direkt angrenzende Nasszelle gerannt sei, das Handy in der Toilette versenkt habe und anschließend die Spülung gezogen habe, ohne dass der Angeklagte Versuche unternommen hätte, diese Beseitigung des Handys zu verhindern, weil er dem Zeugen pp. sein Einverständnis mit dem Belassen des Handys bzw. dessen Entsorgung signalisiert habe.

Das Gericht, das den Schuldspruch innerhalb des Rahmens der prozessualen Tat im Sinne des § 264 StPO auf einen gegenüber der Anklage wesentlich verändertes Tatbild stützt, muss dem Angeklagten zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 52; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Auflage 2023, § 265 Rn. 23 m.w.N.). Dies dient insbesondere dem schutzwürdigen Verteidigungsinteresse des Angeklagten.

Eine wesentliche Veränderung des Tatbildes lag vor. Die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten waren ohne den erfolgten Hinweis erheblich eingeschränkt. Er ist zu keinem Zeitpunkt darauf hingewiesen worden, dass das An-sich-Nehmen des Telefons zur Entsorgung für das Landgericht als alternatives Tatverhalten in Betracht kommen würde. Die Annahme dieses alternativen Tatverhaltens ergibt sich auch nicht durch den Gang der Hauptverhandlung. Das Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil des Landgerichts nach erfolgtem Hinweis und ggf. weiterem Verteidigervorbringen anders ausgefallen wäre. Hätte der Angeklagte Kenntnis von der Annahme eines alternativen Tatverhaltens gehabt, hätte er vorbringen können, dass ihm ein Verschwindenlassen des Handys in der konkreten Situation aufgrund der Kontrollmechanismen in der Justizvollzugsanstalt und des konkreten Ablaufs am Tattag gar nicht möglich gewesen wäre. Es ist nicht auszuschließen, dass die Kammer dann nicht zur Verurteilung gelangt wäre.“

OWi III: Entgegen dem BayObLG Einsicht in Messreihe, oder: Ende der Karriere :-)

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Und dann zum Schluss noch ein AG-Beschluss zum Dauerbrennerthema „Akteneinsicht im Bußgeldverfahren“. Ich stelle den Beschluss vor, weil er sich vom Mainstream der OLG-Rechtsprechung wohltuend absetzt und das in Bayern (!!).

Der Verteidiger des Betroffenen, dem eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt wird, hat Akteneinsicht beantragt, die nur teilweise gewährt worden ist. Gegen die Versagung der Gewährung von Akteneinsicht ist Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG gestellt worden

Das AG Passau hat im AG Passau, Beschl. v. 13.02.2024 – 4 OWi 749/23 – das bayerische Polizeiverwaltungsamt „angewiesen, dem Verteidiger die mit Antragsschriftssatz vom 16.12.2023 angeforderten Unterlagen in Form des ersten und des letzten Bildes der gesamten Messereihe sowie der jeweils 5 Bilder vor und nach der Messung des Betroffenen im Rahmen einer erneuten Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen.“

Begründung:

„Dieser Antrag erweist sich als zulässig und begründet.

Grundsätzlich steht einem Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht zu gemäß § 46 I OWiG in Verbindung mit § 147 StPO.

Dieses umfasst regelmäßig lediglich die in der Akte des Bußgeldverfahrens enthaltenen Unterlagen. Das Akteneinsichtsrecht begründet grundsätzlich keinen Anspruch auf Erweiterung des Aktenbestandes.

Ein solcher Anspruch ergibt sich jedoch im vorliegenden Verfahren aus der gesetzlich gebotenen Aufklärungspflicht, denn die im Beschlusstenor genannten Unterlagen sind zur Überprüfung der verfahrensgegenständlichen Messung durch einen Sachverständigen spätestens diesem in der Praxis regelmäßig vorzulegen.

Entgegen der Rechtsansicht des BayObLG verwenden Sachverständige diese Bilder der Messreihe zur Überprüfung einer Geschwindigkeitsmessung regelmäßig und ziehen aus diesen Rückschlüsse auf die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit der Messung, welche sich beispielsweise durch eine im Rahmen des Vergleichs der Messbilder festzustellende Veränderung der Bildeinstellung ergeben kann.“

„Entgegen der Rechtsansicht des BayObLG“ = Ende der Karriere 🙂 .

StPO III: Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen, oder: Unverwertbar ==> kein dringender Tatverdacht

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Und dann zum Tagesschluss noch eine Entscheidung zur Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen als Beweismittel. Ergangen ist der LG Fulda, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 Kls 131 Js 194/23 – in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten umfangreiche Verstöße gegen das BtMG zur Last gelegten werden. Als Beweismittel stehen neben Zeugenaussagen der polizeilichen Ermittlungsbeamten nur die ANOM-Chatverläufe mit potentiellen Lieferanten zur Verfügung.

Gegen den Angeklagten wurde im Oktober 2023 Haftbefehl erlassen. Das LG hat den jetzt aufgehoben. Es verneint einen dringenden Tatverdacht. Nach seiner Auffassung sind die Chat-Verläufe nicht verwertbar:

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand erscheint eine Verwertbarkeit der Anom-Chats als Beweismittel aber zweifelhaft.

….

2. Die Verwertbarkeit der aus der Auswertung des „ANOM“-Chatverkehrs gewonnenen Erkenntnisse werden derzeit von der Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 2211.2021 — 1 HEs 427/21; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14.02.2022 — 1 HEs 509/21, 1 HEs 510/21, 1 HEs 511/21, 1 HEs 512/21, 1 HEs 513/21, 1 HEs 514/21 sowie OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.01.2024 — 3 Ws 353/23; a. A. OLG München, vom 19.10.2023 —1 Ws 525/23). Eine Entscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit von „ANOM“-Chats existiert noch nicht. Nach Auffassung der Kammer bestehen Zweifel hinsichtlich der Verwertbarkeit der „ANOM“-Chats.

Zwar sieht das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem europäischen Ausland erlangte Daten vor.

Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschluss des BGH vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) lässt aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichtet die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Beweisverwertungsverbote greifen nur in Ausnahmefällen ein, etwa, wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente. Es muss also ein so schwerwiegender Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das kann ein deutsches Gericht prüfen und feststellen.

a) Der Drittstaat ist weder der Bundesregierung noch dem Bundeskriminalamt bekannt. Ebenso wenig bekannt ist der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaates Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatten. Diese behaupteten Beschlüsse existieren zwar nach Auskunft des FBI, sind bislang aber auch nur vom Hörensagen bekannt und können nicht überprüft werden. Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Beschuldigten erheblich beschränkt. Für einen Beschuldigten besteht bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss im beweiserhebenden Drittland gerichtlich zur Wehr zu setzen. Dem Beschuldigten ist in diesem Falle jegliche Prüfungs- und Rechtsmittelmöglichkeit hinsichtlich des Eingriffsbeschlusses des Drittlandes versagt. Dies verstößt möglicherweise gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK sowie den ordre public und würde bereits deswegen zu einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der aus der Maßnahme gewonnenen Daten führen (vgl. BeckOK StPO/Graf, 50. Ed. 1.1.2024, StPO § 100a Rn. 99d). Auch die Kammer ist aufgrund des derzeitigen Ermittlungsstandes, wie er sich aus den vorgelegten Akten darstellt, nicht in der Lage, die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze zu überprüfen, insbesondere ob eine Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung besteht.

b) Abschließend ist anzuführen, dass die Kammer nicht verkennt, dass das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz kennt, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Beschuldigten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde.

Vorliegend wird dem Angeschuldigten jegliche Möglichkeit genommen, die Rechtmäßigkeit der Informationsgewinnung in dem unbekannten Drittstaat zu überprüfen und ihm somit jegliche Möglichkeit, zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des auf diesen Informationen beruhenden Verfahrens genommen wird.

Die Bejahung der Verwertbarkeit der Anom-Chats führt im Ergebnis dazu, dass sich deutsche Gerichte allein auf die Behauptung des FBI — einer nicht zur EU gehörenden Polizei- und Geheimdienstbehörde — verlassen und auf jegliche richterliche Überprüfung der Richtigkeit dieser Angaben und der Rechtmäßigkeit der Verfahrensweise verzichten müssen.

Da die Verwertbarkeit der Anorn-Chats nach derzeitigem Verfahrensstand somit fraglich ist, kann hierauf kein dringender Tatverdacht gestützt werden.“

StPO II: Einiges Neues zu Pflichtverteidigerfragen, oder: Zweiter Verteidiger, Entpflichtung, Wechselfrist, Grund

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigung (§§ 140 ff. StPO). Es hat sich aber seit dem letzten Posting zu der Porblematik nicht so viel angesammelt, dass es für einen ganzen Tag reicht. Also gibt es ein Sammelposting, allerdings nur mit den Leitsätzen:

1. Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch das erkennende Gericht keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat.

2. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers (§ 144 StPO) ist lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.

    1. Einem bereits verteidigten Angeklagten ist auch bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung kein Pflichtverteidiger beizuordnen.
    2. Abweichend von dem Grundsatz, dass das Beschwerdegericht an die Stelle des Erstgerichts tritt und eine eigene Sachentscheidung trifft, gilt für die Prüfung der Bestellung eines weiteren Verteidigers nach § 144 StPO, dass dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht.
    3. Zur Ausübung des Ermessens durch den Vorsitzenden des bzw. das Erstgericht.
    1. Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist.
    2. Zur Komplexität der Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes.

Der Beginn der Frist für den Antrag auf einen Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO setzt voraus, dass der Beschuldigte auf die Frist bzw. die Möglichkeit der Auswechslung des Verteidigers hingewiesen worden ist.