Archiv für den Monat: Oktober 2023

Pflichti III. Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, oder: (Mehrfach) prozessordnungswidriges Verhalten?

© canstockphoto5259235

Und zum Tagesschluss dann noch etwas zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, und zwar den LG Köln, Beschl. v. 14.09.2023 – 321 Ks 1/23 – zur Aufhebung wegen grob prozessordnungswidrigen Verhaltens des Pflichtverteidigers.

Das LG hat in dem Beschluss die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben und hat das auf drei Gründen gestützt. Wenn man den umfangreich begründeten Beschluss liest und hat man schon den Eindruck, dass es da beim LG hoch her gegangen ist. Ich stelle hier jetzt nicht die ganze Begründung vor. Das ist/wäre zu umfangreich, sondern nehme nur den ersten Punkt. Den Rest bitte selbst lesen.

Das LG führt u.a. aus:

„Die Bestellung von Rechtsanwalt V. als Pflichtverteidiger war gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 2. Alt. StPO aufzuheben, da ein sonstiger Grund i.S.d. Vorschrift vorliegt, der die Aufhebung der Bestellung gebietet. Ein solcher liegt vor, wenn sich der Verteidiger grobe Pflichtverletzungen zuschulden kommen lässt, die den Zweck der Pflichtverteidigung, nämlich dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf sicherzustellen, ernsthaft gefährden. Der Verteidiger ist nämlich verpflichtet, an einer sachdienlichen und prozessual geordneten Verfahrensführung mitzuwirken sowie den Verfahrensabschluss in einer angemessenen Zeit zu fördern. Sein Vorgehen muss er auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken; er hat also insbesondere die verfahrensleitende Rolle des Vorsitzenden, wie sie sich aus §§ 238 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO ergibt, zu akzeptieren und sich rein obstruktiver Maßnahmen zu enthalten. Nehmen störende Unterbrechungen der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden oder andere Maßnahmen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß an, so kann der Pflichtverteidiger folglich im Ausnahmefall als ultima ratio „aus wichtigem Grund“ entlassen werden.

Diese Voraussetzungen sind in mehrfacher Hinsicht erfüllt, da Rechtsanwalt V. auch nach bereits erfolgter Abmahnung vom 12.4.2023 sein grob prozessordnungswidriges Verhalten fortgesetzt hat, indem er den Vorsitzenden erneut in ehrverletzender Weise angegangen ist, diesem dienstpflichtwidrige Verhaltensweisen vorgeworfen, die Durchführung eines Hauptverhandlungstermins verhindert und eine falsche anwaltliche Versicherung abgegeben hat.

Im Einzelnen gilt Folgendes:

1. Anlass für die Abmahnung vom 12.4.2023 waren eine Vielzahl seit Beginn der Hauptverhandlung abgegebener prozessual unzulässiger Äußerungen des Verteidigers, insbesondere solche mit unangemessenen, teilweise beleidigenden und die Autorität, Integrität und Person des Vorsitzenden herabsetzenden Zwischenbemerkungen. Aufgrund des anders nicht abstellbaren Verhaltens des Verteidigers, das insgesamt nicht als anlassbezogene Reaktion anderer Beteiligter oder des Verfahrensablaufs i.S.d. § 43a Abs. 3 BRAO aufzufassen war, wurde Rechtsanwalt V. die o.a. Abmahnung erteilt. Auf den Inhalt wird hiermit ergänzend Bezug genommen. Unter anderem enthielt die Abmahnung folgenden Hinweis:

„…Es wird weiter darauf hingewiesen, dass die vorstehenden herabsetzenden Äußerungen von Rechtsanwalt V. in einer Reihe mit in den vergangenen Hauptverhandlungstagen vielfach von ihm vorgebrachten unangemessenen, teilweise beleidigenden und die Autorität, Integrität und Person des Vorsitzenden herabsetzenden Zwischenbemerkungen waren. Teilweise richteten sich Äußerungen von Rechtsanwalt V. auch gegen die Autorität des gesamten Spruchkörpers. Hinzu kommt, dass Rechtsanwalt V. – verstärkt seit März 2023 – dazu übergegangen ist, dem Vorsitzenden bei seiner Verhandlungsleitung bei sich fast jeder bietenden Gelegenheit ins Wort zu fallen, so dass es für den Vorsitzenden mittlerweile nahezu unmöglich geworden ist, einen Satz ungestört zu Ende führen zu können. Diese Art der – unautorisierten – „Wortmeldung“ ist ebenfalls grob prozessordnungswidrig und führt dazu, dass dem Vorsitzenden seine ihm gem. § 238 Abs. 1 StPO obliegende Prozessleitungsbefugnis erheblich erschwert, teilweise sogar unmöglich gemacht wird, da dieser Verhaltensweise – wie in der Vergangenheit mehrfach praktiziert – nur dadurch – wenn auch nur jeweils für kurze Zeit – begegnet werden kann, dass entweder das Mikrofon stumm geschaltet oder die Sitzung für einen kurzen Zeitraum unterbrochen wird.

Es wird darauf hingewiesen, dass weitere unsachliche, ehrverletzende Äußerungen die Grenze des zulässigen prozessualen Verhaltens weit überschreiten und als grobe Pflichtverletzungen Zweifel an der Bereitschaft zu einer sachgerechten Verteidigung begründen und daher Anlass geben können, die Rücknahme der Beiordnung von Rechtsanwalt V. als Pflichtverteidiger – ohne weitere Abmahnung – in Betracht zu ziehen. Es ist nämlich anerkannt, dass für einen Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung jeder Umstand in Betracht kommt, der den Zweck der Bestellung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand und den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu sichern, ernsthaft gefährdet (BGH NJW 2001, 625; BVerfG NJW 1998, 444.). Grobe Pflichtverletzungen – etwa die fehlende Bereitschaft zur sachgerechten Verteidigung – können daher die Aufhebung einer Beiordnung rechtfertigen (vgl. auch KG NStZ-RR 2009, 209; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2009, 243 ff; OLG Köln NJW 2005, 3588 f. m.w.N.). Der Verteidiger ist verpflichtet, an einer sachdienlichen und prozessual geordneten Verfahrensführung mitzuwirken sowie den Verfahrensabschluss in einer angemessenen Zeit zu fördern (BGH 1 StR 544/09). Sein Vorgehen muss er auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken; er hat also insbesondere die verfahrensleitende Rolle des Vorsitzenden, wie sie sich aus § 238 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO ergibt, zu akzeptieren und sich rein obstruktiver Maßnahmen zu enthalten. Nehmen störende Unterbrechungen der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden oder andere Maßnahmen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß an, so kann der Pflichtverteidiger folglich im Ausnahmefall „aus wichtigem Grund“ entlassen werden (BGH NStZ 1997, 46 f.; NStZ 1988, 510; BVerfG NJW 1975, 1015 ff.).

Der Vorsitzende geht davon aus, dass Rechtsanwalt V. nach dieser Abmahnung von weiteren grob prozessordnungswidrigen Verhaltensweisen einschließlich solcher Äußerungen absehen wird.“

Die Rechtsanwalt V. erteilte Abmahnung ist jedoch ohne dauerhafte Wirkung geblieben. Der Verteidiger hat sein erheblich prozessordnungswidriges Verhalten – wie im Folgenden ausgeführt wird – weiter fortgesetzt.

2. Rechtsanwalt V. hat den Vorsitzenden im Hauptverhandlungstermin vom 00.0.2023 (erneut) in unsachlicher, ehrverletzender Weise angegangen und zu Unrecht einer erheblichen Dienstpflichtverletzung beschuldigt.

a) Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung am 00.0.2023 war die (wiederholte) Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. K.. Diese wurde vor der Unterbrechung zwecks Mittagspause maßgeblich von Rechtsanwalt V. durchgeführt, der den Sachverständigen ausführlich zu einer in dessen Gutachten erwähnten „Experimentalgruppe“ (Menschen mit prothetischer Versorgung) befragte. In der dann eingelegten Mittagspause bestand innerhalb der Kammer Unklarheit, ob der Sachverständige die zur Experimentalgruppe gehörenden Personen – entweder bewusst oder versehentlich – mit „Kontrollgruppe“ bezeichnet hatte, was für die Zulässigkeit der weiteren Befragung Auswirkungen gehabt hätte. Insofern hatte die Kammer in einem zuvor verkündeten Beschluss nämlich ausgeführt, dass abgesehen von den Kontrollgruppen kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den im Gutachten erwähnten Studien und dem im hiesigen Verfahren erstatteten Sachverständigengutachten besteht, sodass etwaige Fragen hierzu keinen Sachbezug aufweisen. Um zu klären, ob die vorherigen Äußerungen des Sachverständigen möglicherweise auf Seiten der Kammer falsch verstanden worden waren, begab sich der Vorsitzende vor Wiedereintritt in die Hauptverhandlung zum Sachverständigen, der sich – wie auch Frau Staatsanwältin A. und (zumindest zeitweise) Rechtsanwalt Z. – bereits im Sitzungssaal befand. Rechtsanwalt V. war zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen.

Nachdem der Vorsitzende gegenüber dem Sachverständigen erklärt hatte, dass eine Unklarheit aufgetreten sei, fragte er bei diesem nach, ob er bei seinen vorherigen Ausführungen die Kontrollgruppe möglicherweise als Experimentalgruppe, also die prothetisch Versorgten dieser Gruppe, bezeichnet habe. Dieser entgegnete, dass er sich daran nicht erinnern könne, dies aber auch nicht gänzlich auszuschließen vermöge. Ferner stellte der Sachverständige erneut klar, dass die Experimentalgruppe Gegenstand seiner Studien gewesen sei, er aber dem Gutachten einen Vergleich mit der Kontrollgruppe zu Grunde gelegt habe. Diese bestünde aus 13 und weiteren 44 Personen. Der Vorsitzende erklärte dem Sachverständigen sodann, dass er diese Unklarheit zu Beginn der sogleich fortzusetzenden Hauptverhandlung noch einmal ansprechen und ihn anschließend dazu befragen werde. Danach war das Gespräch mit dem Sachverständigen beendet.

Nach Eintritt in die Hauptverhandlung wurden die Verfahrensbeteiligten von den aufgetretenen Unklarheiten unterrichtet. Insbesondere stellte der Vorsitzende voran, dass Unklarheit darüber bestanden habe, ob der Sachverständige die zur Experimentalgruppe gehörenden Personen mit „Kontrollgruppe“ bezeichnet hatte und stellte daran anschließend klar, dass künftige Fragen, die die Experimentalgruppe beträfen, entsprechend dem zuvor verkündeten Kammerbeschluss als nicht zur Sache gehörend zurückgewiesen werden könnten. Rechtsanwalt Z. intervenierte, dass er die Unterhaltung mit dem Sachverständigen „über Dinge“ habe beobachten können. Zwar habe er diese wegen der Entfernung „akustisch nicht genau verstehen können“, habe aber deutlich dabei das Wort „Kontrollgruppe“ wahrgenommen. Er bat sodann um Mitteilung des Gesprächsinhalts. Dieser Bitte ist der Vorsitzende nachgekommen und hat Rechtsanwalt Z. mitgeteilt, dass mit dem Sachverständigen „genau über dieses Thema“ (sc. mögliche Verwechslung der Gruppen) gesprochen worden sei und alles, was besprochen worden sei, soeben bekannt gegeben worden sei. Im Fortgang der weiteren Diskussion, die dazu führte, dass der Vorsitzende wiederholt den Inhalt des Gesprächs wiedergab, jedoch eine weitere Stellungnahme ablehnte, äußerte Rechtsanwalt V., dies sei eine Salamitaktik. Der Vorsitzende habe (in dem Gespräch mit dem Sachverständigen Prof. Dr. K.) „wesentliche Teile der Beweisaufnahme durchgespielt“ und dies den Verfahrensbeteiligten „verheimlicht“, dies sei ein „Skandal“, der Vorsitzende betreibe eine „Salamitaktik“, was einem „Teilschweigen eines Beschuldigten“ gleichkomme. Nachdem der Vorsitzende – unter Zurückweisung des Vorwurfs – erklärte, er verwahre sich gegen diese Vorwürfe, und erneut darauf hinwies, dass nunmehr aufgrund einer zwischenzeitlichen Stellungnahme des Sachverständigen zur Zusammensetzung der Kontrollgruppe ausreichend klargestellt sei, was Gegenstand der Besprechung mit dem Sachverständigen gewesen sei, rief Rechtsanwalt V. in den Raum, „… nachdem Sie dies mit ihm geübt haben!“ Daraufhin forderte der Vorsitzende Rechtsanwalt V. erneut und eindringlich auf, die Unterstellung dolosen Verhaltens und den Vorwurf der Manipulation der Beweisaufnahme zu unterlassen. Rechtsanwalt V. erwiderte im weiteren Verlauf der Diskussion gegenüber dem Vorsitzenden, dass dieser sich jetzt „äußerst dünnhäutig“ verhalte und äußerte weiter: „Der getroffene Hund bellt!“.

Die in der Folge gestellten Ablehnungsgesuche der Angeklagten D. und X. wurden mit Beschluss der Kammer vom 00.0.2023 als unbegründet verworfen.

b) Dieses Verhalten von Rechtsanwalt V. ist erneut in erheblicher Weise prozessordnungswidrig, da dieser dem Vorsitzenden zu Unrecht eine Beeinflussung der Beweisaufnahme unterstellt hat. Über den Inhalt des Gesprächs hat der Vorsitzende die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung unverzüglich und vollständig – wie oben wiedergegeben – unterrichtet. Danach bestand kein Grund zu der Annahme, in dem – in Anwesenheit der Sitzungsvertreterin – mit dem Sachverständigen geführten Gespräch sei der weitere Inhalt der Beweisaufnahme vorbesprochen und dem Sachverständigen etwaige Antworten vorgegeben worden. Dies, zumal Rechtsanwalt V. bei dem Gespräch selbst nicht anwesend war und sich lediglich auf die Angaben des Rechtsanwalts Z. stützen konnte, der selbst wiederum angegeben hat, er habe dieses wegen der Entfernung „akustisch nicht genau verstehen können“ und lediglich einige Worte des Gesprächs mitbekommen.

Der vorbezeichnete Vorfall wiegt umso schwerer, als Rechtsanwalt V. bereits zu einem früheren Zeitpunkt dem Vorsitzenden zu Unrecht vorgeworfen hatte, in unlauterer Weise Einfluss auf die Beweisaufnahme nehmen zu wollen, weil er Aktenbestandteile vorenthalten habe. Dieser Behauptung liegt folgendes Geschehen zu Grunde:

In den Hauptverhandlungsterminen vom 00. und 00.0.2022 sollte der Sachverständige T. (geprüfter und zertifizierter Sachverständiger für Foto-/Video-Digitale-Forensik, Identifikation lebender Personen anhand von Lichtbildern und der kriminalistischen Forensik – DGuSV e.V.) sein Gutachten mündlich erstatten. Zur Vorbereitung der Gutachtenerstattung erkundigte sich der Sachverständige insbesondere danach, ob es möglich sei, im Saal seine Präsentation abzuspielen, insbesondere ob der Saal mit entsprechenden Beamern, Leinwänden und Audio-Technik ausgestattet sei. Er gedenke, sein Notebook mitzubringen und von diesem aus die Präsentation durchzuführen. Der Vorsitzende bestätigte dies, da die entsprechende Technik vorhanden sei, wies aber auch darauf hin, dass es möglicherweise zu Kompatibilitätsproblemen zwischen dem PC des Sachverständigen und der Beameranlage kommen könne. Daraufhin schlug der Sachverständige vor, die von ihm in einem gängigen Datenformat angefertigte Video-Präsentation auf einen USB-Stick zu kopieren und diesen für die Präsentation benutzen zu wollen, und zwar dergestalt, dass der Stick in den im Sitzungssaal vorhandenen Arbeitsplatzrechner eingesteckt werden solle, von wo aus dann die Beameranlage angesteuert werden könne. Der Sachverständige T. erschien am 00.0.2022 (28. Hauptverhandlungstermin) vor Aufruf der Sache um 9:15 Uhr im Sitzungssaal. Er übergab dem Vorsitzenden, wie abgesprochen, den mitgebrachten USB-Stick. Dieser wurde dann mit Unterstützung eines ebenfalls anwesenden Mitarbeiters der IT-Abteilung des Landgerichts in den im Saal befindlichen, mit der Beameranlage verbundenen Arbeitsplatzrechner des Vorsitzenden eingesteckt. Zur Erstattung des Gutachtens kam es zunächst nicht, weil die Hauptverhandlung wegen eingetretener Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten D. nicht fortgesetzt werden konnte.

In der Hauptverhandlung am 00.0.2022 (29. Hauptverhandlungstermin) wurde der Sachverständige zu seiner Person befragt und teilte einleitend mit, dass er seine Gutachtenerstattung mit der Präsentation des von ihm erstellten Videos beginnen wolle. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung kam es dann zu einer Diskussion unter den Verfahrensbeteiligten um die prozessuale Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise. Während der Vorsitzende durchgängig die Auffassung vertrat, dass der Sachverständige sich bei seiner Gutachtenerstattung Hilfsmitteln bedienen könne, wozu auch das von ihm gefertigte Video zähle, waren die Verteidiger der Auffassung, eine solche Art der Gutachtenerstattung sei „prozessual unzulässig“, das Gutachten sei mündlich zu erstatten. Neben der Frage, ob der Sachverständige das Video abspielen dürfe, verlagerte sich das Thema der Diskussion auch auf die Frage, ob der von dem Sachverständigen übergebene USB-Stick bzw. das auf diesem vorhandene Video durch Übergabe an den Vorsitzenden Aktenbestandteil geworden sei. Ausgehend von diesem von der Verteidigung eingenommenen Standpunkt wurde beantragt, mit der Gutachtenerstattung nicht vor Gewährung von Akteneinsicht in das Video zu beginnen. Der Vorsitzende erörterte daraufhin mehrfach, wie es zur Anfertigung des USB-Sticks und dessen Übergabe gekommen sei und insbesondere, welcher Zweck hiermit verfolgt werden sollte. Hierbei vertrat der Vorsitzende die Auffassung, dass der USB-Stick bzw. dessen Inhalt kein Aktenbestandteil sei, sondern lediglich ein von dem Sachverständigen zurate gezogenes Hilfsmittel, welches er zur Gutachtenerstattung benutzen wolle. Der Sachverständige habe diesen Stick nicht zur Akte gereicht und auch nicht zur Akte reichen wollen. Vom Inhalt des USB-Sticks habe überdies keiner der Kammermitglieder Kenntnis genommen. In der Folge griff Rechtsanwalt V. die Frage der Akteneinsicht erneut auf und vertrat weiterhin die Ansicht, dass der Vorsitzende den USB-Stick in seiner Eigenschaft als Vorsitzender entgegengenommen habe und er damit ein der Akteneinsicht unterliegender Aktenbestandteil geworden sei. Da dieses bereits mehrfach und umfassend erörterte Thema zum wiederholten Male vorgetragen wurde, äußerte der Vorsitzende gegenüber Rechtsanwalt V., dass er „mal etwas Neues“ beanstanden solle. Zur Verdeutlichung seiner Rolle bei der Entgegennahme des Sticks erklärte der Vorsitzende, dass er bei der Entgegennahme des USB-Sticks nicht in seiner Eigenschaft als Vorsitzender, sondern lediglich als „Handlanger“ des Sachverständigen tätig geworden sei, wobei er hiermit die Erwartung verbunden hat, durch diese Wortwahl ausreichend verständlich gemacht zu haben, dass der Sachverständige den Stick nicht zur Akte reichen, sondern unter Mithilfe des Vorsitzenden nur die technischen Voraussetzungen für die von ihm beabsichtigte Videopräsentation schaffen wollte. Rechtsanwalt V. vertrat die Auffassung, wenn „etwas“ zum Vorsitzenden gelange, sei dies in amtlicher Funktion als Vorsitzender und nicht als „Handlanger“ des Sachverständigen geschehen. Der Stick sei bereits jetzt Aktenbestandteil. Weiter führte Rechtsanwalt V. wörtlich aus:

„… und wenn Sie und die übrigen Richter unserem Mandanten und seinen Verteidigern diese wesentlichen Akten weiterhin vorenthalten würden, vor einer Erstattung des Gutachtens, …“,

was den Vorsitzenden dazu veranlasste, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und Rechtsanwalt V. zu unterbrechen, und zwar mit den Worten:

„… Ich enthalte Ihnen hier überhaupt nichts vor! Lassen Sie diese Unverschämtheiten sein!“ .

Weiter führte der Vorsitzende aus, Rechtsanwalt V. versuche seine Person und auch sein Vorgehen, eine vernünftige technische Projektion zu ermöglichen, durch die Behauptung einer Unterschlagung zu diffamieren. Rechtsanwalt V. stellte u.a. den Antrag, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, damit mit seinem Mandanten erörtert werden könne, ob der Vorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen sei. Im Übrigen führte er seine weiteren Beanstandungen aus, indem er das Verhalten des Vorsitzenden als „erbärmlich“, wie er es noch nie erlebt habe, bezeichnete.

Das in der Hauptverhandlung vom 00.0.2023 gestellte Ablehnungsgesuch der Angeklagten X. und D. wurde durch Beschluss der Kammer vom 00.0.2023 als unbegründet zurückgewiesen.

….“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Einigkeit in einem LG-Bezirk wäre schön

Im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zu rückwirkenden Beiordnung des Pflichtverteidigers, die ich schon ein wenig erstaunlich finde. Nicht wegen der entschiedenen Frage – die ist eben umstritten, sondern:

Dazu kommt ich noch einmal auf den AG Amberg, Beschl. v. 17.10.2023 – 4 Gs 2469/23 jug – zurück, den ich ja heute morgen schon vorgestellt hatte. Darin hat das AG nämlich mit Blick auf die Neureglung des Rechts der Pflichtverteidigung im Anschluss an die RL 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers als möglich angesehen, wenn dessen Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Die entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO hat es abgelehnt. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den Volltext mit der m.E. zutreffenden Begründung.

Erstaunt ist man – zumindest ich – dann, wenn man dann den LG Amberg, Beschl. v. 18.10.2023 – 11 Qs 73/23 – liest. Denn in dem hat das LG die sofortige Beschwerde gegen einen die rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung des AG Amberg (!!) zurück gewiesen. Entschieden hatte zwar eine andere Abteilung des AG – Aktenzeichen war: 6b Gs 1711/23 AG Amberg – aber: Man fragt sich, warum man sich nicht „einigen“ kann? Das würde es den Beschuldigten und Verteidigern sicherlich einfacher machen, wenn die wüssten, woran sie sind. So haben wir ein Hin und Her. Und das dann auch noch bei einem LG, dass nach Aufhebung der rückwirkenden Bestellung davon ausgeht – zumindest davon ausgegangen ist – das damit dann auch der Gebührenanspruch des Verteidigers nachträglich wegfällt, was das OLG Nürnberg zum Glück dann anders gesehen hat (vgl. hier).

„Schön“ übrigens auch die Ausführungen des LG zur „Unverzüglichkeit“:

„Der Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidiger erfolgte am 22.06.2023, die Entscheidung über die Ablehnung der Beiordnung als Pflichtverteidiger erging am 21.07.2023. Selbst wenn danach entgegen § 142 Abs. 1 S. 2 StPO der Antrag nicht unverzüglich und auch erst auf Nachfrage dem Gericht vorgelegt worden sein sollte – worüber vorliegend nicht entschieden werden muss – kann von einer wesentlichen Verzögerung der Entscheidung über den Beiordnungsantrag (noch) keine Rede sein.“

Man fragt sich: Wann denn dann?

Pflichti I: Vier Beiordnungsgrund-Entscheidungen, oder: Gesamtstrafe, Beweisverwertung und Waffengleichheit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und heute ist es dann mal wieder so weit, es ist „Pflichti-Tag“, den ich hier mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen eröffne. Dazu stelle ich vor:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge erfordert eine Pflichtverteidigerbestellung dann, wenn eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und darüber hinaus zu erwarten ist.

Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen.

Die analoge Anwendung des § 140 Abs. Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagte, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, kommt nicht in Betracht.

Von einer Schwierigkeit der Rechtslage ist bereits dann auszugehen, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.

Haft III: Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe, oder: Kann der Verurteilte die Geldstrafe nicht sofort zahlen?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und zum Schluss des Tages dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 13.04.2023 – 3 Ws 99/23 – zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.

Wegen der Einzelheiten des (umfangreichen) Sachverhalts verweise ich auf den verlinkten Volltext. Es geht um eine durch einen Strafbefehl wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis festgesetzte Geldstrafe von 140 Tagessätzen zu je 10 EUR, die der Verurteilte nicht gezahlt hat, so dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet worden ist. Dagegen die sofortige Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.

1. Die sofortige Beschwerde hat bereits deshalb keinen Erfolg, weil nach Beginn der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe – wie von dem Landgericht Bielefeld in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt – für die Anwendung der §§ 459a Abs. 1 StPO, 42 S. 1 StGB kein Raum mehr ist. Vielmehr kann die weitere Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nur aus den in § 459e Abs. 4 StPO genannten Gründen unterbleiben, vorliegend also namentlich dann, wenn der Verurteilte die nach der inzwischen bereits weitgehend erfolgten Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe verbleibende Restgeldstrafe entrichtet.

Die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe ist in § 459e StPO geregelt. Dabei setzt die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch die Vollstreckungsbehörde gemäß § 459e Abs. 2 StPO voraus, dass die Geldstrafe nicht eingebracht werden kann oder die Vollstreckung nach § 459c Abs. 2 StPO unterbleibt (was wiederum dann der Fall ist, wenn zu erwarten ist, dass die Beitreibung der Geldstrafe in absehbarer Zeit zu keinem Erfolg führen wird). Werden dem Verurteilten Zahlungserleichterungen gemäß §§ 459a Abs. 1 StPO, 42 S. 1 StGB bewilligt, fehlt es an der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. September 2015 – 2 Ws 472/15 -, BeckRS 2015, 16545), was der Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe entgegensteht. Ist die Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe demgegenüber erfolgt und der Verurteilte bereits inhaftiert, findet die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nach dem eindeutigen Wortlaut des § 459e Abs. 4 StPO ausschließlich dann nicht statt, wenn die Geldstrafe entrichtet oder beigetrieben wird oder – was vorliegend ersichtlich nicht in Betracht kommt – die Vollstreckung nach § 459d StPO unterbleibt (a.A. Appl in: Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Auflage 2023, § 459a, Rn. 3, der die Gewährung von Zahlungserleichterungen gemäß § 459 Abs. 1 StPO auch nach Beginn der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe noch für möglich hält, sich indessen aber nicht mit dem entgegenstehenden Wortlaut des § 459e Abs. 4 StPO auseinandersetzt). Abgesehen von dem eindeutigen Wortlaut des § 459e Abs. 4 StPO sprechen darüber hinaus aber auch Erwägungen der Effektivität der Strafverfolgung gegen die Möglichkeit, auch noch nach Beginn der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe Zahlungserleichterungen zu gewähren. So stehen dem Verurteilten im Zuge der Vollstreckung der Geldstrafe – was durch den Verlauf des vorliegenden Vollstreckungsverfahrens eindrucksvoll verdeutlicht wird – umfangreiche Spielräume dahingehend zu, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch die Beantragung von Zahlungserleichterungen und/oder der Tilgung der Geldstrafe durch freie Arbeit abzuwenden. Würde dem Verurteilten, der diese Spielräume nicht erfolgreich nutzt, auch noch nach Beginn der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe die Möglichkeit eingeräumt, (gegebenenfalls – wie vorliegend – auch noch wiederholt) Zahlungserleichterungen zu beantragen, würde dies die repressiv erforderliche Spürbarkeit der ausgeurteilten Strafe in einem mit dem Strafzweck nicht mehr zu vereinbarenden Maße reduzieren. Denn in diesem Fall hätte der inhaftierte Verurteilte die Möglichkeit, die weitere Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe im Ausgangspunkt jederzeit durch die erfolgreiche Beantragung von Zahlungserleichterungen zu verhindern, da er sodann unmittelbar aus der Haft zu entlassen wäre und – gegebenenfalls über Monate hinweg erfolglos – abgewartet werden müsste, ob der Verurteilte nunmehr doch noch gewillt ist, die ausgeurteilte Geldstrafe ratenweise zu entrichten. Einem derart zerstückelten Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe käme nach Auffassung des Senats indessen kein ausreichend spürbarer Strafcharakter mehr zu.

Dahinstehen kann vorstehend im Übrigen, ob der Ansicht des OLG Karlsruhe (Beschluss vom 30. September 2015 – 2 Ws 472/15 -, BeckRS 2015, 16545) zu folgen ist, dass in Abweichung von dem eingangs dargestellten abschließenden Charakter des § 459e Abs. 4 StPO eine Gewährung von Zahlungserleichterungen gemäß §§ 459a Abs. 1 StPO, 42 S. 1 StGB auch nach Beginn der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe ausnahmeweise dann in Betracht kommt, wenn die Staatsanwaltschaft es vor der Anordnung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe fälschlicherweise unterlassen hat, die Bewilligung von Zahlungserleichterungen zu prüfen. Denn vorliegend hat der Verurteilte bereits am 08. Juni 2022 einen Antrag auf Gewährung von monatlichen Ratenzahlungen gestellt, welcher von der Staatsanwaltschaft geprüft und am 27. Juli 2022 (abschlägig) beschieden worden ist.

2. Abgesehen davon ist aber auch nicht festzustellen, dass dem Verurteilten nach seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten ist, die Geldstrafe sofort zu zahlen.

Gemäß § 42 S. 1 StGB gestattet das Gericht dem Verurteilten, die Geldstrafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen, wenn dem Verurteilten nach seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten ist, die Geldstrafe sofort zu zahlen. Nach Rechtskraft des Urteils entscheidet gemäß § 459a Abs. 1 StPO die Vollstreckungsbehörde über die Bewilligung von Zahlungserleichterungen bei Geldstrafen. Dabei ist die Zahlungserleichterung schon nach dem eindeutigen Wortlaut des § 42 S. 1 StGB zwingend zu gewähren, wenn die sofortige Zahlung der Geldstrafe unzumutbar ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 27.04.1993 – 3 Ws 48/93 -, LSK 1993, 410316; Appl, a.a.O., § 459a, Rn. 3 f.; Coen in: BeckOK, 46. Edition Stand 01.01.2023, § 459a, Rn. 2; Nestler in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Auflage 2019, § 459a, Rn. 8 f.). Dabei gilt der Amtsaufklärungsgrundsatz, eine Vortrags- oder Beweislast des Verurteilten besteht nicht (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.09.2015 – 2 Ws 472/15 -, BeckRS 2015, 16545; Appl, a.a.O.; Coen, a.a.O.; Nestler, a.a.O.). Allerdings braucht die Vollstreckungsbehörde nicht zu Gunsten des Verurteilten Unzumutbarkeitsgründe zu unterstellen, für deren tatsächliches Vorliegen sie keine konkreten Anhaltspunkte hat (Coen, a.a.O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist zu konstatieren, dass der Verurteilten nach dem von ihm eingereichten Bescheid der Stadt A. vom 01. April 2022 jedenfalls bis zu einer Inhaftierung Leistungen nach SGB II i.H.v. monatlich 1.112 Euro bezog. Konkrete Anhaltspunkte für hiervon – mit Blick auf die Frage der Zumutbarkeit der sofortigen Zahlung der Geldstrafe – etwaig in Abzug zu bringende Belastungen liegen nicht vor; insbesondere hat der Verurteilte weder das seinem Verteidiger übersandte Formular „Einkommensauskunft“ ausgefüllt noch an anderer Stelle (selbst und/oder über seinen Verteidiger) irgendwie geartete konkrete Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht. Schon angesichts dessen fehlt es in Anbetracht der Höhe des Leistungsbezugs des Verurteilten an konkreten Anhaltspunkten dahingehend, dass der Verurteilte bis zu seiner Inhaftierung nicht in der Lage gewesen sein könnte, die Geldstrafe zu zahlen. Dabei ist mit Blick auf die Prüfung der Zumutbarkeit der sofortigen Zahlung nämlich zu berücksichtigen, dass es zur Vollstreckung der Geldstrafe erfahrungsgemäß erst geraume Zeit nach Rechtskraft der Entscheidung kommt, da es wegen der Nachbearbeitung bei Gericht etwas Zeit in Anspruch nimmt, bis die Akten an die Vollstreckungsbehörde zurückgelangen, von der dann erst die Vollstreckung eingeleitet werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 05. Juni 2014 – III-1 RVs 48/14 -, juris; Urteil vom 06. Januar 2015 – III-1 RVs 112/14 -, juris). Insoweit kann berücksichtigt werden, ob der Verurteilte – wenn er Kenntnis von seiner (rechtskräftigen) Zahlungsverpflichtung erhält – die Möglichkeit hat, die Geldstrafensumme bis zur voraussichtlichen Vollstreckung anzusparen; hat er diese Möglichkeit, so ist ihm die Zahlung der Gesamtsumme zumutbar (OLG Hamm, a.a.O.). Vorliegend ist der Strafbefehl des Amtsgerichts Essen seit dem 22. Februar 2022 rechtskräftig, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe hat demgegenüber erst am 15. Dezember 2022 begonnen. Da zwischen der Rechtskraft der Verurteilung und dem Beginn der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe mithin ein Zeitraum von knapp zehn Monaten lag, ist in Anbetracht der Höhe des Leistungsbezugs des Verurteilten nicht anzunehmen, dass es dem Verurteilten nicht möglich gewesen sein soll, die Geldstrafensumme inzwischen anzusparen.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist die Entscheidung, dem Verurteilten keine Zahlungserleichterungen gemäß §§ 459a Abs. 1 StPO, 42 S. 1 StGB zu bewilligen, nicht zu beanstanden. Dies gilt zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Senats umso mehr, als nach dem vorliegenden Vollstreckungsblatt der Justizvollzugsanstalt J. (Bl. 117 der Akte) die Ersatzfreiheitstrafe von 140 Tagen am 03. Mai 2023, mithin in 20 Tagen, vollständig verbüßt sein wird. Da gemäß § 43 S. 2 StGB ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe einem Tagessatz Geldstrafe entspricht, zur Abwendung der weiteren Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 459e Abs. 4 S. 1 StPO also aktuell nur noch eine Restgeldstrafe von 200 Euro zu entrichten wäre, ist es auf der Basis der behördlichen bzw. gerichtlichen Erkenntnisse zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verurteilten erst recht fernliegend anzunehmen, dass es ihm bis zu seiner Inhaftierung nicht einmal möglich gewesen sein soll, diesen verbleibenden Restbetrag anzusparen.“

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch dem OLG nicht

Bild von Steve Buissinne auf Pixabay

Ich hatte im September über den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392/23 – berichtet (vgl. hier Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht). Dazu liegt jetzt die Beschwerdeentscheidung vor. Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2023 – 1 Ws 233/23 – die Beschwerde der StA gegen die Aufhebung des haftbefehls verworfen:

„Gemäß § 112 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO darf gegen den Angeschuldigten Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn er dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechts-ordnung schwerwiegend beeinträchtigende dem Katalog zu entnehmende Straftat begangen zu haben und bestimmte Tatsachen, die Gefahr begründen, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde. Gleichzeitig muss die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein.

Die Kammer hat in ihrer Begründung ausgeführt, dass es bereits an einer Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO fehlen dürfte, da § 30 a Abs. 2 BtMG in der abschließenden Aufzählung des Katalogs nicht aufgeführt sei und sich eine Analogie verbiete. Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft unter Benennung der Bundestagsdrucksachen 459/03 vom 2. Juli 2023 und 24/11 vom 18. Januar 2011 eingewandt, dass die Berichtigung der Zitierweise bzw. die Berichtigung eines redaktionellen Versehens bezüglich § 30 a Abs. 2 BtMG bereits angestrebt wurde und vor dem Hintergrund der nachträglichen Einführung und des Wortlautes „ebenso bestraft“ eine Gleichstellung mit § 30 a Abs. 1 BtMG anzunehmen sei.

Ob eine entsprechende Anwendung des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO überhaupt in Betracht käme und der Straftatbestand des § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG bei entsprechender Anwendung eine Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO darstelle, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da jedenfalls, was die Kammer auch erkannt hat, das Grunddelikt des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG im dringenden Tatverdacht impliziert ist.

Der Haftbefehl war allerdings aufzuheben, weil die hier wiederholt begangenen Anlasstaten entgegen der Ausführungen der Staatsanwaltschaft zu keiner schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung geführt haben. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung liegt dann vor, wenn die Anlasstat einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt auf-weist (OLG Hamm, Beschluss vom 1. April 2010 Az.: 3 Ws 161/10) und dadurch geeignet ist, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in Sicherheit und Rechtsfrieden zu beeinträchtigen (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Februar 2010 – III-2 Ws 18/10). Es muss sich daher um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat (BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 Az.: 2 BvL 4/73). Daher kann nicht ausschließlich auf die Straferwartung, welche bei den Katalogtaten des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits die generelle schwerwiegende Natur begründet, abgestellt werden. Vielmehr sind auch die Umstände der Tat im Einzelfall heranzuziehen. Der Haftgrund der Wiederholungs-gefahr dient nicht Sicherung des Strafverfahrens, sondern dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, weswegen das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit dem Freiheitsanspruch des bislang nur Angeschuldigten überwiegen muss.

Dem Angeschuldigten wird mit der vorliegenden Anklage zum einen vorgeworfen, im Schlafzimmer seiner Wohnung in Kiel am 13. Juli 2023 insgesamt 8,21 g Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu den Betäubungsmitteln ein Klappmesser -im Fernseher-regal-, eine Machete -auf dem Kleiderschrank- und ein Baseballschläger -zwischen Kleiderschrank und Regal, in dem ein Großteil des Kokains festgestellt werden konnte -vorgehalten zu haben. Des Weiteren wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, am 2. Juli 2023 einem Abnehmer 0,5 g Kokain verbindlich zum Kauf angeboten und am 5. Juli 2023 Verkaufsverhandlungen über den Erwerb von 100 g Marihuana zum Zweck des Weiterverkaufs geführt zu haben. Die Geschäftsanbahnungen sind jeweils über Chat erfolgt. Jede dieser Taten und insbesondere die Tat am 13. Juli 2023 hat nach außen hin keine Wirkung auf die Bevölkerung entfaltet. Es ist durch sie auch kein Schaden angerichtet worden, der nach Art und Umfang geeignet wäre, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in die Sicherheit und den Rechtsfrieden zu beeinträchtigen. Auch, dass der Angeschuldigte bei Tatbegehung wegen einer gleichartigen Tat unter laufender Bewährung stand, vermag daran nichts zu ändern.

Andere Haftgründe sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.“