Schlagwort-Archiv: Strafaussetzung zur Bewährung

StPO III: Entscheidung über Strafaussetzung steht an, oder: Anwesenheit des Angeklagten erforderlich?

Und dann zum Abschluss des Tages noch der OLG Köln, Beschl. v. 17.09.2025 – III-1 ORs 176/25. Der behandelt eine Frage aus dem Berufungsverfahren, nämlich Erforderlichkeit der Anwesenheit in der Berufungshauptverhandlung.

Das AG hat den Angeklagten am 14.02.2023 u.a. wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die erkannte Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Das LG hat dann Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten. Das OLG hat auf diese mit Beschluss vom 29.10.2024 (III-1 ORs 158/24) das Urteil teilweise abgeändert und u.a  im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben. Das LG hat dann den Angeklagten nach Teileinstellung zu Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der dieser u.a. geltend macht, die Berufungsverhandlung habe nicht ohne den Angeklagten erfolgen dürfen, weil im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzungsfrage ein persönlicher Eindruck von diesem unabdingbar gewesen wäre. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel hat Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz. Die Revision rügt in einer § 344 Abs. 2 S. 2 StPO noch genügenden Form und in der Sache zu Recht eine Verletzung von § 329 Abs. 2 S. 1 2. Alt. StPO.

Nach der genannten Vorschrift findet die Hauptverhandlung auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft ohne den nicht genügend entschuldigten Angeklagten statt, wenn seine Abwesenheit nicht erforderlich ist.

1. Die Rüge ist unter Berücksichtigung des Vortrags in der Revisionsbegründung, des Inhalts der dem Senat auf die zugleich erhobene Sachrüge zugänglichen Urteilsgründe sowie der von diesem im Rahmen der Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Aktenbestandteile zulässig erhoben:

Den Umstand, dass die Hauptverhandlung (nur) auf die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung stattfand hatte der Senat im Rahmen der Prüfung einer etwa der Berufungsentscheidung entgegenstehenden Rechtskraft der amtsgerichtlichen Entscheidung von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen.

Mit der Revisionsbegründung wird vorgetragen, dass die Berufungshauptverhandlung ohne den Angeklagten stattgefunden habe; dass dieser trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen ist, lässt sich den Gründen des landgerichtlichen Urteils entnehmen.

Zur Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten heißt es in der Revisionsbegründung immerhin, dass sich die Kammer im Rahmen der Entscheidung über die Aussetzungsfrage einen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten hätte verschaffen müssen.

2. Die Rüge ist auch begründet:

Die Berufungsstrafkammer führt zur Frage der Erforderlichkeit der Anwesenheit des Angeklagten (s. zur diesbezüglichen Begründungspflicht OLG Brandenburg – Beschl. v. 09.09.2019 – (1) 53 Ss 108/19 (63/19) – Juris Tz. 10; im Zusammenhang mit einem Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 4 StPO auch OLG Jena Beschl. v. 01.10.2019 – 1 OLG 161 Ss 83/19 – Juris) aus, dass „keine Gesichtspunkte bekannt geworden (seien), die die Anwesenheit des Angeklagten erforderlich gemacht hätten“. Zudem sei der Angeklagte verteidigt gewesen. Das genügt nicht, um dem Senat einsichtig zu machen, dass die Berufungshauptverhandlung ohne den Angeklagten stattfinden durfte.

a) Die Frage, ob die Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung erforderlich ist, ist verbreiteter Auffassung zufolge nach den Maßstäben der tatrichterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu beantworten (BayObLG Beschl. v. 20.03.2024 – 204 StRR 77/24 = BeckRS 29024, 5361 Tz. 33; MüKo-StPO-Quentin, 2. Auflage 2024, § 329 Rz. 80; BeckOK-StPO-Eschelbach, 56. Ed. Stand 01.07.2025, § 329 Rz. 47; sehr weitgehend OLG Hamburg, Beschl. v. 21.10.2016 – 1 Rev 57/16 = NStZ 2017, 607 [608]: die Anwesenheit des Angeklagten sei nur in wenigen Ausnahmefällen, nämlich nur dann nicht erforderlich, wenn sich „Fragen der Tatschuld oder der Straße nicht oder nicht mehr“ stellten; krit. Sommer StV 2016, 55). Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ist daher danach zu fragen, ob sich die Berufungsstrafkammer dazu gedrängt sehen musste, sich der Person des Angeklagten zu versichern. Das ist der Fall:

b)aa) Freilich führt nicht bereits der Umstand, dass das Berufungsgericht über eine Strafmaßberufung der Staatsanwaltschaft zu entscheiden hatte ohne weiteres dazu, dass nicht ohne den Angeklagten hätte verhandelt werden dürfen (so die Konstellation in Senat Beschl. v. 17.06.2011 – III-1 RVs 140/11 = StraFo 2011, 360; Schmitt/Köhler-Schmitt, StPO, 68. Auflage 2025, § 329 Rz. 36). Nach Aufhebung und Zurückverweisung auf die alleinige Revision des Angeklagten verbot § 358 Abs. 1 StPO im neuen Rechtsgang eine höhere Bestrafung als ein Jahr und sechs Monate Gesamtfreiheitsstrafe.

bb) Bereits die Entwurfsbegründung ging indessen davon aus, dass dem persönlichen Eindruck bei der Frage der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung besondere Bedeutung beigemessen werde (BT-Drucks. 18/3562, S. 47 und S. 73 unter Hinweis auf OLG Hamm StV 1997, 346 und OLG Karlsruhe NStZ-RR 2004, 21 [22]), wobei jedoch auch in diesem Fall eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten erfolgen könne, wenn das Berufungsgericht seine Anwesenheit nicht für Zwecke einer besseren Beurteilung der für die Entscheidung über eine Strafaussetzung maßgeblichen Tatsachen für erforderlich halte (BT-Drucks. 18/3562, S. 73; BayObLG Beschl. v. 20.03.2024 – 204 StRR 77/24 = BeckRS 2024, 5361; KK-StPO-Paul, 9. Auflage 2023, § 329 Rz. 11b; Schmitt/Köhler-Schmitt a.a.O.; Frisch NStZ 2015, 69 [72f.]).

Danach erwies sich hier die Anwesenheit des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung als erforderlich. Das Verteidigungsziel bestand in der Aussetzung der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung. Zwischen erster und zweiter Berufungshauptverhandlung waren – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift mit Recht hingewiesen hat – deutlich mehr als eineinhalb Jahre verstrichen. Neue Verurteilungen in dieser Zeit sind ausweislich der Urteilsgründe nicht bekannt geworden. Ergänzende Angaben zu den aktuellen Lebensverhältnissen des Angeklagten konnte der anwesende Verteidiger nicht machen. Diese Umstände mussten die Kammer dazu drängen, sich im Hinblick auf die Aussetzungsfrage einen eigenen aktuellen Eindruck von dem Angeklagten zu verschaffen, was nach Lage der Dinge nur durch dessen Anwesenheit zu gewährleisten war.

Etwas anderes ergibt sich für den vorliegenden Fall auch nicht aus dem Umstand, dass aufgrund des Senatsbeschlusses vom 29. Oktober 2024 die zweite (unbedingte) Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten aus dem Urteil der 4. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aachen vom 18. Oktober 2023 rechtskräftig und grundsätzlich isoliert vollstreckbar war. Dieser Umstand ist angesichts der vorerwähnten Gegebenheiten ebenso wenig geeignet, die Aussetzungsfrage zu präjudizieren wie es die Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in einem anderen Verfahren gewesen wäre.“

Vollzug/Vollstreckung II: Bewährungsaussetzung, oder: Mitwirkungsrecht der JVA bei der Anhörung des SV

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Als zweite Entscheidung dann etwas Verfahrensrechtliches, und zwar den OLG Hamm, Beschl. v. 27.05.2025 – 1 Ws 106/25.

Der Verurteilte ist wegen eines an seiner Ehefrau begangenen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Am 05.11.2022 waren 15 Jahre der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe verbüßt. Nach seiner Festnahme im Jahr 2007 befand sich der Verurteilte zunächst in Untersuchungshaft. Nachdem er das Einweisungsverfahren in der JVA J. durchlaufen hatte, wurde er am 06.11.2015 in die JVA C. verlegt.

Diese hat am 26.07.2022 zur Frage der bedingten Entlassung des Verurteilten Stellung genommen. Die Strafvollstreckungskammer hat zur Frage des Fortbestehens der durch die Tat zutage getretenen Gefährlichkeit ein Gutachten des Sachverständigen W. eingeholt, das dieser zunächst wegen der fehlenden Bereitschaft des Verurteilten, sich explorieren zu lassen, nach Aktenlage erstattete. Letztlich erklärte sich der Verurteilte nach Erstellung des Gutachtens vom 07.02.2023 mit einer Exploration durch den Sachverständigen einverstanden. Nach Fertigstellung des ergänzenden Gutachtens am 10.08.2023 bestimmte der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer einen Termin zur Anhörung des Sachverständigen auf den 21.11.2023, zu dem der Verurteilte, seine Verteidigerin und der Sachverständige geladen wurden. Die Staatsanwaltschaft erhielt eine Terminsnachricht. Nach Anhörung des Sachverständigen in Gegenwart seiner Verteidigerin ergänzte der Sachverständige sein Gutachten am 18.04.2024 nochmals schriftlich. Der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer bestimmte sodann einen weiteren Termin zur Anhörung des Sachverständigen auf den 16.12.2024, zu dem der Verurteilte, seine Verteidigerin und der Sachverständige geladen wurden. Die Staatsanwaltschaft erhielt wiederum eine Terminsnachricht. Im Anhörungstermin – zu dem der Verurteilte, seine Verteidigerin und der Sachverständige erschienen – erläuterte der Sachverständige nochmals sein Gutachten.

Durch Beschluss vom 11.02.2025 lehnte die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe ab, da auf Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen davon auszugehen sei, dass die Gefahr bestehe, dass die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Dagegen die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„1. Die angefochtene Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Entgegen § 454 Abs. 2 S. 3 StPO hat es die Strafvollstreckungskammer unterlassen, der Vollzugsanstalt jeweils Gelegenheit zur Mitwirkung bei den mündlichen Anhörungen des Sachverständigen zu geben, obwohl sie dessen gutachterliche Stellungnahme bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt – und folglich im Sinn des § 454 Abs. 2 S. 1 StPO verwandt – hat (vgl. Senat, Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; Beschluss vom 24.04.2012 – 1 Ws 145/12, juris m.w.N.). Gemäß § 454 Abs. 2 S. 3 StPO ist der Sachverständige zwingend mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, einem etwa vorhandenen Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist. Auf diese Weise soll den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gegeben werden, das Gutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (Senat, Beschluss vom 07.04.2025 – III – 1 Ws 76/25; OLG Hamm, Beschluss vom 24.07.2008, – 3 Ws 262/08).

Das Landgericht hat das Mitwirkungsrecht der Vollzugsanstalt bei der nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO gebotenen mündlichen Anhörung des Sachverständigen in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Dieses Mitwirkungsrecht geht über ein bloßes Anhörungsrecht hinaus. Mit der mündlichen Erörterung des Prognosegutachtens in Anwesenheit der in § 454 Abs. 2 S. 3 StPO genannten Verfahrensbeteiligten und einem gesetzlich verankerten Frage- und Erklärungsrecht der an der Anhörung Beteiligten soll der Anhörungstermin Gelegenheit bieten, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (vgl. vgl. auch BT-Drs. 13/9062 S. 13). Damit soll auch der Sachverhalt umfassend aufgeklärt werden, wobei nicht auszuschließen ist, dass dies im Einzelfall zu einer Änderung der Prognoseeinschätzung des Sachverständigen führen kann (vgl. OLG Nürnberg Beschl. v. 22.1.2024 – Ws 1178/23, BeckRS 2024, 4236 (zur unterlassenen Beteiligung der Staatsanwaltschaft)). Insbesondere die Vollzugsanstalt kann – aufgrund der tatsächlich bestehenden Nähe zu den aktuellen Lebensverhältnissen des Verurteilten – ganz maßgeblich zu einem Erkenntnisgewinn beitragen. Dies gilt insbesondere auch in der Interaktion mit dem Sachverständigen unter Beteiligung des Verurteilten und seiner Verteidigerin. Dieser gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung hat sich die Strafvollstreckungskammer begeben und – soweit es die Erkenntnisse der Vollzugsanstalt betrifft – bei der Entscheidungsfindung zudem allein auf die (ersichtlich zeitlich überholte) Stellungnahme der Vollzugsanstalt vom 26.02.2022 abgestellt.

2. Der vom Beschwerdegericht nicht behebbare Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal. Eine Sachentscheidung durch den Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO ist in Ermangelung der vorliegend gebotenen, aber unterbliebenen Beteiligung der Vollzugsanstalt bei der Anhörung des Sachverständigen nicht veranlasst. Dem steht auch nicht § 308 Abs. 2 StPO entgegen, wonach das Beschwerdegericht selbst Ermittlungen vornehmen kann. Vielmehr ist § 309 Abs. 1 StPO insoweit vorrangig (Senat, Beschluss vom 19. März 2019 zu III-1 Ws 145/19; OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317, 318), nach dessen Rechtsgedanken die Entscheidung über die Beschwerde ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss ergeht. Danach ist eine mündliche Verhandlung dem Beschwerdeverfahren fremd (vgl. OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317, 318 zu der nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO gebotenen mündlichen Sachverständigenanhörung). Denn Sinn des Beschwerdeverfahrens ist nicht die Durchführung eigener Ermittlungen, sondern die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen mit der Möglichkeit aus § 308 Abs. 2 StPO, für diese Überprüfung notwendige ergänzende Ermittlungen durchzuführen (Senat, a.a.O.; Matt, in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 309 Rn. 12).“

Strafe II: Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs, oder: Versuchsmilderung nach Gesamtwürdigung

© rcx – Fotolia.com

Als zweite Entscheidung stelle ich dann das OLG Braunschweig, Urt. v. 14.07.2025 – 1 ORs 20/25 – zur Strafzumessung bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchtem schweren sexuellen Missbrauch von Kindern vor.

Der Angeklagte ist im Berufungsverfahren, nachdem vom AG eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten festgesetzt worden war, vom LG noch zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft und die des Nebenklägers, die keinen Erfolg hatte. Das landgerichtliche Urteil hat beim OLG auch hinsichtlich der Strafzumessung Bestand. Das begründet das OLG recht umfangreich:

„2. Der Strafausspruch hält den Angriffen der Revisionen ebenfalls stand.

Die Kammer hat ihrer Strafzumessung zu Recht den Strafrahmen des § 176 Abs. 1 StGB zugrundegelegt, da dieser im vorliegenden Fall nach der Milderung des Strafrahmens des § 176c Abs 1 StGB gem. §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB die schwerste Strafe androht (§ 52 Abs. 2 Satz 1 StGB). Der Strafrahmen des § 176 Abs. 1 StGB ist identisch mit dem Strafrahmen der zugleich verübten sexuellen Nötigung gem. § 177 Abs. 5 StGB.

Die Entscheidung der Kammer, eine Verschiebung des Strafrahmens des § 176c Abs. 1 Nr. 2a StGB gem. §§ 23, 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen, weist keine durchgreifenden Rechtsfehler auf.

Liegt ein Versuch vor oder ist das nach dem Grundsatz in dubio pro reo nicht auszuschließen, hat der Richter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, ob er den milderen Sonderstrafrahmen zugrunde legen will. Aus den Urteilsgründen muss hervorgehen, dass ihm die Möglichkeit der Strafmilderung bewusst war und dass er sie erwogen hat. Auch muss das Urteil verdeutlichen, von welchem Strafrahmen die Kammer ausgegangen ist. Die formelhafte Wendung, die Strafe sei wegen Versuchs gemildert worden, genügt nicht, denn sie gibt nicht zu erkennen, von welchem Strafrahmen ausgegangen und was der Milderung zugrunde gelegt worden ist. (vgl. Murmann in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl., § 23, Rn. 43).

Die Begründung für oder gegen eine Strafrahmenmilderung muss erkennbar machen, dass die hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte Beachtung gefunden haben und in die Abwägung einbezogen wurden. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist eine Gesamtschau aller tat- und täterbezogenen Faktoren vorzunehmen, die neben der Persönlichkeit des Täters die Tatumstände im weitesten Sinne insbesondere die versuchsbezogenen Gesichtspunkte einbezieht wie die Nähe zur Tatvollendung, die Gefährlichkeit des Versuchs und die eingesetzte kriminelle Energie (vgl. nur BGH, Urteil vom 6. September 1989, 2 StR 353/89, juris, Rn. 12; Urteil vom 15. Juni 2004, 1 StR 39/04, juris, Rn. 10; Urteil vom 22. November 2017, 2 StR 166/17, juris, Rn. 17).

Diesen Anforderungen ist die Kammer, auch eingedenk des begrenzten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs, nach dem die Entscheidung des Tatgerichts bis zur Grenze der Vertretbaren hinzunehmen ist (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juni 2004, 1 StR 39/04, juris, Rn. 14), gerecht geworden.

Die Kammer hat alle wesentlichen Gesichtspunkte, die für oder gegen eine Versagung der Versuchsmilderung sprechen können, gesehen und gewertet.

Sie hat ausgeführt, sie habe zunächst die relative Nähe zum Taterfolg berücksichtigt. Der Angeklagte habe bereits den nackten Penis zwischen die nackten Pobacken des Kindes gedrückt und sein Glied dazwischen hin- und hergerieben. Gleichwohl habe sie (auch) in die Bewertung einbezogen, dass der Angeklagte bei der Tat nicht alle für die Herbeiführung des Erfolges erforderlichen Handlungen unternommen habe. So habe er keine Hilfsmittel verwendet, habe nicht mit der Hand oder den Fingern nachgeholfen, was die Herbeiführung des Taterfolges hätte begünstigen können, sein Penis sei bei der Tat nicht vollständig erigiert gewesen und es habe sich insgesamt um einen wenige Minuten dauernden Übergriff gehandelt. Erschwerend hat die Kammer weiter berücksichtigt, dass sich der Übergriff im familiären und vertrauten Umfeld des Jungen ereignet habe, wobei der Angeklagte bewusst das Vertrauen des Kindes und dessen Mutter ausgenutzt habe. Daneben hat die Kammer auch die Tatfolgen für das Kind (Beeinträchtigungen in seiner Lebensführung in den darauffolgenden Wochen und Monaten, Traumatherapie, kurzfristiger Vertrauensverlust zu anderen ihm nahestehenden Personen [z.B. dem Großvater], nicht altersentsprechendes Sexualverhalten) sowie die Folgen für die Eltern des Kindes berücksichtigt. Schließlich hat die Kammer erschwerend das deutlich unter der Schutzaltersgrenze liegende Alter des neunjährigen Kindes, die große Berührungsintensität, die Nichtverwendung eines Kondoms und die tateinheitliche Verwirklichung von drei Tatbeständen berücksichtigt, wobei insbesondere die durch das Festhalten des Jungen angewendete Gewalt den Unrechtsgehalt der Tat gesteigert habe, auch wenn das Kind allenfalls leichte Schmerzen verspürt habe.

Jedoch seien – so die Kammer – bei der anzustellenden Gesamtabwägung gewichtige Umstände für den Angeklagten zu berücksichtigen, nämlich dass es sich um einen spontan gefassten Tatentschluss gehandelt habe, der Angeklagte die Tat nicht vorbereitet und einen Tatort in der Öffentlichkeit gewählt habe, an dem Entdeckungsgefahr bestanden habe, so dass die Kammer die kriminelle Energie des Angeklagten als verhältnismäßig gering einschätze. Für den Angeklagten spreche weiter, dass er weder vor noch nach der Tat strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, die Tat längere Zeit (2 Jahre 5 Monate) zurückliege und sich der Angeklagte in der Berufungsverhandlung vollständig und uneingeschränkt geständig eingelassen habe, was zwar erst zu einem recht späten Zeitpunkt des Verfahrens geschehen sei, aus Sicht der Kammer aber auch die bereits stattgefundene Reflexion seines Fehlverhaltens zeige. Auch habe er Umstände der Tat eingeräumt, deren Nachweis ohne seine geständige Einlassung deutlich erschwert gewesen wären. Er habe sich in der Berufungshauptverhandlung für die Tat entschuldigt und als Beitrag zur Wiedergutmachung des Schadens eine Zahlung von 6.000,- € angeboten. Er habe freiwillig über den Zeitraum von zwei Jahren eine Psychotherapie absolviert, wenngleich es sich nicht um eine Sexualtherapie oder um eine Behandlung gehandelt habe, die allein auf eine spezifische Aufarbeitung des gegenständlichen sexuellen Übergriffs gerichtet gewesen sei. Indes sei auch der inkriminierte Sachverhalt im Rahmen der Behandlung zur Sprache gekommen, worin jedenfalls zum Ausdruck komme, dass der Angeklagte bereit sei, sich mit sich und seiner Tat auseinanderzusetzen. Der Angeklagte sei auch weiterhin therapiebereit. Als Ersttäter sei der Angeklagte besonders haftempfindlich; aufgrund des außer Vollzug gesetzten Haftbefehls habe ihm eine freiheitsentziehende Maßnahme unmittelbar gedroht. Schließlich sei die Tat auch für den Angeklagten nicht ohne Folgen geblieben. Er habe seine Wohnung verloren und sei innerhalb der Verwandtschaft aufgrund der Tat weitgehend isoliert.

Wenn die Kammer nach alldem eine Strafmilderung nach den §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB vorgenommen hat, hat der Senat als Revisionsgericht dies hinzunehmen. Rechtsfehler, die ein Eingreifen durch den Senat ermöglichen und notwendig machen würden, lässt die Entscheidung der Kammer für eine Versuchsmilderung nicht erkennen.

Soweit die Staatsanwaltschaft meint, eine größere Nähe zur Vollendung eines schweren sexuellen Missbrauchs sei nicht vorstellbar, zudem habe die Kammer keine Feststellungen dahingehend getroffen, dass dem Angeklagten überhaupt Hilfsmittel wie z.B. eine Gleitcreme zur Verfügung gestanden hätten, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die Kammer hat in dem Zusammenhang u.a auch darauf abgestellt, dass der Angeklagte weder seine Hand noch seine Finger zu Hilfe genommen habe, um, wenngleich das so von der Kammer nicht ausdrücklich bezeichnet wird, indes aus dem Zusammenhang geschlossen werden kann entweder seinem Penis die richtige Richtung bzw. mehr Druck zu geben oder den Anus des Jungen zu weiten oder seine eigene Erektion zu verstärken. Dies wäre dem Angeklagten auch während des nur wenige Minuten dauernden Übergriffs möglich gewesen, so dass der von der Generalstaatsanwaltschaft gesehene vermeintliche Widerspruch nicht besteht. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft weiter darauf abstellt, dass der Penis des Angeklagten nach den Feststellungen der Kammer nicht vollständig erigiert war, es ihm mithin gar nicht möglich gewesen sei, eine Tatvollendung überhaupt zu erreichen, hätte er dazu wie ausgeführt seine Hand zu Hilfe nehmen können.

Soweit die Staatsanwaltschaft darauf abstellt, die Kammer habe außer Acht gelassen, dass der Nebenkläger mehrfach bekundet habe, der Penis des Angeklagten sei „in seinem Po“ bzw. „in dem Loch“ gewesen, verkennt sie, dass die Kammer dies ausweislich ihrer Beweiswürdigung gerade nicht feststellen konnte. Solche Umstände dürfen dann bei der Abwägung im Rahmen der Strafzumessung ebenfalls nicht verwendet werden. Gleiches muss für das subjektive Empfinden des Tatopfers gelten. Wenn eine Tat nach den Urteilsfeststellungen nicht vollendet worden ist, ist dies auch bei der Abwägung zugrunde zu legen. Unabhängig davon stellt die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer eigenen Abwägung, die sie in unzulässiger Weise an die Stelle der Kammer zu setzen versucht, allein auf die Nähe zur Vollendung der Tat ab und lässt sämtliche andere Gesichtspunkte außer Acht. Dies genügt der erforderlichen Gesamtabwägung jedoch gerade nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. September 2013, 2 StR 353/13, juris, Rn. 5).

Der Staatsanwaltschaft ist hingegen zuzugestehen, dass die Kammer bei der Strafzumessung im engeren Sinne den Umstand, dass die Kindesmutter den Angeklagten aufgrund der Tat der Wohnung verwiesen hat, zu Unrecht als strafmildernden Umstand berücksichtigt hat, da solche Nachteile, die der Täter entweder bewusst riskiert hat oder die sich ihm aufdrängen mussten, i.d.R. nicht zu einer Milderung führen (vgl. Fischer, StGB, 72. Aufl., § 46, Rn. 34d). Dass das Verhalten des Angeklagten die fristlose Kündigung eines wohl bestehenden Mietverhältnisses rechtfertigt, liegt auf der Hand. Der Senat kann jedoch aufgrund der zahlreichen weiteren strafmildernden Umstände, die die Kammer zuvor benannt und damit (wohl) stärker gewichtet hat, ausschließen, dass die Kammer ohne Berücksichtigung dieser Folge der Tat für den Angeklagten die Strafe höher als geschehen festgesetzt hätte.

Auch die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung gem. § 56 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 StGB ist angesichts des
eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs rechtsfehlerfrei. Bei der Entscheidung über die Strafaussetzung ist dem Tatrichter ein weiterer Beurteilungsspielraum zuerkannt, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2023, 6 StR 98/23, juris, Rn. 3, m.w.N.; OLG Braunschweig, Urteil vom 22. März 2023, 1 Ss 40/22, juris, Rn. 39). Hat das Tatgericht die für und gegen die Aussetzung sprechenden Umstände gesehen und gewürdigt ist dessen Entscheidung vom Revisionsgericht auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Bewertung denkbar gewesen wäre. Diesen Anforderungen ist die Kammer gerecht geworden. Sie hat im Rahmen der Prognose (§ 56 Abs. 1 StGB) insbesondere auf die bisherige Unbestraftheit des Angeklagten, seine sozio-ökonomischen Lebensbedingungen und auf die schon wenige Monate nach der Tat absolvierte Psychotherapie abgestellt sowie hinsichtlich § 56 Abs. 2 StGB zusätzlich auf die vergleichsweise hohe Geldsumme, die der Angeklagte zur Schadenswiedergutmachtung angeboten hat.“

Bewährung III: Strafaussetzung einer Reststrafe, oder: Anforderungen an die „Legalprognose“

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann zum Tagesschluss noch der BGH, Beschl. v. 13.05.2025 – StB 14/25 -, in dem auch der BGH im Beschwerdeverfahren die Aussetzung eines Strafrestes abgelehnt hat:

„1. Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB setzt die Aussetzung der Vollstreckung des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung voraus, dass dem Verurteilten eine günstige Prognose für eine Legalbewährung in Freiheit gestellt werden kann. Dabei sind an die Erwartung künftiger Straffreiheit umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger die durch einen möglichen Rückfall bedrohten Rechtsgüter sind. Die vorzunehmende Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen der bereits erlittenen Freiheitsentziehung und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kann auch bei terroristischen Verbrechen zu dem Ergebnis führen, dass es verantwortbar ist, vom weiteren Strafvollzug abzusehen; die Voraussetzungen für eine positive Kriminalprognose dürfen in diesem Bereich nicht so hoch angesetzt werden, dass dem Verurteilten letztlich kaum eine Chance auf vorzeitige Verschonung von der Haft bleibt. Insbesondere wenn sich ein terroristischer Straftäter im Vollzug ordnungsgemäß führt und von seiner früheren Bereitschaft, Gewalttaten zu begehen oder zu fördern, glaubhaft distanziert, kann eine Strafrestaussetzung in Betracht kommen. Dazu ist es letztlich nicht zwingend erforderlich, dass der Verurteilte, der seine Tat während des gesamten Strafverfahrens und im Vollzug bestritten hat, sein strafbares Verhalten nunmehr einräumt (s. etwa BGH, Beschlüsse vom 10. April 2014 – StB 4/14 , juris Rn. 3; vom 19. April 2018 – StB 3/18 , NStZ-RR 2018, 228; vom 2. November 2022 – StB 43/22 , NJW 2022, 3729 Rn. 6, jeweils mwN).

2. Diese Maßstäbe hat das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung beachtet. Es hat unter anderem die Angaben des Verurteilten im Termin zur persönlichen Anhörung im Januar 2025, den Eindruck eines erkennenden Richters aus der Hauptverhandlung sowie eine (rückblickende) Stellungnahme der Untersuchungshaftanstalt vom Oktober 2022 bewertet und ist in einer überzeugenden Gesamtabwägung zu dem Ergebnis gelangt, dass für den Verurteilten derzeit keine hinreichend günstige Legalprognose gestellt werden kann. Dabei hat es insbesondere in den Blick genommen, dass sich der Verurteilte bisher nicht von der PKK distanziert habe.

3. Der Senat teilt die Einschätzung des Oberlandesgerichts.

Zwar ist es als prognostisch günstig zu beurteilen, dass der Verurteilte ansonsten unbestraft ist und die abgeurteilte Tat acht Jahre zurückliegt. Die bis zum 30. April 2021 vollzogene Untersuchungshaft ist auch die erste Inhaftierung des Verurteilten gewesen ( § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB ). Er ist eine Ehe eingegangen, hat einen festen Wohnsitz und neuerdings eine befristete Vollzeitarbeitsstelle in einem Supermarkt. Außerdem hat er nicht nur zwei Drittel seiner Strafe, sondern bereits den Großteil verbüßt.

Dem stehen jedoch gewichtige Gründe gegenüber, die gegen eine positive Sozialprognose sprechen. Neben der Schwere des vom Verurteilten und seinen Mittätern verübten Gewaltdelikts ist hier vor allem seine langjährige und tiefgreifende ideologische Nähe zur PKK zu nennen, die ihn zur Tatbegehung veranlasste. Dem Oberlandesgericht ist dahin zuzustimmen, dass der Verurteilte sich von dieser Einstellung bisher nicht ersichtlich gelöst hat. Im Anhörungstermin hat er sich als Sympathisanten der Vereinigung bezeichnet. Fragen danach, wie er seine Tat aus heutiger Sicht bewertet, ist er inhaltlich ausgewichen. Er hat sie dahin beantwortet, dass er in die Zukunft blicken und sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen wolle. Dies belegt den persönlichen Eindruck, den das Erstgericht bei der Anhörung gewonnen hat und dem regelmäßig hohe Bedeutung zukommt ( BGH, Beschlüsse vom 3. September 2020 – StB 26/20 , juris Rn. 5; vom 30. Oktober 2018 – StB 50/18 Rn. 6 [unveröffentlicht]).

Somit bestehen zumindest Indizien für eine fortbestehende militante Einstellung und eine damit einhergehende Gefährlichkeit des Verurteilten. Sichere Belege für eine solche sind nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht erforderlich. Zweifel am Vorliegen von zu seinen Gunsten wirkenden tatsächlichen Umständen gehen vielmehr zu seinen Lasten, die In-dubio-Regel gilt hier nicht (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschlüsse vom 15. Dezember 2020 – StB 45/20 , juris Rn. 8; vom 5. Februar 2025 – StB 1/25 , juris Rn. 10, jeweils mwN). Deshalb ist die nicht weiter überprüfbare Angabe des Beschwerdeführers, er unterhalte inzwischen keine Kontakte mehr zur PKK, für sich genommen nicht geeignet, das Risiko einer Strafaussetzung als vertretbar erscheinen zu lassen.“

SV III: Mündliche Anhörung des SV durch die StVK, oder: Bloßes Schweigen ist kein Verzicht

Bild von Felipe auf Pixabay

Und zum Schluss der heutigen Berichterstattung habe ich hier dann noch den OLG Hamm, Beschl. v. 07.08-2025 – III-1 Ws 76/25  – zur Erforderlichkeit der mündlichen Anhörung des Sachverständigen im Verfahren betreffend die sog. Zwei-Drittel-Aussetzung.

Die Strafvollstreckungskammer hat den Verurteilten im Beisein seines Verteidigers zur Aussetzung der Reststrafe angehört. Ein sodann eingeholtes schriftliches Prognosegutachten im Sinne von § 454 Abs. 2 StPO übersandte sie an den Verurteilten und seinen Verteidiger, die auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichteten. Dann wurde das Vollstreckungsheft einschließlich des Prognosegutachtens an die Staatsanwaltschaft zur Antragstellung und mit der Bitte um Mitteilung innerhalb von zwei Wochen, ob auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet werde. Die Staatsanwaltschaft übersandte das Vollstreckungsheft unter Bezugnahme auf ihren, mit dem einer bedingten Aussetzung des Strafrestes nicht widersprochen worden war. Im Übrigen äußerte sie sich nicht zu einem Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen. Die StVK hat dann zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen dann später die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

„Die gemäß § 454 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig. Insbesondere hat die Staatsanwaltschaft nicht wirksam auf das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde verzichtet. Der Rechtsmittelverzicht wird mit Eingang bei Gericht wirksam. Maßgeblich ist insofern allein der zunächst in Form eines Vermerks niedergelegte Rechtsmittelverzicht der Staatsanwaltschaft vom 13.02.2025. Der so erklärte Verzicht ist mit dem Vollstreckungsheft zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt nach dem 20.02.2025 – und damit nach der sofortigen Beschwerde , die auch als Widerruf der Verzichtserklärung auszulegen ist – bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen. Damit ist der Widerruf des Rechtsmittelverzichts wirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 09.08.1995 – 1 StR 699/94; Cierner in: BeckOK StPO, 54. Edition Stand 01.01.2025, § 302 Rn. 22f m.w.N.).

In der Sache hat die sofortige Beschwerde (vorläufig) Erfolg. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.

Entgegen § 454 Abs. 2 S. 3 StPO hat es die Strafvollstreckungskammer unterlassen, den Sachverständigen mündlich anzuhören, obwohl sie dessen gutachterliche Stellungnahme in seinem Gutachten vom 23.12.2024 bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt – und folglich im Sinn des § 454 Abs. 2 S. 1 StPO verwandt – hat (vgl. Senat, Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; Beschluss vom 24.04.2012 – 1 Ws 145/12, juris m.w.N.).

Gemäß § 454 Abs. 2 S. 3 StPO ist der Sachverständige zwingend mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, einem etwa vorhandenen Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist. Auf diese Weise soll den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gegeben werden, das Gutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (OLG Hamm, Beschluss vom 24.07.2008, – 3 Ws 262/08). Die damit nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO erforderliche Anhörung hätte gemäß § 454 Abs. 2 S. 4 StPO nur unterbleiben dürfen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft darauf verzichtet hätten. Hier fehlt es an dem Verzicht der Staatsanwaltschaft. Auf eine entsprechende Anfrage der Strafvollstreckungskammer hat die Staatsanwaltschaft einen Verzicht nicht ausdrücklich erklärt. Ein konkludenter Verzicht der Staatsanwaltschaft liegt ebenfalls nicht vor. Das bloße Schweigen auf eine Zuschrift des Gerichts genügt für die Annahme eines Verzichts nicht, denn der Verzicht auf die mündliche Anhörung muss eindeutig erklärt werden (OLG Celle – Beschluss vom 29.04.2024 – 1 Ws 126/24; vgl auch KG Berlin, NStZ 1999, 319 [320]; NJW 1999, 1797 [1798]zum Verzicht des Verurteilten/Untergebrachten und seines Verteidigers: OLG Hamm, Beschluss vom 30.08.2018 – III – 3 Ws 363/18Senat, Beschluss vom Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; ; Appl, in: KK-StPO, § 454 Rn. 29a; vgl. auch Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 454 Rn. 63 f.). An einer ausdrücklichen Verzichtserklärung der Staatsanwaltschaft fehlt es hier. Ein solcher Verzicht ist insbesondere auch nicht darin zu sehen, dass die Staatsanwaltschaft das Vollstreckungsheft unter Hinweis darauf, einer Aussetzung der Strafe zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt nicht zu widersprechen, an die Strafvollstreckungskammer zurückgesandt hat. Dieser Erklärung ist ein (eindeutiger) Erklärungsgehalt im Sinne eines Verzichts auf die mündliche Anhörung nicht beizumessen. Vielmehr stellt sich die Erklärung als Nichtreaktion auf die gerichtliche Anfrage dar, die vielfältige Ursachen haben kann. Jedenfalls ist daraus nicht zwangsläufig zu erkennen, dass sich die Staatsanwaltschaft nach Kenntnisnahme vom schriftlichen Sachverständigengutachten und des sich aus den Akten ergebenden Sachstandes bewusst dafür entschieden hat, auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen zu verzichten (vgl. dazu: OLG Hamm, Beschluss vom 15.12.2016 – III – 4 Ws 380/16).

Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückweisung der Sache an die mit der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe trotz mittlerweile erfolgter Verlegung in die JVA Werl nach § 462a Abs. 1 S. 1 StPO befasste Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund (BGH, NJW 1975, 1847). Eine Sachentscheidung durch den Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO ist nicht veranlasst, da der Senat die mangels Verzichtserklärung der Staatsanwaltschaft zwingend erforderliche Anhörung des Sachverständigen im Beschwerdeverfahren nicht nachholen kann (OLG Hamm, Beschluss vom 12.11.2007 – 3 Ws 647/07 = BeckRS 2007, 19259, Rn. 8; OLG Hamm, Beschluss vom 11.01.2012 – 2 StR 346/11 = NStZ 2012, 408; Senat, Beschluss vom Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; KG Berlin, NStZ 1999, 319 [320]; NJW 1999, 1797 [1798]; vgl. auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Aufl. 2024, § 454 Rn. 46 und § 309 Rn. 8).“