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Zustellung II: HV-Protokoll ohne Datum/Unterschrift, oder: Zustellung vor Fertigstellung des Protokolls

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Im zweiten Beitrag stelle ich dann den den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 07.01.2025 – 3 ORbs 330 SsBs 645/24 – vor. Man erkennt am Aktenzeichen es ist ein Beschluss aus einem Bußgeldverfahren. Die vom OLG entschiedene Problematik kann aber auch im Strafverfahren auftreten. Es geht nämlich um die Wirksamkeit der Urteilszustellung, die ja von der Fertigstellung des Protokolls abhängt. Und da lag hier einiges im Argen.

Das AG hatte am 14. Juni 2024 gegen den – vom persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen, in der Hauptverhandlung nicht erschienenen und dort auch nicht von einem Verteidiger vertretenen – Betroffenen wegen eines Rotlichtverstoßes eine Geldbuße festgesetzt und ein Fahrverbot verhängt. Gegen das dem Betroffenen am 13.07.2024 und dem Verteidiger des Betroffenen am 12.07.2024 zugestellte Urteil hat dieser mit am 17.07.2024 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Rechtsbeschwerde eingelegt, die er mit Schreiben vom 16.08.2024, eingegangen am selben Tag bei Gericht, begründet hat.

Das AG hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung der Entscheidung begründet worden sei. Hiergegen beantragte der Verteidiger mit Faxschreiben vom 16.09.2024 die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts herbeizuführen und führte aus, dass die Rechtsmittelbegründungsfrist am 16.08.2024 noch nicht abgelaufen gewesen sei.

Das OLG hat den Verwerfungsbeschluss des AG aufgehoben:

„1. Der Verwerfungsbeschluss des Amtsgerichts Konstanz vom 10.09.2024 war aufzuheben. Mangels wirksamer Urteilszustellung wurde vorliegend weder die Rechtsbeschwerdeeinlegungs- noch die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist in Lauf gesetzt, so dass diese auch noch nicht abgelaufen sind.

Gemäß § 79 Abs. 4 OWiG beginnt die Frist für die Einlegung der Rechtsbeschwerde mit der Zustellung des Urteils, wenn es – wie hier – in Abwesenheit des Betroffenen verkündet und dieser dabei auch nicht nach § 73 Abs. 3 OWiG durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten worden ist. Die Zustellung des Urteils darf jedoch nach § 71 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 273 Abs. 4 StPO nicht erfolgen, bevor nicht das Sitzungsprotokoll fertig gestellt ist. Die Zustellung vor der Fertigstellung ist unwirksam und setzt die von der Urteilszustellung abhängigen Fristen nicht in Lauf (vgl. BGHSt 27, 80; Meyer-Goßner, StPO, 67. Aufl., § 273 Rn. 34; LR-Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 273 Rn. 65; KK-Hadamitzky, OWiG, 5. Aufl., § 79 Rn. 55), mithin auch nicht die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde, da diese an die Urteilszustellung anknüpft.

Vorliegend ist das Hauptverhandlungsprotokoll noch nicht fertig gestellt.

Dabei kann dahinstehen, ob die Urteilsformel an sich noch als hinreichend protokolliert anzusehen ist, da in dem Protokoll des Amtsgerichts über die Hauptverhandlung vom 14. Juni 2024 insofern lediglich ein nicht als Anlage gekennzeichnetes Loseblatt mit der Urteilsformel in das vierseitige und ausschließlich auf der ersten Seite überhaupt ausgefüllte Protokollvordruckformular eingefügt ist; insofern heißt es zwar ausweislich des Vordrucks auf Seite 4, dass „folgendes Urteil“ verkündet worden sei, sodann erfolgten jedoch keinerlei tatsächliche (nicht vorgedruckte) Ausfüllungen oder zumindest Bezugnahmen.

Dabei ist zwar in der von dem Senat geteilten obergerichtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur anerkannt, dass das Protokoll grundsätzlich mit dem Vollzug der erforderlichen Unterschriften der Urkundspersonen, dem Vorsitzenden und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (§ 271 Abs. 1 StPO), oder – wie vorliegend bei Absehen der Hinzuziehung eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gemäß § 226 Abs. 2 StPO i. V. m. § 71 Abs. 1 OWiG – mit der Unterschrift des Richters bzw. der Richterin fertig gestellt ist, und zwar unabhängig davon, ob es unrichtig oder lückenhaft ist oder sonstige formelle Mängel aufweist (vgl. BGH, NStZ 1984, 89; LR-Stuckenberg, a. a. O., § 273 Rn. 65; KK-Greger, StPO, 9. Aufl., § 271 Rn. 8; Meyer-Goßner, a. a. O., § 271 Rn. 19).

Allerdings fehlt es vorliegend neben dem Datum auch insbesondere an der Unterschrift der Richterin, mithin ist das Protokoll überhaupt nicht unterzeichnet worden. Allein die Unterschrift auf dem nicht als Anlage gekennzeichneten Beiblatt, welches lediglich den Tenor enthält, ist nicht ausreichend um einen Fertigstellungswillen hinsichtlich des gesamten Protokolls anzunehmen.

Mit dieser Protokollierung hat das Amtsgericht Konstanz gegen die – gemäß § 71 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren geltende (vgl. Göhler-Bauer, OWiG, 19. Aufl., § 71 Rn. 55) – Vorschrift des § 273 Abs. 1 S. 1 StPO verstoßen, wonach das Protokoll die für den gesamten Protokollinhalt notwendige Unterschrift enthalten muss. Der Verstoß gegen die Protokollierungspflicht hat hier zur Folge, dass die Sitzungsniederschrift als noch nicht fertig gestellt anzusehen ist und das Urteil daher noch nicht hätte zugestellt werden dürfen.

2. War danach die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde mangels wirksamer Urteilszustellung und damit, weil an den Ablauf der Einlegungsfrist anknüpfend, auch die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerdeanträge und deren Begründung (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i. V. m. § 345 Abs. 1 StPO) noch nicht in Lauf gesetzt, ist der Senat derzeit nicht befugt, über die Rechtsbeschwerde zu entscheiden, weil der Beschwerdeführer sein Rechtsmittel noch weiter, auch mit (weiteren) Verfahrensrügen begründen könnte. Bei dieser Sachlage waren die Akten an das Amtsgericht zur Fertigstellung des Protokolls über die Hauptverhandlung, zur erneuten Zustellung einer Urteilsausfertigung sowie zur anschließenden erneuten Vorlage nach §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 347 StPO zurückgegeben (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 347 Rn. 5 m. w. N.).“

Wenn es für den Verteidiger noch etwas „nachzubessern“ gibt, das ist noch möglich.

OWi II: Rechtliches Gehör des abwesenden Betroffenen, oder: Verlesung früherer Vernehmungen/Erklärungen

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Und dann hier als zweite Entscheidung der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.10.2024 – IV-2 ORBs 97/24. Es geht auch noch einmal um die Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG.

Der Betroffene hat gegen seine Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung Rechtsbeschwerde eingelegt. Das AG hatte den Betroffenen im Termin der Hauptverhandlung antragsgemäß von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen und hatte in Abwesenheit verhandelt. Das OLG hat das AG-Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufgehoben.

„2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet, da das Amtsgericht das rechtliche Gehör des Betroffenen verletzt hat.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91 m. w. N.). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen des Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen; die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juni 2021 – I OLG 95/21; OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.Mai 2020 – 1 Ss-OWi 464/20).

Nach diesen Grundsätzen rechtfertigt das Beschwerdevorbringen die Annahme der Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen, da nicht erkennbar ist, dass das Amtsgericht die vor der Hauptverhandlung abgegebenen Erklärungen und Anträge des Betroffenen zur Kenntnis genommen und diese erwogen hat.

Der Betroffene war von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden und im Termin zur Hauptverhandlung weder selbst anwesend, noch war sein Verteidiger erschienen. Der Betroffene hatte aber im Vorfeld der Hauptverhandlung über seinen Verteidiger in einem Schriftsatz vom 16. Februar 2023 verschiedene Anträge gestellt und zum Verfahren vorgetragen, insbesondere Einwendungen hinsichtlich der Geschwindigkeitsmessung vorgebracht.

§ 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG bestimmt, dass die Hauptverhandlung dann in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt wird, wenn er – wie hier – nicht erschienen ist und von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war. Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG sind frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder Verlesung in die Haupthandlung einzuführen. § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG soll sicherstellen, dass zum Ausgleich für die weitgehende Durch-brechung der auch im Bußgeldverfahren zu beachtenden Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsätze alle wesentlichen Erklärungen, die der Betroffene in ir-gendeinem Stadium des Verfahrens zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgegeben hat, im Falle des ihm gestatteten Fernbleibens von der Hauptverhandlung bei der Entscheidung berücksichtigt werden; es handelt sich hierbei um zwingendes Recht (vgl. Senge in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 4. Auflage, § 74 Rn 11 m. w. N.). Hierzu sind auch Sacheinlassungen des Verteidigers zu zählen, jedenfalls dann, wenn dieser, wie vorliegend, gemäß § 73 Abs. 3 OWiG bevollmächtigt war (vgl. Senge, a. O., Rn 10 m. w. N.). Die Verlesung bzw. Bekanntgabe gehört dabei zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beobachtung nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (vgl. BayObLG, Beschluss vom 3. Januar 1996 – 2 ObOWi 911/95).

Vorliegend lässt weder das Urteil, welches in fehlerhafter Weise keine Gründe enthält, obwohl die Voraussetzungen des § 77b OWiG nicht gegeben waren, noch das Hauptverhandlungsprotokoll eine hinreichende Auseinandersetzung mit den schriftsätzlichen Ausführungen des Betroffenen erkennen.

Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 17. Februar 2023 ist nur Seite 1 des Schriftsatzes vom 16. Februar 2023, nicht aber der vollständige Schriftsatz zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden. Weiter wird in dem Hauptverhandlungsprotokoll auf den Schriftsatz vom 16. Februar 2023 lediglich bezüglich des Antrags auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen sowie dem Antrag auf Terminverlegung eingegangen.

Dem Hauptverhandlungsprotokoll kann indes nicht entnommen werden, dass das Amtsgericht sich mit dem Antrag auf Einsicht in die im Schriftsatz vom 16. Februar 2023 auf Seite 2 näher bezeichneten Unterlagen, dem Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung sowie dem diesbezüglich gerügten Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Seiten 2 bis 5 des Schriftsatzes) auseinandergesetzt bzw. darüber entschieden hat, sowie, dass der Betroffene über seinen Verteidiger die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren wegen Nichtspeicherung von Messdaten gerügt und der Einführung des Messfotos und des Geschwindigkeitsergebnisses sowie der Verwertung dieser Beweismittel widersprochen (Seiten 5 bis 6 des Schriftsatzes) hat, und dass er zur Unverwertbarkeit der Messung in Bezug auf die Nichteinhaltung des Messbereichs (Seite 6 des Schriftsatzes) und zu einer fehlerhaften und nicht bzw. schlecht sichtbaren Beschilderung vorgetragen hat.

Es ist deshalb zu besorgen, dass das Amtsgericht die Ausführung des Betroffenen nicht ausreichend zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat. Wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs war die Rechtsbeschwerde deshalb zuzulassen.

3. Die Rechtsbeschwerde erweist sich aus diesem Grunde auch als begründet.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Duisburg zurückzuverweisen.

4. Ergänzend ergeht folgender Hinweis:

Vorliegend wird bei erneuter Entscheidung das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu prüfen sein, da das Urteil vom 17. Februar 2023 dem Betroffenen (über seinen Bevollmächtigten) erst knapp 16 Monate später – am 10. Juni 2024 – wirksam zugestellt worden ist.

Die im Strafverfahren entwickelten Grundsätze für erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen (sog. Vollstreckungslösung) finden auch im Bußgeldverfahren Anwendung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 2003 – 2 BvR 273/03; Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2019 – 2 RBs 171/19; OLG Bamberg, Beschluss vom 4. Dezember 2008 – 3 Ss OWi 1386/08; OLG Hamm, Beschluss vom 11. Februar 2021 – 4 RBs 13/21, OLG Hamburg, Beschluss vom 2. April 2019 – 2 RBs 27/17). Ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, somit das Verfahren ohne zwingenden Grund für eine nicht unerhebliche Dauer zum Stillstand gekommen ist, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab. Faktoren, die regelmäßig von Bedeutung sind, sind dabei insbesondere der durch eine Verzögerung seitens der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens seinem Gegenstand nach sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen (vgl. BVerfG, a. a. O.). Da zur Beurteilung von Verfahrensverzögerungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen der im Vergleich zur staatlichen Strafe geringeren Eingriffsintensität aber ein milderer Maßstab anzulegen ist, legt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hier Auswirkungen auf den Rechtsfolgenausspruch erst dann nahe, wenn die schuldhafte Verfahrensverzögerung ein Vielfaches der normalen Verjährungsfrist erreicht (vgl. BVerfG, a. a. O., OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Februar 2008 – IV-5 Ss (OWi) 33/07 – (OWi) 9/08 I).“

OWi II: Gehörsrüge, oder: Was der Richter alles in fünf Minuten in der Hauptverhandlung erledigt haben will

entnommen wikimedia.org
Urheber Ulfbastel

Die zweite Entscheidung des Tages stammt vom OLG Brandenburg. Den OLG Brandenburg, Beschl. v. 04.02.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 685/20 – hat mir der Kollege Anger aus Bergisch Gladbach erst gestern geschickt. Er ist aber „zu schön“, so dass ich ihn dann gleich heute vorstelle.

Entschieden hat das OLG über eine Gehörsrügeüber eine Gehörsrüge des Betroffenen. Der hatte gegen das in einer Abwesenheitsverhandlung ergangene Urteil des AG vorgebracht, dass sich das AG „nicht mit seinen in den Anwaltsschriftsätzen vom 10. September 2020 und 11. September 2020, eingegangen bei Gericht jeweils am selben Tag, dargelegten Sachvortrag auseinander gesetzt habe. Der Betroffene hat in diesen Schriftsätzen u.a. vorgebracht, dass ihm durch die Verwaltungsbehörde nicht die so genannte erweiterte Akteneinsicht, insbesondere Messdateien betreffend, gewährt worden sei und von einem so genannten standardisierten Messverfahren nicht ausgegangen werden könne.“

Die Rüge greift durch:

„Gemessen an diesen Grundsätzen rechtfertigt das Beschwerdevorbringen die Annahme der Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen, da nicht ersichtlich ist, dass das Amtsgericht die vorbereitenden Schriftsätze und die darin enthaltenen Erklärungen des Betroffenen zur Kenntnis genommen bzw. diese erwogen hatte.

Die Hauptverhandlung ist ausweislich der Urteilsgründe in Abwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers durchgeführt worden. Allerdings hatte der Verteidiger des Betroffenen in seinen oben genannten Schriftsätzen Bedenken gegen die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung geäußert bzw. vorgetragen, dass die Vorgaben für die Annahmen eines standardisierten Messverfahrens nicht beachtet worden seien.

Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 14. September 2020 wurde — entgegen § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG — lediglich Seite 1 des 11 Seiten umfassenden Anwaltsschriftsatzes vom 10. September 2020 verlesen und im Übrigen weder die weiteren Seiten des Anwaltsschriftsatzes vom 10. September 2020 noch der 35 Seiten umfassende Anwaltsschriftsatz vom 11. September 2020 zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht, mithin weder durch Mitteilung des wesentlichen Inhalts noch durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt. Dabei betrifft die verlesene Seite 1 des Anwaltsschriftsatzes vom 10. September 2020 lediglich den Antrag auf Entbinden des Betroffenen von der Anwesenheitspflicht in der Hauptverhandlung, der sodann beschieden wurde. Den weiteren umfangreichen Sachvortrag hat das Bußgeldgericht offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Denn auch im Urteil fehlt jegliche Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verteidigers. Insgesamt lassen sich weder dem Hauptverhandlungsprotokoll noch den Urteilsgründen Anhaltpunkte dafür entnehmen, dass das Amtsgericht die vorbereitenden Schriftsätze des Verteidigers überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Diese Umstände in ihrer Gesamtheit führen zu der Annahme, dass das Amtsgericht wesentliches Verteidigungsvorbringen außer Acht gelassen und dadurch das rechtliche Gehör des Betroffenen verkürzt hat (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Mai 2016, 1 (Z) 53 Ss-OWi 221/16 (120/16); Senatsbeschluss vom 8. November 2016 (1 Z) 53 Ss-OWi 422/16 (324/16)). Dies nötigt zur Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Oranienburg.“

So weit, so gut. Aber die Musik/das Schöne steckt in der ergänzenden Anmerkung des OLG:

„b) Ergänzend ist anzumerken, dass die protokollierte Hauptverhandlung — auch ungeachtet der Gehörsverletzung — kaum einem rechtsstaatlichen Verfahren entsprochen haben dürfte. Dass in einer ausgewiesenen, lediglich fünf Minuten dauernden Hauptverhandlung (10:50 Uhr bis 10:55 Uhr) nach Aufruf der Sache der Bußgeldbescheid, der Eichschein, das Messprotokoll, der Schulungsnachweis des Messbeamten, die Datenleisten des Messfotos, der Auszug aus dem Fahreignungsregister verlesen, der form- und fristgerechte Einspruch festgestellt, das Messfoto sowie die Ausschnittsvergrößerungen in Augenschein genommen und das Urteil verkündet wurden, erscheint wenig wahrscheinlich. Die Dokumentation in dem Hauptverhandlungsprotokoll, dass „nach jeder einzelnen Beweiserhebung“ sowohl der Betroffene als auch der Verteidiger gefragt worden seien, ob sie etwas zu erklären hätten, ist offensichtlich fehlerhaft, da eingangs des Protokolls beurkundet ist, dass beide Personen, Betroffener und Verteidiger, an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hatten. Die Sinnhaftigkeit der Beurkundung, „weitere Beweisanträge wurden nicht gestellt“, erschließt sich ebenfalls nicht, wenn ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls an der Hauptverhandlung nur die Bußgeldrichterin und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle teilgenommen hatten. Was mit dem „allseitigen Einverständnis“ gemeint ist, dem die Schließung der Beweisaufnahme zugrunde gelegen habe, erschließt sich nach dem Vorgenannten ebenfalls nicht.2

Endlich mal ein OLG, das ex pressis verbis bezwefelt, dass das alles in der Hauptverhandlung erldigt worden ist, was nach dem Protokoll erlediggt worden sein.

 

Rechtsmittel I: Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts, oder: Deal oder No-Deal?

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Heute, am letzten vollständigen/“richtigen“ Arbeitstag des Jahres stelle ich dann noch einmal drei Entscheidungen vor, die sich mit Fragen aus dem Rechtsmittelbereich befassen.

Zunächst kommt das der BayObLG, Beschl. v. 02.12.2020 – 202 StRR 105/20 -, der auch gestern ganz gut zu den StPO-Entscheidungen zur Verständigung gepasst hätte. Im Streit ist/war die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts. Nach dem vom BayObLG mitgeteilten Sachverhalt ergab sich aus dem Hauptverhandlungsprotokoll, “ dass der Instanzverteidiger – nach Rücksprache mit dem Angeklagten und in dessen Anwesenheit – im Anschluss an die Verkündung des Berufungsurteils und nach Rechtsmittelbelehrung erklärt [hat]: “Wir nehmen das Urteil an und verzichten auf Rechtsmittel.“ Die Erklärung wurde gemäß § 273 Abs. 3 StPO vorgelesen und genehmigt. Außerdem ergibt sich aus dem Protokoll, dass diese Erklärung vom Dolmetscher vor der Genehmigung übersetzt wurde.“

Das BayObLG hat den Rechtsmittelverzicht als wirksam angesehen:

„c) Gründe, die ausnahmsweise zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts des Angeklagten führen könnten, liegen nicht vor.

aa) Eine die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO hindernde Verständigung nach § 257c StPO erfolgte ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls nicht. Darin ist gemäß § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO ausdrücklich vermerkt, dass Verständigungsgespräche und damit eine Verständigung nach § 257c StPO nicht stattgefunden haben. Diese Feststellung zählt zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO und nimmt an der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls teil (BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 3 StR 214/19 a.a.O.).

bb) Auch ist von einer ebenso wirkenden informellen Verständigung nicht auszugehen, wenngleich der Angeklagte in seinem Schreiben vom 17.07.2020 geltend macht, das Gericht habe ihm „einen Deal für die 8 Fälle, daß die eingestellt werden und er die Halbstrafe“ […]; er sei auf den „Deal“. Dieser Vortrag ist nicht nur durch das Hauptverhandlungsprotokoll, sondern auch durch die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden Richters der Berufungskammer vom 21.07.2020, der weder der Angeklagte noch dessen Verteidiger entgegengetreten sind, widerlegt. Hiernach hat der Vorsitzende zwar unter Hinweis auf die gegebenenfalls strafmildernde Wirkung die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch angeregt, das Ersuchen der Verteidigung, eine Prognose hinsichtlich der Höhe der zu erwartenden Strafe zu äußern, jedoch explizit abgelehnt. Der bloße Hinweis auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses stellt – ebenso wie eine hier ohnehin nicht erfolgte Offenlegung der voraussichtlichen Straferwartung – keine (informelle) Verständigung dar (vgl. BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 – 2 BvR 2628/10 = BVerfGE 133, 168; BGH, Beschl. v. 09.10.2019 – 1 StR 545/18 = NStZ 2020, 237 = NZWiSt 2020, 188).“

Der nach Zurückverweisung nicht verlesene Anklagesatz, oder: Anfängerfehler?

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Bei der zweiten verfahrensrechtlichen Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 24.04.2018 – 1 StR 481/17. Es geht um die Nichtverlesung des Anklagesatze in der Hauptverhandlung. Das LG hat den Angeklagten in einem Verfahren wegen betruges verurteilt. In dem Verfahren war der Angeklagte schon einmal verurteilt worden, und zwar im Januar 2016. Das Urteil hatte der BGH im  September 2016 auf eine Verfahrensrüge des Angeklagten hin teilweise aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen. Gegen das neu ergangene Urteil hat sich der Angeklagte nun wiederum mit einer Verfahrensrüge gewendet, die erneut Erfolg hatte:

„I.
Die Revision rügt mit der Verfahrensrüge, dass in der vom 3. bis zum 30. Mai 2017 andauernden, neu durchgeführten Hauptverhandlung der die vorliegende Tat betreffende Anklagesatz aus der Anklageschrift vom 20. August 2015 nicht verlesen wurde.

II.

Auf die zulässig erhobene Verfahrensrüge war die Entscheidung des Landgerichts Kempten aufzuheben, sodass es auf die weitere Verfahrensrüge sowie auf die Sachrüge nicht ankommt.

1. Gemäß § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ist nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen der Anklagesatz zu verlesen. Dies erfüllt unter anderem den Zweck, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Schöffen, aber auch die Öffentlichkeit über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten (BGH, Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649, 650) und ihnen zu ermöglichen, ihr Augenmerk auf die Umstände zu richten, auf die es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ankommt (Gorf in BeckOK/StPO, 29. Ed., § 243 StPO Rn. 17). Auf die Verlesung kann daher auch nicht verzichtet werden (LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 39). Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt auch nach Zurückverweisung der Sache durch ein Rechtsmittelgericht, wobei nur insoweit Einschränkungen durch eine eingetretene Teilrechtskraft oder vorgenommene Beschränkungen oder Erweiterungen des Verfahrensgegenstandes nach § 154a Abs. 2 und 3 StPO zu berücksichtigen sind (LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 243 Rn. 51; Gorf in BeckOK/StPO, 29. Ed., § 243 StPO Rn. 25). Nur bei Zurückverweisung der Sache allein im Strafausspruch sind statt des Anklagesatzes insoweit das Ausgangsurteil und die zurückverweisende Revisionsentscheidung zu verlesen.

Vorliegend betraf die Aufhebung der Entscheidung vom 18. Januar 2016 auch den Schuldspruch, weshalb der entsprechende Teil des Anklagesatzes zu verlesen war. Die Verlesung des Anklagesatzes gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO, deren Einhaltung gemäß § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (BGH, Urteil vom 13. Dezember 1994 – 1 StR 641/94, NStZ 1995, 200, 201). Nachdem das Sitzungsprotokoll hierzu schweigt, muss der Senat davon ausgehen, dass der Anklagesatz in der neuen Hauptverhandlung nicht verlesen wurde.

2. Die Verlesung des Anklagesatzes ist ein so wesentliches Verfahrenserfordernis, dass die Unterlassung im Allgemeinen die Revision begründet (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – 1 StR 494/99, NStZ 2000, 214). Allenfalls in einfach gelagerten Fällen, in denen der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes durch die Unterlassung nicht beeinträchtigt worden ist, kann ein Beruhen des Urteils auf der Nichtverlesung des Anklagesatzes unter Umständen ausgeschlossen werden (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – 1 StR 494/99, aaO). Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 9. Oktober 2017 ausführlich dargelegt hat, liegt der vorliegenden Strafsache schon angesichts des Umfangs der Tatschilderung in der angefochtenen Entscheidung kein einfach gelagerter Sachverhalt zu Grunde, was auch durch die umfangreiche Beweiswürdigung bestätigt wird. Auch wenn Teile des Revisionsbeschlusses und des angefochtenen Urteils in der Hauptverhandlung zur Verlesung kamen, reichte dies zur Information der Prozessbeteiligten, welche den Akteninhalt nicht kannten, erst recht nicht zur Information der Öffentlichkeit aus. Der Senat vermag daher nicht auszuschließen, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensverstoß beruht.“

In meinen Augen (mal wieder) so eine Entscheidung, bei der man sich fragt, warum es die eigentlich gibt. Oder: Merkt das denn eigentlich nieman, und zwar entweder in der Hauptverhandlung, dass der Anklagesatz noch nicht verlesen worden ist oder später, dass die Verlesung des Anklagesatzes – wenn sie erfolgt ist – nicht m Protokoll steht. Ob das ein „Anfängerfehler“ ist, mag jeder Leser selbst für sich entscheiden.