OWi II: Rechtliches Gehör des abwesenden Betroffenen, oder: Verlesung früherer Vernehmungen/Erklärungen

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Und dann hier als zweite Entscheidung der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 02.10.2024 – IV-2 ORBs 97/24. Es geht auch noch einmal um die Abwesenheitsverhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG.

Der Betroffene hat gegen seine Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung Rechtsbeschwerde eingelegt. Das AG hatte den Betroffenen im Termin der Hauptverhandlung antragsgemäß von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen und hatte in Abwesenheit verhandelt. Das OLG hat das AG-Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufgehoben.

„2. Die Verfahrensrüge ist auch begründet, da das Amtsgericht das rechtliche Gehör des Betroffenen verletzt hat.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91 m. w. N.). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen des Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen; die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (vgl. OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juni 2021 – I OLG 95/21; OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.Mai 2020 – 1 Ss-OWi 464/20).

Nach diesen Grundsätzen rechtfertigt das Beschwerdevorbringen die Annahme der Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen, da nicht erkennbar ist, dass das Amtsgericht die vor der Hauptverhandlung abgegebenen Erklärungen und Anträge des Betroffenen zur Kenntnis genommen und diese erwogen hat.

Der Betroffene war von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden und im Termin zur Hauptverhandlung weder selbst anwesend, noch war sein Verteidiger erschienen. Der Betroffene hatte aber im Vorfeld der Hauptverhandlung über seinen Verteidiger in einem Schriftsatz vom 16. Februar 2023 verschiedene Anträge gestellt und zum Verfahren vorgetragen, insbesondere Einwendungen hinsichtlich der Geschwindigkeitsmessung vorgebracht.

§ 74 Abs. 1 Satz 1 OWiG bestimmt, dass die Hauptverhandlung dann in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt wird, wenn er – wie hier – nicht erschienen ist und von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war. Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG sind frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder Verlesung in die Haupthandlung einzuführen. § 74 Abs. 1 Satz 2 OWiG soll sicherstellen, dass zum Ausgleich für die weitgehende Durch-brechung der auch im Bußgeldverfahren zu beachtenden Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsätze alle wesentlichen Erklärungen, die der Betroffene in ir-gendeinem Stadium des Verfahrens zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung abgegeben hat, im Falle des ihm gestatteten Fernbleibens von der Hauptverhandlung bei der Entscheidung berücksichtigt werden; es handelt sich hierbei um zwingendes Recht (vgl. Senge in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 4. Auflage, § 74 Rn 11 m. w. N.). Hierzu sind auch Sacheinlassungen des Verteidigers zu zählen, jedenfalls dann, wenn dieser, wie vorliegend, gemäß § 73 Abs. 3 OWiG bevollmächtigt war (vgl. Senge, a. O., Rn 10 m. w. N.). Die Verlesung bzw. Bekanntgabe gehört dabei zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beobachtung nur durch das Protokoll bewiesen werden kann (vgl. BayObLG, Beschluss vom 3. Januar 1996 – 2 ObOWi 911/95).

Vorliegend lässt weder das Urteil, welches in fehlerhafter Weise keine Gründe enthält, obwohl die Voraussetzungen des § 77b OWiG nicht gegeben waren, noch das Hauptverhandlungsprotokoll eine hinreichende Auseinandersetzung mit den schriftsätzlichen Ausführungen des Betroffenen erkennen.

Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 17. Februar 2023 ist nur Seite 1 des Schriftsatzes vom 16. Februar 2023, nicht aber der vollständige Schriftsatz zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden. Weiter wird in dem Hauptverhandlungsprotokoll auf den Schriftsatz vom 16. Februar 2023 lediglich bezüglich des Antrags auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen sowie dem Antrag auf Terminverlegung eingegangen.

Dem Hauptverhandlungsprotokoll kann indes nicht entnommen werden, dass das Amtsgericht sich mit dem Antrag auf Einsicht in die im Schriftsatz vom 16. Februar 2023 auf Seite 2 näher bezeichneten Unterlagen, dem Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung sowie dem diesbezüglich gerügten Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Seiten 2 bis 5 des Schriftsatzes) auseinandergesetzt bzw. darüber entschieden hat, sowie, dass der Betroffene über seinen Verteidiger die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren wegen Nichtspeicherung von Messdaten gerügt und der Einführung des Messfotos und des Geschwindigkeitsergebnisses sowie der Verwertung dieser Beweismittel widersprochen (Seiten 5 bis 6 des Schriftsatzes) hat, und dass er zur Unverwertbarkeit der Messung in Bezug auf die Nichteinhaltung des Messbereichs (Seite 6 des Schriftsatzes) und zu einer fehlerhaften und nicht bzw. schlecht sichtbaren Beschilderung vorgetragen hat.

Es ist deshalb zu besorgen, dass das Amtsgericht die Ausführung des Betroffenen nicht ausreichend zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat. Wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs war die Rechtsbeschwerde deshalb zuzulassen.

3. Die Rechtsbeschwerde erweist sich aus diesem Grunde auch als begründet.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Duisburg zurückzuverweisen.

4. Ergänzend ergeht folgender Hinweis:

Vorliegend wird bei erneuter Entscheidung das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu prüfen sein, da das Urteil vom 17. Februar 2023 dem Betroffenen (über seinen Bevollmächtigten) erst knapp 16 Monate später – am 10. Juni 2024 – wirksam zugestellt worden ist.

Die im Strafverfahren entwickelten Grundsätze für erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen (sog. Vollstreckungslösung) finden auch im Bußgeldverfahren Anwendung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 2003 – 2 BvR 273/03; Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2019 – 2 RBs 171/19; OLG Bamberg, Beschluss vom 4. Dezember 2008 – 3 Ss OWi 1386/08; OLG Hamm, Beschluss vom 11. Februar 2021 – 4 RBs 13/21, OLG Hamburg, Beschluss vom 2. April 2019 – 2 RBs 27/17). Ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, somit das Verfahren ohne zwingenden Grund für eine nicht unerhebliche Dauer zum Stillstand gekommen ist, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab. Faktoren, die regelmäßig von Bedeutung sind, sind dabei insbesondere der durch eine Verzögerung seitens der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens seinem Gegenstand nach sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen (vgl. BVerfG, a. a. O.). Da zur Beurteilung von Verfahrensverzögerungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen der im Vergleich zur staatlichen Strafe geringeren Eingriffsintensität aber ein milderer Maßstab anzulegen ist, legt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hier Auswirkungen auf den Rechtsfolgenausspruch erst dann nahe, wenn die schuldhafte Verfahrensverzögerung ein Vielfaches der normalen Verjährungsfrist erreicht (vgl. BVerfG, a. a. O., OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Februar 2008 – IV-5 Ss (OWi) 33/07 – (OWi) 9/08 I).“

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