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Revision I: Reicht die Begründung der Verfahrensrüge?, oder: Selbstleseverfahren, Observation, Protokoll

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Heute stelle ich dann ein paar Revisionsentscheidungen vor. Zunächst einige Entscheidungen des BGH zum erforderlichen Revisionsvortrag bei (verschiedenen) Verfahrensrügen:

„Die von beiden Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung des § 261 StPO infolge nicht ordnungsgemäßen Abschlusses des am 12. Mai 2021 begonnenen („dritten“) Selbstleseverfahrens erweist sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), da nicht dargelegt wird, inwieweit welche Urkundeninhalte aus dem beanstandeten Selbstleseverfahren (Chats) anderweitig zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sind (vgl. zu den Anforderungen BGH, Urteil vom 11. April 2001 – 3 StR 503/00, NStZ 2001, 425; BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2005 – 2 BvR 656/99, 657/99 und 683/99). Hier wäre insbesondere Vortrag dazu erforderlich gewesen, ob die Chats im Rahmen weiterer Selbstleseverfahren oder durch Verlesung nach § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Dieses Erfordernis erhellt dadurch, dass die Staatsanwaltschaft in ihrer Gegenerklärung detailliert unter Angabe der einzelnen Fundstellen dargelegt hat, welche Urkunden verlesen worden sind, wie etwa die am 3. April 2020 von „napprobra“ und „putinbra“ zwischen 13.53 Uhr bis 14.42 Uhr ausgetauschten Chats.“

Durch die protokollierte Formulierung „Die Vorschrift des § 257 StPO wurde stets beachtet“ ist die Einhaltung der Vorschrift des § 257 Abs. 1 StPO belegt und bewiesen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257 Rn. 2, 4 und § 273 Rn. 7). Der entgegenstehende Vortrag der Beschwerdeführerin verfängt daher nicht.“

„Die Rügen betreffend die Verwertung von Observationsergebnissen scheitern zwar nicht daran, dass die Angeklagten in der Hauptverhandlung der Verwertung nicht rechtzeitig widersprochen hätten. Denn dies haben sie mehrfach ausdrücklich getan. Der Senat teilt jedoch die Zulässigkeitsbedenken des Generalbundesanwalts insoweit, als die Beschwerdeführer die näheren Umstände der im März 2019 durchgeführten Observation nicht ausreichend vorgetragen haben, aus deren Rechtsfehlerhaftigkeit sich nach Auffassung der Revisionen auch die Unverwertbarkeit der Anfang April 2019 richterlich genehmigten Observationsmaßnahmen ergeben soll. Für die Frage, ob die Angeklagten T., B. und K.  als mitbetroffene Dritte im Sinne von § 163f Abs. 2 Satz 1 StPO anzusehen sein könnten und ob der als „Zielfahrzeug“ benannte PKW Renault Clio auch in Beziehung zu den Zielpersonen der Ende Februar 2019 richterlich angeordneten Observationen (M.T. und H. E.) stand, wäre nicht nur Vortrag zu den Verwandtschaftsverhältnissen, sondern auch zu den weiteren Umständen der ursprünglich richterlich angeordneten Observation erforderlich gewesen (vgl. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die jeweiligen Rügen wären aus den in den Antragsschriften des Generalbundesanwalts genannten Erwägungen aber auch unbegründet.“

Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, das Landgericht habe § 261 StPO verletzt, weil es im Urteil betreffend die Tat 1 der Urteilsgründe eine von ihm stammende schriftliche Erklärung gegenüber dem Handelsregister verwertet habe, die nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sei, ist die Verfahrensrüge bereits unzulässig. Denn der Revisionsvortrag ist unvollständig und entspricht damit nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Der Beschwerdeführer trägt vor, dass der Vorsitzende entgegen § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht festgestellt habe, dass die Richter und Schöffen der Strafkammer von der betreffenden Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Er teilt zudem mit, dass die dritte Seite des Protokolls vom vierten Hauptverhandlungstag wie folgt ende: „Vom Vorsitzenden wird bekannt gegeben, dass die Kammermitglieder vom Wortlaut der Ur-“. Welches Verfahrensgeschehen diesem im Hauptverhandlungsprotokoll vermerkten unvollständigen Satz zugrunde liegt, teilt der Beschwerdeführer nicht mit, obgleich der Instanzverteidiger das Prozessgeschehen dem Revisionsverteidiger berichtet habe. Dies wäre aber notwendig gewesen, um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob der Vorsitzende den auf die Feststellungen im Sinn des § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO hindeutenden Satz abgebrochen hat oder ob es sich lediglich – wie nach dem ordnungsgemäß durchgeführten Protokollberichtigungsverfahren feststeht – um einen Protokollierungsfehler gehandelt hat. Ergeben sich – wie hier – aus dem von der Revision selbst vorgetragenen Protokoll zum Verfahrensablauf konkrete Anhaltspunkte für einen Sachverhalt, welcher der erhobenen Rüge die Grundlage entziehen kann, ist der Beschwerdeführer nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet, sich dazu zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2021 ? 4 StR 143/21, NStZ 2022, 126 mwN).

Von seinen Vortragspflichten wird der Revisionsverteidiger auch nicht dadurch befreit, dass er selbst nicht in der Hauptverhandlung anwesend war. Denn er wäre angesichts der oben genannten Stelle des (fehlerhaften) Protokolls verpflichtet gewesen, konkrete Erkundigungen über den diesbezüglichen Ablauf der Hauptverhandlung einzuholen (vgl. etwa zum Instanzverteidiger BGH, Urteil vom 10. Juli 2013 – 2 StR 47/13, BGHSt 58, 315, 318).

Die Rüge wäre aber – worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat – auch unbegründet, weil das Protokoll nach den daran zu stellenden Anforderungen berichtigt wurde (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 316 ff.) und damit feststeht, dass die betreffende Urkunde prozessordnungsgemäß nach § 249 Abs. 2 StGB zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden war.“

Dass alle Entscheidungen vom 5. Strafsenat des BGH stammen, ist Zufall 🙂 .

StPO II: Selbstleseverfahren, oder: Kenntnis genommen?

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Die zweite Entscheidung, der OLG Naumburg, Beschl. v. 30.06.2020 – 1 Rv 94/20 -, hat mir mal wieder der Kollege Funck geschickt. Er behandelt einen Fall aus der Hauptverhandlung, nämlich das Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO).

Das AG verurteilt den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe. Dagegen die Revision, die Erfolg hat:

„Zu Recht rügt die Revision einen Verstoß gegen § 261 StPO. Das Amtsgericht legt seinem Urteil Beweismittel zugrunde, namentlich das Betäubungsmittelgutachten des Landeskriminalamts vom 20. August 2019, die es nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht hat. Das Amtsgericht hat zwar durch Beschluss das Selbstleseverfahren im Sinne des § 249 Abs. 2 StPO unter anderem für dieses Behördengutachten angeordnet. Es hat sodann aber nicht festgestellt, dass die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben.

Die Verfahrensrüge ist zulässig im Sinne des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO erhoben worden. Der mitgeteilte Verfahrensablauf ist, wie sich dem auf die Verfahrensrüge hin eröffneten und auch durch die Revision mitgeteilten Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls entnehmen lässt, zutreffend wiedergegeben.

Die Rüge ist auch nicht deshalb unzulässig, weil eine vorherige Entscheidung des Gerichts gemäß § 249 Abs. 2 S, 2 StPO oder § 238 Abs. 2 StPO nicht herbeigeführt wurde (s. OLG Celle, Beschluss vom 3. Februar 2016 — 2 Ss 211/15, BeckRS 2016, 108236). Denn dies ist nur dann der Fall, wenn es darum geht, ob die Anordnung des Selbstleseverfahren als solches zulässig war (dann § 249 Abs. 2 S. 2 StPO) oder die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahren beanstandet werden soll (dann § 238 Abs. 2 StPO). Das ist hier nicht der Fall.

Die Rüge ist auch begründet. Im Urteil heißt es, dass die Feststellungen bezüglich der Qualität und Quantität der sichergestellten Betäubungsmittel aufgrund des in die Beweisaufnahme eingeführten Behördengutachtens vom 20. August 2019 getroffen worden seien (UA Seite 10). Dies verletzt § 261 StPO, weil aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls (vergleiche § 274 StPO) davon auszugehen ist, dass das Gutachten nicht zur Kenntnis gelangt und es dem Revisionsgericht auch verwehrt ist, dies im Wege des Freibeweises zu erforschen (BGH, Beschluss vom 7. Juli 2004 – 5 StR 412/03, in: NStZ 2005, 160),

Die Revision trägt im Übrigen auch, was erforderlich ist (vgl. MüKoStPO/Kreicker, 1. Aufl. 2016, StPO § 249 Rn. 79), vor, dass der Inhalt des Gutachtens nicht auf andere Weise in die Hauptverhandlung eingeführt wurde. Auch geben weder das Hauptverhandlungsprotokoll noch die entsprechende Formulierung im Urteil („die Feststellungen […] hat das Gericht aufgrund des in die Beweisaufnahme eingeführten Behördengutachtens […] getroffen“) einen Anhaltspunkt dafür, dass die hier relevanten Teile des Gutachtens im Wege des Vorhalts bei der Vernehmung des Angeklagten oder der Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein könnten.“

StPO I: Selbstleseverfahren versus Unmittelbarkeitsgrundsatz, oder: DNA-Gutachten in der Hauptverhandlung

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Heute dann der erste „StPO-Tag“ im neuen Jahr. Und an dem macht der BGH, Beschl. v. 03.09.2019 – 3 StR 292/19 – den Auftakt.

Entschieden hat der BGH eine Problematik aus der Hauptverhandlung in Zusammenhang mit dem Unmiitelbarkeitsgrundsatz, „umgangen“ durch einen Urkundenbeweis, Stichwort hier: Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO). Der Vorwurf der Anklage lautete auf Wohnungseinbruchdiebstähle. So ist der Angeklagte auch verurteilt worden.

Seine Revision hatte dann Erfolg, und zwar mit folgendem Vorbringen:

„Der Angeklagte beanstandet zu Recht eine Verletzung des § 250 StPO durch die Einführung von diversen – von privaten Laboren erstellten – molekulargenetischen Spurengutachten (DNA-Gutachten) im Wege des Selbstleseverfahrens. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

1. Am zweiten Tag der Hauptverhandlung ordnete der Vorsitzende hinsichtlich 30 in einer Liste aufgeführter Urkunden das Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO an. Die Liste umfasste acht DNA-Gutachten, die von privaten Laboren stammen. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen waren jeweils nicht im Sinne des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt. Die Strafkammer gab für die Verlesung der DNA-Gutachten weder einen Grund an, noch fasste sie hierzu einen Beschluss im Sinne von § 251 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO.

Der Verteidiger des Angeklagten erklärte in der Hauptverhandlung, gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens keine Einwände zu erheben, der (albanische) Angeklagte könne die Schriftstücke selbst lesen. Keiner der Verfahrensbeteiligten erteilte ein ausdrückliches Einverständnis mit der Verlesung der betreffenden Gutachten. Der Angeklagte und sein Verteidiger beanstandeten die Verlesung auch nicht als unzulässig. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen wurden nicht in der Hauptverhandlung vernommen. Ebenso wenig fanden Erörterungen zu den Gutachten statt. An einem der folgenden Hauptverhandlungstage traf der Vorsitzende die Feststellungen über die Kenntnisnahme der Urkunden und die Gelegenheit hierzu.

In dem angefochtenen Urteil hat die Strafkammer ausgeführt, dass sich die Täterschaft des Angeklagten maßgeblich aus Angaben seines Mittäters ergebe, aber auch durch das Ergebnis der Beweisaufnahme im Übrigen belegt sei. Dabei hat das Landgericht darauf abgestellt, dass in den Fällen II.A.2. und II.A.6. DNA-Spuren existierten, die ausweislich der im Selbstleseverfahren eingeführten DNA-Gutachten vom Angeklagten bzw. seinem Mittäter stammten.

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Das Landgericht hat den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 StPO) umgangen, indem es die in Privatlaboren gefertigten DNA-Gutachten im Wege des Urkundsbeweises eingeführt hat. Die Ersteller der Gutachten hätten vielmehr in der Hauptverhandlung angehört werden müssen. Denn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO oder des § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO haben nicht vorgelegen.

a) Die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO sind schon deshalb nicht erfüllt gewesen, weil weder der Angeklagte und sein Verteidiger noch die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis mit der Verlesung erteilt haben. Ein solches ist insbesondere nicht darin zu erblicken, dass der Verteidiger erklärt hat, der Durchführung des Selbstleseverfahrens nicht entgegenzutreten. Im Hinblick auf die eingeschränkte Sprachkompetenz des Angeklagten hat er hiermit der Strafkammer nach den konkreten Umständen nur zu verstehen gegeben, dass er gegen das „Wie“ der Einführung der Urkunden aus der Selbstleseliste keine Einwände hat erheben wollen. Zum „Ob“ ihrer Einführung durch Verlesen hat er sich durch seine Erklärung nicht verhalten.

Auch eine stillschweigende Zustimmung hat nicht vorgelegen. Eine solche kommt überhaupt nur in Betracht, wenn aufgrund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden darf, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst gewesen sind (BGH, Beschlüsse vom 9. August 2016 – 1 StR 334/16, NStZ 2017, 299 mwN; vom 22. Januar 2015 – 3 StR 528/14, NStZ 2015, 476; LR/Sander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn. 22 mwN). Daran fehlt es hier. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Revisionsvorbringen ist das Erfordernis eines Einverständnisses für eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte Verlesung der Gutachten (etwa durch eine Frage des Vorsitzenden o.ä.) zu keinem Zeitpunkt in der Hauptverhandlung thematisiert worden. Es ist angesichts der Vielzahl der Urkunden auf der Selbstleseliste auch nicht derart offensichtlich gewesen, dass es sich den Prozessbeteiligten aufgedrängt hätte.

Hinzu kommt Folgendes: Das Einverständnis – auch das stillschweigende – muss bereits im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung durch das Gericht vorliegen (LR/Sander/Cirener, aaO Rn. 23). Hier hat der Vorsitzende gleichzeitig mit der Anordnung des Selbstleseverfahrens die auf diese Weise einzuführenden Urkunden bezeichnet; die Verfahrensbeteiligten haben also erst mit der Anordnung erfahren, welche Urkunden sie umfasst. Sie haben deshalb ihr Einverständnis gar nicht vorher erklären können. Erst recht scheidet ein stillschweigendes Einverständnis in dieser Verfahrenskonstellation aus.

Wie auch der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, fehlt es überdies an dem gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO von dem gesamten Spruchkörper zu erlassenden und mit Gründen zu versehenden Beschluss. Grundsätzlich ist schon dieser Umstand allein geeignet, die Revision zu begründen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585 Rn. 9 f.; vom 8. Februar 2011 – 4 StR 583/10, NStZ 2011, 356, 357 mwN). Ein Fall, in dem sich der Rechtsfehler ausnahmsweise nicht ausgewirkt hat, weil den Verfahrensbeteiligten Grund und Reichweite der Verlesung bekannt gewesen sind, liegt hier – wie dargelegt – nicht vor.

b) Die DNA-Gutachten haben auch keine Erklärungen einer öffentlichen Behörde (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO) oder eines allgemein vereidigten Sachverständigen (§ 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO) enthalten. Nach dem insoweit unwidersprochenen Revisionsvorbringen sind die vorliegend tätig gewordenen Sachverständigen gerade nicht allgemein vereidigt gewesen.

Eine Ausdehnung der eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gestattenden Ausnahmevorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO kommt nicht in Betracht, mögen die hier konsultierten Institute auch vielfach von Ermittlungsbehörden beauftragt und als zuverlässig bekannt sein. Denn Gutachten von vereidigten Sachverständigen sind im Rahmen des § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO vor allem deshalb Behördengutachten gleichgestellt, weil im Vereidigungsverfahren die sachliche und persönliche Befähigung des Sachverständigen geprüft wird. Nur der Sachverständige, der das Verfahren durchlaufen hat, ist nach dem Motiv der gesetzlichen Regelung mit einer solchen Sachautorität ausgestattet, dass es gerechtfertigt ist, auf seine persönliche Einvernahme in der Hauptverhandlung zu verzichten (vgl. MüKoStPO/Krüger, § 256 Rn. 17 unter Verweis auf BT-Drucks. 15/1508, S. 26). Diese klare Festlegung des Gesetzgebers kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass Kosten- oder Kapazitätsgründe die Landeskriminalämter dazu veranlassen, für forensische DNA-Untersuchungen auf private Institute zurückzugreifen.

c) Einer Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO hat es nicht bedurft. Die Verletzung des § 251 Abs. 1 StPO kann ohne ein Vorgehen nach § 238 Abs. 2 StPO gerügt werden, weil es gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO dem gesamten Spruchkörper und nicht dem Vorsitzenden allein obliegt, über die Verlesung zu beschließen. Damit ist der Anwendungsbereich des § 238 StPO nicht eröffnet.

Soweit der Vorsitzende die Einführung der Gutachten im Urkundsbeweis auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO gestützt haben sollte, hat er die Zulässigkeit seines Vorgehens unter die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift subsumieren, mithin zwingendes Recht anwenden müssen, ohne dass ihm insoweit ein Ermessensspielraum zur Seite gestanden hat. Die Verletzung zwingenden Rechts durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist (vgl. zum Ganzen BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 315/11, NStZ 2012, 585 Rn. 12; vom 20. September 2016 – 3 StR 84/16, NStZ 2017, 372 Rn. 8, jeweils mwN).“

Und: Der BGH hat hier mal nicht den Ausweg über die Beruhensfrage gesucht, sondern:

„Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen § 250 StPO. Das Landgericht hat die zu den Spuren aus den Fällen II.A.2. und II.A.6. erstellten DNA-Gutachten für seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten in allen sechs Taten herangezogen. Das gilt auch für das Gutachten des Instituts für Forensische Genetik Münster vom 22. November 2016. Soweit der Generalbundesanwalt in seinem Antrag ausgeführt hat, dass sich die Strafkammer auf dieses Gutachten nicht gestützt habe, weil sie nur in Bedacht genommen habe, dass das Gutachtenergebnis nicht im Widerspruch zu den Urteilsfeststellungen stehe (UA S. 29), ist ihm aus dem Blick geraten, dass das Gutachten aus Münster neben einer Mischspur, für welche der Angeklagte als Spurenverursacher nicht ausgeschlossen werden kann, auch DNA-Spuren des gesondert verfolgten Mittäters am Tatort belegt (vgl. UA S. 23 f., 27). Ausweislich der Urteilsfeststellungen sind es genau diese „vielfach vorhandenen DNA-Spuren des Zeugen P. “ (UA S. 24), welche die Strafkammer für die Bewertung sei- ner Zeugenaussage und damit für ihre Überzeugung von der Tatbeteiligung des Angeklagten herangezogen hat.“

Selbstleseverfahren, oder: Wie geht man damit um – zwei Anfänger?

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Und zum Tagesschluss dann noch der OLG Frankfurt, Beschl. v. 20.12.2017 – 1 Ss 174/17. Der ist in doppelter Hinsicht von Interesse, ich stelle heute zunächst mal die verfahrensrechtliche Problematik vor, und zwar geht es um die Anforderungen an die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen die Vorschriften über das Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) geltend gemacht wird.

Insoweit hatte die Sprungrevision keinen Erfolg:

„1. Soweit eine Verletzung von § 249 Abs. 2 StPO gerügt wird, ist dies unzulässig, da keine vorherige Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO erfolgte.

Für eine Beanstandung der Anordnung des Selbstleseverfahrens ist ein vorheriger Widerspruch nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO erforderlich. Soweit die Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens betroffen ist, hat grundsätzlich eine Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO zu erfolgen (BGH NStZ 2011, 300 f.; Meyer Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 249 Rn. 32). Zur Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens gehört auch die faktische Nichtdurchführung des Verfahrens nach vorheriger Anordnung. Das Gericht muss den Prozessbeteiligten Gelegenheit zur Selbstlesung geben (Meyer Goßner/Schmitt aaO., § 249 Rn. 23). Damit wird diese Gelegenheit Teil des durchzuführenden Verfahrens. Wird eine solche Gelegenheit nicht gewährt, so ist die Art der Durchführung des Verfahrens betroffen.

Zwar wurde vorliegend keine Gelegenheit zur Selbstlesung gewährt, aber dies wurde auch nicht nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet, weshalb die Revision nicht hierauf gestützt werden kann.“

Auch das ist m.E. ein Punkt, den man als Verteidiger „auf dem Schirm haben sollte“. Oder besser: „….. haben muss“. Allerdings: Als Gericht sollte man wissen, dass Gelegenheit zum Selbstlesen gewährt werden muss……

Selbstleseverfahren, oder: Kann man 12.000 Seiten „selbst“ lesen?

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Die zweite verfahrensrechtliche Entscheidung des heutigen Tages betrifft das sog. Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO). Im BGH, Beschl. v. 09.11.2017 – 1 StR 554/16 – geht es (noch einmal) umdie Anforderungen an die Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) in diesen Fällen und um die Durchführung des Selbstleseverfahrens. Verfahrensgeschehen und Angriffsrichtung der Rüge ergeben sich aus dem „Zusatz“ des BGH zur „OU-Verwerfung“:

Ergänzend bemerkt der Senat zu einer Rüge des Angeklagten W. , mit der dieser die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet:

„Mit der auf die Verletzung von § 249 Abs. 2 StPO gerichteten Verfahrensrüge macht dieser Angeklagte geltend, den an der Entscheidungsfindung beteiligten Schöffinnen sei wegen der Anzahl der vom Selbstleseverfahren erfassten Urkunden und dem für die Lektüre zur Verfügung stehenden Zeitraum ein „letztlich unmögliches Selbststudium“ auferlegt worden. Der Beanstandung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Am 20. Januar 2016, dem ersten Hauptverhandlungstag, verfügte die Vorsitzende die Durchführung des Selbstleseverfahrens hinsichtlich einer Vielzahl von der Revision durch Einrücken der Selbstleseliste näher bezeichneter Urkunden. Erklärungen zu dieser Verfügung wurden nicht abgegeben. Am zweiten Hauptverhandlungstag, dem 29. Januar 2016, erging eine weitere Selbstleseverfügung der Vorsitzenden. Die davon betroffenen Urkunden hat die Revision ebenfalls durch Einrücken der diesbezüglichen Selbstleseliste bezeichnet.

Im Anschluss an die zweite Selbstleseverfügung widersprach dieser der Verteidiger des Angeklagten und beantragte gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine gerichtliche Entscheidung. Dem lag das Vorbringen zugrunde, „nach dem derzeitigen Stand“ müssten etwa 12.000 Blatt selbst gelesen werden. Unter Berücksichtigung des insbesondere für die Schöffinnen für das Lesen zur Verfügung stehenden Zeitraums sei ein solches Selbstleseverfahren letztlich unmöglich. Am 26. Februar 2016, dem vierten Hauptverhandlungstag, beschloss die Strafkammer den Umfang der ersten Selbstleseverfügung vom 20. Januar 2016 um näher bezeichnete Teile zu reduzieren. Im Übrigen wurden mit ausführlicher Begründung die Selbstleseverfügungen der Vorsitzenden bestätigt. Am 6. April 2016, dem zehnten Hauptverhandlungstag, wurde festgestellt, dass „das Gericht und die Schöffen“ vom Wortlaut der von den Selbstleseverfügungen – bezüglich derjenigen vom 20. Januar 2016 im nachträglich durch den genannten Gerichtsbeschluss reduzierten Umfang – erfassten Urkunden und Schriftstücken Kenntnis genommen haben.

2. Die Rüge dringt im Ergebnis nicht durch.

a) Der Senat versteht ihre Angriffsrichtung dahin, dass im Hinblick auf die Anzahl vom Selbstleseverfahren erfasster Urkunden und Schriftstücke jedenfalls für die beteiligten Laienrichterinnen kein ausreichender Zeitraum zur Verfügung stand, um vom Inhalt Kenntnis zu nehmen. Damit wird die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet (vgl. LR/Mosbacher, 26. Aufl., StPO, § 249 Rn. 105; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 249 Rn. 117b). Die für die Zulässigkeit einer darauf gerichteten Rüge erforderliche gerichtliche Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist herbeigeführt worden.

Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob eine derartige Rüge überhaupt zulässig erhoben werden kann, weil sie notwendig die Behauptung impliziert, dass die protokollierte Feststellung, Richter und Schöffen haben vom Inhalt der betroffenen Urkunden Kenntnis genommen, inhaltlich unrichtig ist (vgl. zu diesem Aspekt BGH, Beschluss vom 23. Mai 2012 – 1 StR 208/12, NStZ 2012, 584, 585). Zwar wird durch den entsprechenden Passus in der Niederschrift lediglich die Protokollierung der Feststellung als solche, nicht aber bewiesen, dass tatsächlich gelesen worden ist (BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20 f.; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b mwN). Ungeachtet dessen geht mit dem Vorwurf eines verfahrensfehlerhaft unangemessen kurzen Zeitraums für das Selbstleseverfahren (dazu näher LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 79 f.) die Behauptung einher, wegen der nicht ausreichenden Zeit sei auch tatsächlich nicht alles gelesen worden, was Gegenstand des Selbstleseverfahrens war. Deshalb bedarf es bei einer den unzureichenden Zeitraum des Selbstleseverfahrens beanstandenden Rüge Vortrags zu den konkreten tatsächlichen Umständen, aus denen sich das Unterbleiben der Selbstlesung oder die nicht ausreichende Zeit dafür ergeben kann (LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 111; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b und Rn. 118 jeweils mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 131/10, NStZ-RR 2011, 20, 21). Ob die Revision vor diesem Hintergrund den aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO resultierenden Anforderungen genügt, kann dahinstehen. Die pauschalen Angaben über den regelmäßigen Umfang des Inhalts von Leitzordnern und der sich daraus ergebenden Blattzahl reichen dafür jedenfalls nicht. Immerhin ermöglicht das Einrücken der Selbstleselisten, die Angaben zu den Blattzahlen der erfassten Schriftstücke enthalten, dem Senat, die Gesamtblattzahl grob selbst zu berechnen.

b) Die Beanstandung erzielt jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Der für das Selbstlesen den Schöffinnen zur Verfügung stehende Zeitraum selbst zwischen der zweiten Selbstleseverfügung am 29. Januar 2016 und dem Abschluss des Verfahrens am 6. April 2016 bei sieben dazwischen liegenden Verhandlungstagen eröffnet erst recht unter Berücksichtigung der Reduktion des Umfangs des ersten Selbstleseverfahrens am 26. Februar 2016 einen ausreichend langen Zeitraum, um die betroffenen Schriftstücke und Urkunden zu lesen. Ausweislich der von der Revision vorgelegten Selbstleselisten handelt es sich bei zahlreichen der Schriftstücke um listenmäßige Aufstellungen, auf die sich die von der Revision geltend gemachten durchschnittlichen Zeiten für das Erfassen einer Seite nicht ohne Weiteres übertragen lassen. In der Person der beiden Schöffinnen liegende konkrete tatsächliche Umstände, die dem Lesen der beiden Selbstlesekonvolute in dem genannten Gesamtzeitraum entgegengestanden haben könnten, teilt die Revision nicht mit.

Daher fehlt es an Anknüpfungstatsachen, die die Angemessenheit der Dauer des Selbstleseverfahrens in Frage stellen. Angesichts dessen war der Senat nicht veranlasst, freibeweislich zu klären, ob die protokollierte Feststel-lung über das erfolgte Lesen durch die Schöffinnen materiell zu Unrecht erfolgt ist.