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Das misslungene/fehlgeschlagene Selbstleseverfahren – und was man daraus lernen kann

© Avanti/Ralf Poller

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Das LG Berlin verurteilt den Angeklagten egen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern u.a. zu einer Freiheitsstrafe. Im Verfahren sind die Beweise zu einem wesentlichen Teil durch im Selbstleseverfahren eingeführte Urkunden (§ 249 Abs. 2 StPO) erhoben worden. Der Angeklagte hat insoweit die Inbegriffsrüge erhoben. Die greift durch. Der BGH, Beschl. v. 04.09.2013 – 5 StR 306/13 beanstandet, dass das Hauptverhandlungsprotokoll keinen Eintrag über den Abschluss des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO enthält und das das Selbstleseverfahren insoweit fehlgeschlagen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, 32, und vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10, NStZ 2010, 712, 713).

Das macht den Beschluss m.E. aber nicht berichtenswert, sondern mehr die Ausführungen des BGH zum Beruhen des Urteils. Die kann man auch in anderen Verfahren, wenn es um Vorhalte pp. geht, heranziehen. Denn:

2. Anders als der Generalbundesanwalt vermag der Senat ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) nicht auszuschließen.

a) Das Landgericht stützt seine Überzeugung von der Schuld des alle Vorwürfe bestreitenden Angeklagten sowohl hinsichtlich der einzelnen Taten als auch in der Gesamtwürdigung ausdrücklich auf eine Reihe von Urkunden, die im betreffenden Anlagenkonvolut enthalten waren. Das gilt unter anderem für den polizeilichen Ermittlungsbericht vom 21. August 2012 (UA S. 77, 78, 86, 94, 95, 96, 100, 106, 107, 109), den im Rahmen der Beweiswürdigung eine zentrale Rolle einnehmenden „Schleusungsvertrag“ der durch den Angeklagten betriebenen „Tourismus- und Ticketverkaufsagentur A. “ mit einer zu schleusenden Person, aus dem sich nach Auffassung der Strafkammer die Rahmenbedingungen auch für die anderen durch den Angeklagten durchgeführten Schleusungen ergeben (UA S. 19 f., 78 ff.), sowie eine Fülle von insgesamt 2.128 ausgewerteten E-Mails nebst Anhängen, die auf dem Account des Angeklagten gespeichert waren (UA S. 76) und wesentlich zu der Überzeugung des Landgerichts geführt haben, der Angeklagte habe sich ein „weit verzweigtes System von Einladern und Unterzeichnern von Verpflichtungserklärungen“ geschaffen und zunutze gemacht (UA S. 110 ff.).

b) Die insoweit verwerteten Umstände können auch nicht durch Vorhalte an den polizeilichen Ermittlungsführer oder auf andere Weise zum Gegenstand der Hauptverhandlung geworden sein. Angesichts des eine Vielzahl von Daten, Namen sowie anderen Details enthaltenden E-Mail-Verkehrs versteht sich das für diesen ebenso von selbst wie für Einzelangaben aus dem umfangreichen Ermittlungsbericht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, aaO, S. 36 mwN). Darüber hinaus hat das Landgericht sowohl den Inhalt der E-Mails nebst Anlagen (UA S. 76) als auch des Ermittlungsberichts (z.B. UA S. 77) herangezogen, um die Angaben des Ermittlungsführers auf ihre Zuverlässigkeit hin zu überprüfen. Zum „A. -Vertrag“, dessen wesentlicher Inhalt in den Urteilsgründen wiedergegeben ist, wobei aus der Übersendungsmail wörtlich zitiert wird, bezieht sich das Landgericht ausdrücklich nur auf die Einführung „im Wege des Selbstleseverfahrens“ (UA S. 78).“

Schiebetermin – ja oder nein? Nein, wenn Selbstleseverfahren angeordnet

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In der Praxis haben Verfahrensrüge häufig damit Erfolg, dass ein nach einer Hauptverhandlungsunterbrechung durchgeführter Hauptverhandlungstermin keine fristwahrende Sachverhandlung im Sinne des § 229 Abs. 1, 2 und 4 Satz 1 StPO darstellte, sondern es sich nur um einen sog. „Schiebetermin“ gehandelt hat, so dass die Fristen nicht unterbrochen worden sind und an sich mit der Hauptverhandlung neu hätte begonnen worden müssen.

Streitig ist in der Rechtsprechung des BGH nun, ob vom Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 StPO getroffenen Feststellungen zum Selbstleseverfahren fristwahrende Sachverhandlung darstellen oder nicht. Das hat der 3. Strafsenats des BGH im BGH, Beschl. v. 16. 10. 2007 – 3 StR 254/07 – verneint. Der 5. Strafsenat des BGH hat das im gestern auf der Homepage des BGH eingestellten BGH, Beschl. v. 28.11. 2012 – 5 StR 412/12 – (vorgesehen für BGHST) hingegen bejaht:

„b) Entgegen der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 16. Oktober 2007 – 3 StR 254/07, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 8) stellen allein die Feststellungen des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO schon eine inhaltliche Sachverhandlung dar. Die Feststellung, dass außerhalb der Hauptverhandlung eine Beweiserhebung durch Selbstlesung einer Urkunde stattgefunden hat, erschöpft sich nicht in deren Protokollierung (vgl. hierzu Winkler, jurisPR-StrafR 6/2008 Anm. 1), sondern betrifft den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachaufklärung. Die Berufsrichter und die Schöffen geben auf Nachfrage des Vorsitzenden regelmäßig – wie auch hier – die festzustellende Erklärung ab, dass sie vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben; gleiches gilt für die Erklärung der übrigen Verfahrensbeteiligten, dass sie hierzu Gelegenheit hatten. Erst mit dem Akt der Feststellung durch den Vorsitzenden ist nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO dieser Teil einer Beweisaufnahme durch das Selbstleseverfahren abgeschlossen. Die Urkunde kann dann zum Gegen-stand von Erklärungen (§ 257 StPO) gemacht werden. Dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung verwehrt, die Urkunde zur Urteilsfindung heranzuziehen (§ 261 StPO, vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, 32).“

Und? Da war doch noch was? Ja, die Frage: Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen nach § 132 GVG GVG. Die „Klippe“ – wer legt schon gerne vor? – umschifft der 5. Strafsenat „elegant“ und wie in der Praxis häufig damit, dass der von ihm entschiedene prozessuale Sachverhalt eine Besonderheit aufweise. Na ja, kann man so sehen. Jedenfalls liegen jetzt zu der Frage zwei Entscheidungen vor, was zur Folge hat, dass die Frage, wenn sie demnächst noch einmal zur Entscheidung anstehen sollte, der Große Senat wird mitreden müssen.

 

Kann ein Glasermeister 674 Seiten innerhalb von vier Tagen (selbst) lesen?

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Und dann den eben bereits vorgestellten BGH, Beschl. v. 23.-05.2012 – 1 StR 208/12 noch einmal. In dem Beschluss spielt noch einmal Zeit eine Rolle, und zwar in Zusammenhang mit dem vom LG durchgeführten Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO). Da hatte die Revision geltend gemacht, „das angeordnete Selbstleseverfahren sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Innerhalb von vier Tagen, darunter ein Wochenende, hätte das Gericht insgesamt 674 Seiten (vielfach mit wenigen Zeilen beschriebene Rechnungen) nicht ordnungsgemäß zur Kenntnis nehmen können„.

Auch das greift beim 1. Strafsenat nicht. Er macht in dem Zusammenhang Ausführungen zu § 238 Abs. 2 StPO und zum Widerspruch bei der Verständigung.

Eine Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (vgl. allgemein zu Notwendigkeit der Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses als Zulässigkeitsvoraussetzung einer ein Selbstleseverfahren betreffenden Verfahrensrüge BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300, 301) ist nicht herbeigeführt worden.

Die Revision ist der Auffassung, § 238 Abs. 2 StPO sei hier deshalb unanwendbar, weil es nur um die Frage gehe, ob die Mitglieder der Strafkammer, insbesondere die Schöffen, die Urkunden in der gebotenen Intensität zur Kenntnis genommen hätten. Darüber hinaus sei die sog. Widerspruchslösung hier schon im Ansatz unanwendbar, da dem Verfahren eine Verständigung zu Grunde liege.

Beides ist unzutreffend.
a) Ist, wie hier, eine ordnungsgemäße Durchführung des Selbstleseverfahrens durch das Hauptverhandlungsprotokoll belegt, kann erfolgreiches Revisionsvorbringen nicht auf Überlegungen zu einer – jedenfalls objektiv – fehlen-den „Wahrhaftigkeit“ der zu Grunde liegenden richterlichen Erklärungen gestützt werden (zum umgekehrten Fall, dass das Hauptverhandlungsprotokoll die gebotene Kenntnisnahme durch die Richter nicht belegt vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2011 – 1 StR 33/11, StV 2011, 462, 463).

b) Es ist auch nicht ersichtlich, warum eine vorangegangene Verständigung eine sonst für eine Verfahrensrüge notwendige Voraussetzung entfallen lassen könnte. Auch die Revision nennt keine Gründe, die nach ihrer Auffassung die von ihr aufgestellte gegenteilige Behauptung stützen könnten.
Im Übrigen entbehrte die Behauptung, es sei „nicht plausibel, dass u.a. ein Glasermeister, der an Werktagen in aller Regel arbeitet, von dem ihm zum Selbstlesen zugewiesenen Urkunden und Schriftstücken“ ordnungsgemäß im Selbstleseverfahren Kenntnis genommen hätte, jeglicher Grundlage.

Das „im Ansatz prozessordnungsgemäße Selbstleseverfahren“

Der gestern auf der Homepage des BGH veröffentlichte BGH, Beschl. v. 10.01.2012 – 1 StR 587/11 – befasst sich mit dem Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO). Im Verfahren war das Selbstleseverfahren angeordnet und wegen früheren Geschehens sogleich als durchgeführt erklärt worden. Das hatte die Revision beanstandet.

Dazu der BGH:

Ein Selbstleseverfahren ist – auch – in der geschilderten Weise möglich. Ziel eines Selbstleseverfahrens ist es, den Inhalt von Urkunden auch ohne ihre Verlesung zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Hierfür ist bedeutungslos, ob die Erklärung der Richter, vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen zu haben, darauf beruht, dass sie die Urkunden vor oder nach der Anordnung des Selbstleseverfahrens gelesen haben. Es genügt daher, wenn die Urkunden schon zuvor, etwa bei der Prüfung der Eröffnungsentscheidung, gelesen wurden. Soweit Richter die Urkunden nicht ohnehin unabhängig vom Selbstleseverfahren gelesen haben, wie z.B. möglicherweise ein zweiter Beisitzer oder ein Ergänzungsrichter und regelmäßig Schöffen, genügt es dem-entsprechend, wenn dies, etwa im Vorgriff auf ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren schon vor dessen Anordnung, parallel zur Hauptverhandlung oder auch schon vor der Hauptverhandlung geschieht (vgl. Ganter in Graf, StPO § 249 Rn. 24; Diemer in KK 6. Aufl., § 249 Rn. 36).
Die übrigen Verfahrensbeteiligten müssen sich nicht darauf verweisen lassen, dass sie schon zuvor Gelegenheit zum Lesen der Urkunden gehabt hätten (Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 79). Da sie aber auf die Kenntnisnahme vom Inhalt der Urkunden sogar ganz verzichten können (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2010 – 1 StR 422/10, NStZ 2011, 300 mwN), genügt – auch von der Revision nicht in Frage gestellt – die in der Hauptverhandlung unwidersprochen gebliebene Feststellung des Vorsitzenden, die übrigen Verfahrensbeteiligten hätten bereits ausreichende Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt.

4. Nach alledem liegt im Ansatz ein prozessordnungsgemäßes Selbstleseverfahren vor.

Urkunden und sonstige Schriftstücke sind aber nur dann im Blick auf ein Selbstleseverfahren ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt, wenn nach dessen Durchführung (als wesentliche Verfahrensförmlichkeit, §§ 273, 274 StPO) zu Protokoll festgestellt ist, dass die Mitglieder des Gerichts vom Wortlaut der Urkunden und/oder sonstigen Schriftstücke Kenntnis genommen haben und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten (§ 249 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StPO). Die hier allein getroffene – auf Grund ihrer Eindeutigkeit auch keiner zu einem anderen Ergebnis führenden Auslegung zugängliche – Feststellung, die Mitglieder des Gerichts hätten Gelegenheit zur Kenntnisnahme gehabt, wird den Anforderungen des Gesetzes nicht gerecht (vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. März 2011 – 1 StR 33/11, NStZ-RR 2011, 253, 255 mwN).

Fazit: Wann gelesen wird ist, egal. Allerdings gelesen werden muss, so dass ein Beschluss mit dem Inhalt, dass das Gericht nur Gelegenheit hatte, Kenntnis zu nehmen, nicht reicht .

 

Die Krux mit § 238 Abs. 2 StPO – oder: Wird er übersehen, tritt irreparabler Schaden ein

Eine, wenn nicht die für die Revision wesentliche Vorschrift ist § 238 Abs. 2 StPO – also die Beanstandung einer Maßnahme des Vorsitzenden, um den für die Revisionsrüge des § 338 Nr. 8 StPO erforderlichen Gerichtsbeschluss herbeizuführen.

Man kann es kurz und knapp fassen: Ohne Beanstandung kein Beschluss und damit keine in dem Punkt erfolgreiche Revision. Das macht (mal wieder) der Beschl. des BGH v. 14.12.2010 – 1 StR 422/10 deutlich, in dem es um ein Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) ging. Es waren die Maßnahmen des Vorsitzenden, die damit zusammenhingen, nicht beanstandet worden, damit hatten die darauf gestützten Revisionsrügen keinen Erfolg.

Der Beschluss ist zudem auch noch aus einem anderen Grund interessant. Man sollte ja meinen, dass ein Selbstlesevefahren nur in Betracht kommt, wenn der Angeklagte auch lesen kann. Muss er aber nicht können. Und: Der BGH führt aus, wie man Selbstleseverfahren gestalten kann.