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OWi III: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Fahrverbot auch beim Landwirt

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Und dann kommt hier noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.10.2025 – 1 ORbs 181/25 – zur Verhängung eines Fahrverbotes bei einem Landwirt, der wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden ist. Das OLG hatte keine Einwände gegen das amtsgerichtliche Urteil und hat zum Rechtsfolgenausspruch ausgeführt:

„3. Auch der Rechtsfolgenausspruch zeigt keine Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf.

a) Das Tatgericht hat die Geldbuße – ausgehend von einem fahrlässigen Verstoß in Anlehnung an die Festsetzung der Geldbuße im Bußgelbescheid und der dort festgesetzten Regelgeldbuße von 600,00 Euro (Anhang, Tabelle 1, lfd. Nr. 11.3.9 BKatV) – unter Berücksichtigung der vorsätzlichen Begehungsweise auf 600,00 Euro (Anm: gemeint 1.200,00 €) verdoppelt.

b) Der Bestand des Urteils ist auch nicht dadurch gefährdet, dass das Gericht eine Geldbuße – und ein Regelfahrverbot – ohne weitere Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen und allein auf Schätzung der Einkommensverhältnisse des Betroffenen als Landwirt (UA S. 2, 4) verhängt hat. Eine Feststellung der wirtschaftlichen Verhältnisse kann in der Regel zwar nur bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten unberücksichtigt bleiben, § 17 Abs. 3 S. 2 letzter HS OWiG. Die Wertgrenze einer „geringfügigen Ordnungswidrigkeit“ wird durch die Oberlandesgerichte zwischenzeitlich unterschiedlich gezogen (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 16.03.2012 – [1 B] 53 Ss-OWi 130/12 [71/12]). Eine große Mehrheit der Obergerichte setzt die Wertgrenze bei über 250,00 Euro (Brandenburgisches OLG BeckRS 2021, 14843). Einschränkungen dieses Grundsatzes sind aber für Geldbußen von über 250,00 Euro für Verkehrsordnungswidrigkeiten anzuerkennen, die den Regelsätzen der BKatV entsprechen (Göhler, OWiG, 19. Auflage 2024, § 17 Rn. 24). Lassen sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des – wie hier – erlaubt abwesenden Betroffenen nicht feststellen, zwingt die Aufklärungspflicht das Tatgericht auch dann nicht zu weiteren Ermittlungen, wenn es beabsichtigt, eine Geldbuße von mehr als 250,00 Euro zu verhängen. Denn die persönlichen und wirtschaftlichen Umstände sind aufgrund der Regel-Ausnahme-Systematik der BKatV nicht von vornherein Gegenstand der Amtsaufklärung. Es obliegt vielmehr dem Betroffenen, konkrete Tatsachen vorzutragen, die ein Abweichen vom Regelsatz nahelegen, um so die tatrichterliche Aufklärungspflicht auszulösen (KG BeckRS 2020, 18279). Solche Umstände sind weder von dem Betroffenen noch durch seinen Verteidiger vorgetragen worden. Vielmehr hat sich der Betroffene bewusst dazu entschieden, sich mit seinem Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG die Möglichkeit zu nehmen, in der Hauptverhandlung Umstände vorzutragen, die ein Abweichen vom Regelfall hätten begründen können.

c) Auch ist gegen die Verhängung des Fahrverbots von zwei Monaten nichts zu erinnern.

Die Urteilsgründe lassen nicht besorgen, dass das Tatgericht verkannt hat, dass ein Absehen von dem nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV indizierten Regelfahrverbot nach § 4 Abs. 4 BKatV durch Erhöhung des vorgesehenen Bußgeldes möglich ist (UA S. 8 f.). Ein Absehen vom Fahrverbot kommt jedoch allenfalls in Fällen des sogenannten „Augenblicksversagens“ (BGH NJW 1997, 3252) oder bei Vorliegen einer „besonderen Härte“ für den Betroffenen in Betracht (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 06.07.2017 – [2 B 53 Ss-OWi 310/17 [148/17]). Insoweit bedarf es zwar umfassender Aufklärung durch das Tatgericht, allerdings nur insofern, als Anknüpfungstatsachen von dem Betroffenen dargelegt oder sonst erkennbar werden (OLG Hamm NStZ-RR 1998, 117). Solche sind vom Betroffenen nicht vorgebracht worden. Allein der Umstand, dass der Betroffene als selbstständiger Landwirt in der „heißen Phase“ seiner Erwerbstätigkeit unter der Verwendung von Landmaschinen nachgehen müsse (vgl. Bl. 133R d.A.), rechtfertigt die Annahme einer besonderen Härte bzw. eine Beschränkung des Fahrverbots auf Personenkraftwagen ohne weiteren Vortrag und unter Berücksichtigung der erheblichen Voreintragungen des Betroffenen – wie das Gericht zutreffend ausführt (UA S. 9) – nicht. Die Erwägungen des Tatgerichts erscheinen insbesondere auch vor dem Hintergrund zutreffend, dass die von dem Betroffenen in Bezug genommene „heiße Phase“ in der Landwirtschaft die mittlerweile weitestgehend abgeschlossene Erntephase betreffen dürfte und sich nicht auf die kommenden Wintermonate erstreckt.“

Diese Ausführungen entsprechen der Sach- und Rechtslage, der Senat schließt sich ihnen nach eigener kritischer Prüfung an.

OWi II: Feststellung der Fahrereigenschaft mit Lichtbild, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

Als zweite Entscheidung stelle ich dann noch einmal etwas zur Identifizierung des Betroffenen als Fahrer zum Vorfallszeitpunkt anhand eines Lichtbildes vor. Die damit zusammenhängenden Fragen waren mal ein „Dauerbrenner“, inzwischen hat sich die Lage aber „beruhigt“. Es gibt aber immer mal wieder doch noch Entscheidungen, die sich zu dem Problem äußern. So jetzt der OLG Brandenburg, Beschl. v. 30.10.2025 – 1 ORbs 167/25, der zu den Anforderungen an die Urteilsgründe Stellung nimmt, wenn die Feststellung der Fahrereigenschaft auf einer Inaugenscheinnahme des Betroffenen, einem Lichtbildvergleich und einem morphologischen SV-Gutachten beruht.

Ergangen ist der Beschluss im sog. „zweiten Rechtsgan“ wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung. Im ersten Durchlauf hatte das OLG die amtsgerichtliche Verurteilung aufgehoben, und ausgeführt:

„….

„Folgt der Richter dem Gutachten eines Sachverständigen, hat er die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachtens so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und ob die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (BGHSt 39, 291, 297). Der Umfang der Darlegungspflicht richtet sich danach, ob es sich um eine standardisierte Untersuchungsmethode handelt, sowie nach der jeweiligen Beweislage und der Bedeutung, die der Beweisfrage für die Entscheidung zukommt (BGH NStZ 2000, 106 m.w.N.; OLG Bamberg DAR 2010, 390). … Wenn der Sachverständige – wie hier – keine Wahrscheinlichkeitsberechnung anstellt und daraus unmittelbar das Ergebnis des Gutachtens ableitet, muss der Tatrichter, der sich dem Sachverständigengutachten anschließt, zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Sachverständigengutachtens mitteilen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 12. August 2008, 2 Ss (OWi) 148B/08, Beschluss vom 22. Februar 2007, 2 Ss (OWi) 39B/07), d.h. das ausgewertete Bildmaterial und die vom Sachverständigen dabei herausgearbeiteten morphologischen Merkmale, die er einem Vergleich unterzogen hat, sowie deren Anzahl. Sodann ist darzustellen, in welchem Maße der Sachverständige Übereinstimmungen festgestellt, auf welche Weise er diese ermittelt hat und welche Aussagekraft er ihnen beimisst, d.h. wie er die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet hat (Senatsbeschluss vom 04. November 2010, (1 B) 53 Ss-OWi 505/10 [271/10]). In welcher Form diese Darstellung erfolgt, ist dabei unerheblich, sofern sich die vom Sachverständigen untersuchten Merkmalsprägungen – soweit das Gericht sie für ergebnisrelevant hält -, deren Gewichtung und das Ergebnis des Vergleichs daraus ablesen lassen (OLG Jena a.a.O.). …“

…..“

Nach erneuter Verurteilung des Betroffenen war dann jetzt das OLG abermals mit der Sache befasst. Jetzt hat es aber die Anforderungen an die Urteilsgründe als erfüllt angesehen:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.

Das nach Zurückverweisung der Sache durch den Senat im neuerlichen Verfahren verkündete Urteil des Amtsgerichts Nauen vom 26. Mai 2025 genügt entgegen der Auffassung des Betroffenen den oben skizzierten Anforderungen an die Beweiswürdigung des Bußgeldgerichts, die nach wie vor Geltung beanspruchen. Die Feststellung der Fahrereigenschaft des Betroffenen wird darin auf eine Inaugenscheinnahme des in Bezug genommenen Fahrerfotos und einen Vergleich mit dem in der Hauptverhandlung persönlich anwesenden Betroffenen gestützt, maßgeblich aber auf das anthropologische Gutachten der Sachverständigen pp. (Name 01), das diese unter dem 29. Januar 2024 und 13. Februar 2024 schriftlich erstellt und in der Hauptverhandlung mündlich erstattet hat. Die Ergebnisse dieser Begutachtung werden in dem Urteil im Einzelnen nachvollziehbar dargestellt und erläutert, sodass dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung möglich ist. So wird dargelegt, dass die Gutachterin 75 Merkmale des Fahrzeugführers anhand des Fotos beschreiben konnte, von denen 74 mit dem Betroffenen und dessen Bruder, den jener als Fahrzeugführer zum Tatzeitpunkt benannt hatte, abgeglichen werden konnten. Allein der Halswendermuskel sei auf dem Foto von Kleidung verdeckt und habe deshalb nicht zum Abgleich zur Verfügung gestanden. Bei den 74 abgleichbaren Merkmalen habe es nur drei Abweichungen zum Betroffenen (Höhe der linken Augenbraue, Höhe Oberlidraum und Lidspalte) gegeben, die indes durch Mimik (Zusammenziehen der Augenbrauen) erklärbar seien. Kein Merkmal habe Zweifel erzeugt oder der Identität widersprochen. Sodann werden in dem Urteil (Seite 4 UA) die übereinstimmenden Merkmale im Einzelnen genannt und dargestellt, dass vor allem den – übereinstimmenden – Merkmalen im Mund-Nase-Ohr-Bereich als charakteristischen und „umweltstabilen“ Merkmalen besonderes Gewicht zukomme. Im Folgenden legt das Amtsgericht dar, dass der Bruder des Betroffenen nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Fahrer zum Tatzeitpunkt ausgeschlossen werden könne. Auch insoweit werden im Urteil die einzelnen Merkmale, sowohl insoweit, als Übereinstimmungen mit dem Täterfoto vorlagen, als auch, soweit nicht erklärbare Abweichungen festzustellen waren, aufgeführt. Sodann erläutert die Bußgeldrichterin, dass sie das Gutachten für nachvollziehbar halte und insbesondere angesichts der von der Sachverständigen festgestellten zahlreichen Übereinstimmungen zwischen dem Fahrerfoto und dem Betroffenen, dem Fehlen von Widersprüchen und der sehr geringen Wahrscheinlichkeit, dass der Bruder des Betroffenen der auf dem Foto der Bußgeldstelle der Fahrzeugführer war, zu der Überzeugung gelange, der Betroffene sei der Fahrer gewesen.“

Verletzter III: Antrag auf gerichtliche Entscheidung, oder: Verletzter einer Straßenverkehrsgefährdung

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Und dann als dritte Entscheidung zum Oberbegriff: Verletzter, den OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.09.2025 – 1 Ws 101/25 (S). Er stammt aus einem Klageerzwingungsverfahren. In dem ist es aber mal nicht um die Antragerfordernis gegangen sondern um die Antragsbefugnis der Antragsteller. Dazu das OLG:

„Am 13. Oktober 2024 erstattete der Antragsteller („Name 01“) gegenüber der Polizeidirektion West Anzeige gegen den Beschuldigten wegen Gefährdung des Straßenverkehrs, § 315 c StGB. Er warf dem Beschuldigten vor, mit seinem E-Lastenfahrrad mit überhöhter Geschwindigkeit den Fußweg entlang der („Adresse 01“) in („Ort 01“). befahren zu haben. Infolgedessen sei es zu einer Beinahe-Kollision mit dem Rollstuhl des Sohnes des Anzeigeerstatters, dem Antragsteller („Name 02“), gekommen, der sich mit seinem Rollstuhl aus der Haustür auf den Bürgersteig bewegt habe. Nur dadurch, dass der Antragsteller („Name 01“) den Rollstuhl geistesgegenwärtig zurückgezogen habe, sei ein Unfall verhindert worden.

Nach Vernehmung des Beschuldigten und erfolglosen Versuchen, eine Augenzeugin namhaft zu machen, stellte die Staatsanwaltschaft Potsdam das Ermittlungsverfahren am 04. Februar 2025 ein und erteilte dem Anzeigeerstatter („Name 01“) einen Bescheid hierüber.

…..

II.

Der Senat folgt dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg. Die Anträge beider Antragsteller auf gerichtliche Entscheidung sind gemäß § 172 Abs. 2 StPO als unzulässig zu verwerfen.

1. Der von („Name 01“) im eigenen Namen gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist bereits deshalb unzulässig, weil Herr („Name 01“) nach seinem eigenen Vorbringen nicht Verletzter der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat ist. Für eine strafrechtlich relevante Einbuße oder Gefährdung von Rechtsgütern des Herrn („Name 01“), namentlich seiner körperlichen Unversehrtheit und seines Eigentums, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Das Klageerzwingungsverfahren kann aber nur betreiben, wer Verletzter ist, § 172 Abs. 1 S. 1 StPO.

2. Auch der von Herrn („Name 01“) als gerichtlich bestellter Betreuer für seinen Sohn („Name 02“) gestellte Antrag erweist sich als unzulässig.

a) Soweit sich der Antrag auf die Straftatbestände der (fahrlässigen) Körperverletzung, der Nötigung und der Sachbeschädigung, §§ 223, 229, 240, 303 StGB, bezieht, ist er bereits deshalb unzulässig, weil es sich bei den genannten Delikten um Privatklagedelikte nach § 374 Abs. 1 Ziff. 4, 5 und 6 StPO handelt, die im Wege des Klageerzwingungsverfahrens nach § 172 StPO nicht verfolgt werden können.

Zwar ist der Klageerzwingungsantrag gemäß § 172 Abs. 2 S. 3 StPO nur unzulässig, wenn das Verfahren ausschließlich ein Privatklagedelikt zum Gegenstand hat, der Antrag bleibt aber hinsichtlich dieses Delikts auch dann unzulässig, wenn das Privatklagedelikt in Tateinheit mit einem Offizialdelikt begangen worden sein soll, hinreichender Tatverdacht wegen des Offizialdelikts jedoch nicht besteht (Senat, Beschluss vom 11. Dezember 2008 – 1 Ws 225/08 – Rz. 4; OLG Stuttgart Justiz 1990, 372; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, zu § 172, Rz. 2).

So liegt der Fall hier. Ein Tatverdacht gegen den Beschuldigten wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, § 315 b Abs. 1 Ziff. 2 und 3 StGB, liegt aus den in dem Bescheid des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg vom 04. Juni 2025 genannten Gründen nicht vor. Hierzu bedarf es eines von außen in den Straßenverkehr einwirkenden verkehrsfremden Eingriffs (BGHSt 48, 233). Nimmt der Täter selbst am fließenden Verkehr teil, ist dieses Erfordernis nur dann erfüllt, wenn er sein Fahrzeug bewusst zweckwidrig in verkehrswidriger Absicht einsetzt („verkehrsfremder Inneneingriff“, vgl. Fischer, StGB, 72. Auflage, zu § 315 b, Rz. 9 b). Dafür liegen keine Anhaltspunkte vor.

b) Bezogen auf eine Strafbarkeit des Beschuldigten nach § 315 c Abs. 1 StGB fehlt auch dem Antragsteller („Name 02“) die Verletzteneigenschaft.

Das dem Beschuldigten vorgeworfene Vergehen der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung nach § 315 c Abs. 1 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt mit doppelter Schutzrichtung: Einerseits soll die Sicherheit des Straßenverkehrs als Rechtsgut der Allgemeinheit gewährleistet werden, andererseits sollen Individualrechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum bereits im Vorfeld, also im Gefährdungsstadium, vor Schädigungen bewahrt werden (vgl. dazu Fischer a. a. O., zu § 315c Rz. 2 m. w. N.). Soweit § 315 c StGB Individualrechtsgüter bereits im Vorfeld schützt, sind die Rechtsgutträger bei lediglich konkreter Gefährdung des Rechtsguts nicht unmittelbar Verletzte im Sinne des § 172 Abs. 1 S. 1 StPO (OLG Stuttgart NJW 1997, 1320 zu § 172; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O., zu § 172, Rz. 12). Die durch Straßenverkehrsstraftatbestände geschützten Individualrechtsgüter sind vielmehr in aller Regel solche, deren Verletzung im Wege des Privatklageverfahrens verfolgt werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einstellt.

Das gilt auch für die in § 315 c StGB durch einen konkreten Gefährdungstatbestand geschützte körperliche Unversehrtheit, da die fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229 StGB ein Privatklagedelikt ist, für welches das Klageerzwingungsverfahren nach § 172 Abs. 2 S. 3 StPO ausgeschlossen ist. Diese gesetzlich angeordnete Begrenzung der zur Klageerzwingung berechtigenden Straftatbestände würde unterlaufen, wenn demjenigen, der schon als unmittelbar Verletzter kein Recht zum Betreiben des Klageerzwingungsverfahrens hätte, ein solches Recht eingeräumt würde, obwohl er in seinem Rechtsgut, etwa in seiner körperlichen Unversehrtheit, lediglich konkret gefährdet worden ist. Wer schon als körperlich Verletzter keine Antragsbefugnis hätte, kann sie als lediglich Gefährdeter erst recht nicht haben (OLG Stuttgart, Beschluss vom 20. Dezember 1996 – 1 Ws 189/96 – Rz. 3 ff., juris = NJW 1997, 1320; Senat, Beschluss vom 17. März 2008 – 1 Ws 125/07 – Rz. 3, juris = VRS 114, 373).

Anderes gilt nur dann, wenn nach dem zugrundeliegenden Sachverhalt ein tödlicher Ausgang des Verkehrsunfalls nahe lag. Das Argument, der Schutz des lediglich konkret Gefährdeten dürfe nicht weiter reichen als derjenige des tatsächlich Verletzten, greift dann nicht durch, weil das Privatklageverfahren wegen fahrlässig begangener Tötungsdelikte unstatthaft ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 30. August 2004- 2Ws181/04- Rz. 2, juris = NStZ-RR 2004, 369; Senat a. a. O.). Hier liegen für einen tödlichen Ausgang des Unfalls allerdings entgegen der Auffassung der Antragsteller keine tragfähigen Anhaltspunkte vor.

3. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Klageerzwingungsantrag im Fall seiner Zulässigkeit als unbegründet hätte zurückgewiesen werden müssen, da aus den Gründen der Bescheide der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 04. Februar 2025 und des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg vom 04. Juni 2025, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen insgesamt verwiesen wird, ein zur Aufnahme weiterer Ermittlungen erforderlicher Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) nicht gegeben ist und daher die Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO zu Recht erfolgt ist.“

 

Wiedereinsetzung III: Begründung des Antrags, oder: Angaben zum Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses?

Frist Termin

Und dann kommt hier noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 30.07.2025 – 1 ORbs 134/25. Also Wiedereinsetzung im OWi-Verfahren. Die vom OLG entschiedene – nicht neue – Frage gilt aber auch für das Strafverfahren.

Das AG hat mit Urteil vom 12.03.2025 den Betroffenen in Anwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 1 StVG zu einer Geldbuße in Höhe von 500,00 EUR verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Am 03.04.2025 beantragte der Betroffene über seinen Verteidiger Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerdefrist. Zur Begründung macht er geltend, sein Verteidiger habe versehentlich einen Schriftsatz aus einem anderen Verfahren an das Bußgeldgericht versandt, versendet werden sollen habe eine Rechtsbeschwerdeschrift. Gleichzeitig zu seinem Wiedereinsetzungsantrag legt der Betroffene Rechtsbeschwerde gegen das Urteil ein, die er mit Anwaltsschriftsatz vom 22.04.2025 begründet.

Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen:

„1. Die nach § 79 Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 und 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

Gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG in Verbindung mit § 341 Abs. 1 StPO muss die Rechtsbeschwerde binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden. Die Wochenfrist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gegen das am 12. März 2025, einem Mittwoch, verkündete Urteil endete gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 StPO, § 341 Abs. 1 StPO mit Ablauf des 19. März 2025. Die erst am 03. April 2025 bei Gericht angebrachte Rechtsbeschwerde war sonach verfristet.

2. Die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde kann nicht über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geheilt werden. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde erweist sich seinerseits als unzulässig.

Gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 45 Abs. 2 StPO sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Antragsstellung darzulegen und glaubhaft zu machen. Der Antrag muss nicht nur die versäumte Frist und den Hinderungsgrund für ihre Einhaltung darlegen, sondern auch Angaben über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses enthalten (vgl. BGH NStZ-RR 2922, 378 f.; OLG Köln NStZ-RR 2002, 142; OLG Düsseldorf VRS 82, 195). Das gilt auch dann, wenn der Verteidiger ein eigenes Verschulden geltend macht (vgl. BGH a. a. O.). Die Begründung des Antrags erfordert grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung aller zwischen dem Beginn und dem Ende der versäumten Frist liegenden Umstände, die für die Frage bedeutsam sind, wie und gegebenenfalls durch wessen Verschulden es zur Versäumnis gekommen ist. Die mitgeteilten Umstände müssen das Gericht in die Lage versetzen, ohne den Fortgang des Verfahrens verzögernde Ermittlungen über das Gesuch zu entscheiden (vgl. KK-Schneider-Glockzin, StPO. 9. Auflage, zu § 45, Rz. 6 m. w. N.). Diese Angaben sind Zulässigkeitsvoraussetzung für den Wiedereinsetzungsantrag nach § 46 Abs. 1 OWiG, § 45 Abs. 2 StPO.

Diesen Anforderungen genügt das Wiedereinsetzungsgesuch des Betroffenen nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg führt in ihrer Stellungnahme vom 02. Juli 2025 hierzu wird folgt aus:

„Nach § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 44 Abs. 1 Satz 1 StPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht zu stellen, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre. Die Tatsachen zur Begründung des Antrages sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Die versäumte Handlung ist nach § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO innerhalb der Antragsfrist von einer Woche nachzuholen.

Der Verteidiger hat vorgetragen, er habe versehentlich einen Schriftsatz aus einem anderen Verfahren versandt. Tatsächlich habe er die Rechtsbeschwerde erklären wollen. Dieser Sachvortrag reicht nicht aus, um einen Ausschluss des Verschuldens und die Einhaltung der Antragsfrist hinreichend glaubhaft zu machen. Der Verteidiger hat nicht vorgetragen, an welchem Tag er die vermeintliche Rechtsbeschwerde abgesandt hat. Es kann deshalb nicht überprüft werden, ob das irrtümlich abgesandte Schreiben innerhalb der nach § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 341 Abs. 1 StPO einzuhaltenden Rechtsmittelfrist von einer Woche abgesandt worden ist. Der Verteidiger hat auch nicht dargelegt, an welchem Tag er den Irrtum bemerkt hat. Ab diesem Tag ist der Wegfall des Hindernisses eingetreten. Die versäumte Handlung ist nach § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 StPO innerhalb einer Woche nachzuholen. Ob der Verteidiger diese Frist eingehalten hat, kann nach seinem Sachvortrag nicht überprüft werden. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Rechtsbeschwerdefrist ist daher als unzulässig zu verwerfen.“

Diese Ausführungen entsprechen der Sach- und Rechtslage, der Senat schließt sich ihnen an.“

Wenn es schief läuft, läuft es dann aber auch richtig schief. Und das bei einem Urteil mit Fahrverbot. ???

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: OLG Brandenburg bejaht auch

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Im zweiten Posting habe ich dann einen Beschluss zur rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers. Es handelt sich um den OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.08.2025 – 1 Ws 77/25 S -, das die rückwirkende Bestellung – als weiteres OLG – als zulässig angesehen hat. Dabei steht allerdings die Begründung des OLG im umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung der entschiedenen Frage in der Praxis. Allerdings: Was soll man zu dem Thema auch noch mehr schreiben? Dazu ist ja alles geschrieben, was dazu zu sagen ist. Und hinzu kommt, dass das OLG sich der richtigen Auffassung angeschlossen hat.

Das OLG führt (nur) aus:

„Die Entscheidung über die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO. Im Hinblick auf die Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung im Anschluss an die Richtlinie 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (RL 2016/1919/EU, ABI. L 297/1 vom 04. November 2016) ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers möglich, wenn dessen Bestellung – wie hier – eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Der Senat schließt sich insoweit der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 06. November 2020, Ws 962/20, StraFo 2021, 71) an.“

Über den vom OLG Brandenburg in Bezug genommenen OLG Nürnberg, Beschl. v. 06.11.2020 – Ws 962/20 – hatte ich natrülich auch hier berichtet (vgl. hier: Pflichti IV: Nachträgliche Bestellung, oder: In Bayern – OLG Nürnberg – ordnet man bei – Überraschung).