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OWI II: Fahreridentifizierung, oder: Verlesung der Datenzeile ist keine Inaugenscheinnahme des Fotos

Bei der zweiten OWi-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 27.02.2020 – III – 5 RBs 63/20. Er „behandelt“  die Verlesung der sog. Datenzeile eines Messfotos und grenzt die von die Inaugenscheinnahme eines Messfotos ab.

Das AG hat den Betroffenenwegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt. Dabei hat es sich wegen der Fahrereigenschaft des Betroffenen auf das Messfoto bezogen. Gegen die Verurteilung die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der mit der Verfahrensrüge geltend gemacht wird, das AG habe sich bei der Urteilsfindung auf ein Lichtbild, nämlich das Messfoto, gestützt, das nicht ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sei. Also: Inbegriffsrüge nach § 261 StPO i.V.m. §§ 249 ff. StPO, 77, 77a, 78 OWiG. Die Rüge hat Erfolg:

„Die entsprechenden Rügetatsachen (Nichtinaugenscheinnahme des in den Urteilsgründen in Bezug genommenen Lichtbildes BI. 4 d.A.) sind durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen. Bei der Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. § 273 Rn. 7 m. w. N.), so dass der Nachweis hierüber – bzw. über ihr Fehlen – durch das Hauptverhandlungsprotokoll geführt werden kann.

Schweigt das Hauptverhandlungsprotokoll über die Inaugenscheinnahme – wie vorliegend -, so gilt diese als nicht erfolgt.

Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls wurde lediglich das Datenfeld des Messfotos BI. 4 d. A. durch Bekanntgabe seines wesentlichen Inhalts gemäß § 78 Abs. 1 S. 1 OWiG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 04.02.2020 hierzu unter Verweis auf eine Entscheidung des OLG Zweibrücken (Beschluss vom 28.02.2018 — 1 Owi 2 Ss Bs 106/17) die Ansicht vertritt, dass die Verlesung der Datenzeile die Inaugenscheinnahme des Messfotos ebenso umfassen müsse, wie die Inaugenscheinnahme des Messfotos die Einführung der Datenzeile -in die Hauptverhandlung beinhalte, kann dem nicht gefolgt werden. Das OLG Zweibrücken führt in der zitierten Entscheidung lediglich zutreffend und in Anschluss an die Rechtsprechung des BGH aus, dass, wenn sich ausnahmsweise der gedankliche Inhalt einer Urkunde auf einen Blick erfassen lässt, deren Inaugenscheinnahme auch deren Inhalt zum Gegenstand der Hauptverhandlung macht. Erschließt sich der Text bereits aus einem flüchtigen Betrachten der Urkunde bei der Inaugenscheinnahme, kann dessen Bedeutung nicht ausgeblendet werden und ist dieser mithin Bestandteil der diesbezüglichen Beweisaufnahme (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 28.02.2018 — 1 Owi 2 Ss Bs 106/17 = BeckRS 2018, 3367, beck-online). Umgekehrt kann dies jedoch nicht gelten. Während der Inhalt von Urkunden gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 StPO durch Verlesen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird, d.h. durch unmittelbares Umsetzen von Schrift- und Zahlenzeiehenin Worte (bzw. in Gedanken in der Ersatzform des Selbstlesens nach § 249 Abs. 2 S. 1 StPO), erfolgt der Augenschein durch sinnliche Wahrnehmung, nämlich Sehen, Hören, Schmecken, Riechen oder Befühlen (vgl. zur Abgrenzung BayObLG, Beschluss vom 06.03.2002 ­1 ObOWi 41/02 = NZV 2002, 379, beck-online). Durch das Erfordernis des Verlesens einer Urkunde in der Hauptverhandlung kommt zum Ausdruck, dass es nicht auf den optischen Eindruck des Schrift- bzw. Ziffernträgers ankommt sondern auf dessen gedanklichen Inhalt, der den Verfahrensbeteiligten durch Verlesung zur Kenntnis gebracht werden soll. Käme es im Einzelfall doch auf den optischen Eindruck an, müsste der Schriftträger zum Gegenstand der Inaugenscheinnahme gemacht werden (BayObLG a.o.a.O.). Die optische Wahrnehmung des den Fahrer zeigenden Lichtbildes, kann — jedenfalls zum Zwecke der Identifizierung des Fahrers — nicht durch die bloße Bekanntgabe durch die Vorsitzende ersetzt werden. Der optische Gesamteindruck muss — anders als die Datenzeile im Rahmen der Inaugenscheinnahme des Gesamtbildes — nicht im Rahmen der Mitteilung der Datenzeile durch die Vorsitzende von den Verfahrensbeteiligten zwingend mit erfasst werden.

Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil auch. Denn das Amtsgericht hat ausdrücklich das Messfoto BI. 4 d. A. zum Beweis der Fahrereigenschaft des Betroffenen zum Tatzeitpunkt herangezogen. Dieses Bild ist auch nicht identisch mit dem Bild auf Bl. 3 d. A., was der Senat aufgrund der zulässig erfolgten Bezugnahme auf beide Bilder in den Urteilsgründen nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 S. 3 StPO, vgl. BI. 5 des Urteils, 3. Abs. am Ende, selbst beurteilen kann. Auf den Bildern im Fallprotokoll, welches in Augenschein genommen wurde, wurden nämlich die Gesichter der Beifahrer durch ein weißes Rechteck unkenntlich gemacht. Auf die fehlende Ähnlichkeit der Beifahrer mit dem Betroffenen hat das Amtsgericht in seinen Ausführungen zu dessen Fahrereigenschaft jedoch ausdrücklich Bezug genommen. Das Amtsgericht hat sich seine Überzeugung daher nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet, so dass das angefochtene Urteil der Aufhebung unterliegt.“

Und: Auf ein Neues 🙂 .

BGH I: Die in der HV in Augenschein genommene Videoaufzeichnung, oder: Unzulässige Rüge

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Dehani bandara – Eigenes Werk

Die 50. KW/2010 – das Jahr neigt sich nun wirklich dem Ende zu – eröffne ich mit zwei verfahrensrechtlichen Entscheidungen des BGH. Beides sind schon etwas älter

Zunächst weise ich hin auf den BGH, Beschl. v. 19.06.2019 – 4 StR 489/18. Der Angeklagte hatte gegen seine Verurteilung geltend gemacht, das Landgericht habe § 261 StPO verletzt, weil es eine in der Hauptverhandlung in Augenschein genommene Videoaufzeichnung des Tatgeschehens unzutreffend gewürdigt habe.

Dazu der BGH:

„Es kann dahinstehen, ob die Verfahrensbeanstandung bereits nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise erhoben ist, weil es sich bei den von der Revision vorgelegten Standbildern nicht um das in Rede stehende Beweismittel – die Videoaufzeichnung – handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2018 – 4 StR 58/18, juris, Rn. 23).

Unbeschadet davon ist die Rüge jedoch deshalb unzulässig, weil die Frage, welcher Bedeutungsgehalt der Videoaufzeichnung des abgebildeten hochdynamischen Geschehens selbst oder Standbildern hiervon zukommt, in beiden Fällen gleichermaßen eine Bewertung erfordert, die allein Sache des Tatrichters im Rahmen der ihm obliegenden Gesamtwürdigung und daher ohne eine Rekonstruktion der Beweisaufnahme im Revisionsverfahren nicht überprüfbar ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. April 2003 – 1 StR 64/03, BGHSt 48, 268, 273; vom 19. Dezember 1995 – 4 StR 170/95, BGHSt 41, 376, 380; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 418; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 261 Rn. 38b).

OWI III: Die Datenzeile auf dem Messfoto, oder: Inaugenscheinnahme oder Verlesung?

Die Frage: Muss die Datenzeile auf einem Messfoto gesondert verlesen werden oder reicht die Inaugenscheinnahme, ist in der Rechtsprechung der OLG umstritten. Das OLG Stuttgart geht im OLG Stuttgart, Beschl. v. 04.09.2018 – 6 RB 16 Ss 469/18 – davon aus: Inaugenscheinnahme reicht.

„Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier verwendeten Messgerät PoliScan Speed handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren. Fließen in die Ge­schwindigkeitsmessung — wie hier — Einzelmessungen ein, deren Ortskoordinaten geringfügig außerhalb des von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zuge­lassenen Messbereichs liegen, begründet dies für sich genommen grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, die Messung durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen (OLG Karlsruhe 2 Rb 8 Ss 246/17, Beschluss vom 26. Mai 2017, Leitsatz und Rn. 13 zit. nach juris; vgl. auch OLG Bamberg 3 Ss OWi 976/17, Beschluss vom 24. Juli 2017, Rn. 3 und OLG Zweibrücken 1 OWi 2 Ss Bs 106/17, Beschluss vom 28. Februar 2018, jeweils zit. nach juris).

Soweit die Rechtsbeschwerde der Sache nach rügt, dass die Datenzeile auf dem in Augenschein genommenen Messfoto nicht gesondert — etwa durch Verlesung — in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, trifft dies zwar zu. Die Inaugenscheinnah­me genügt jedoch ausnahmsweise dann, wenn sich auch der gedankliche Inhalt der Urkunde durch einen Blick erfassen lässt (hierzu BGH NStZ 2014, 606 f.; eben­so KG Berlin, NStZ-RR 2016, 27 f.).“

M.E. fraglich, da m.E. nicht der „eine Blick“ reicht.

OWi III: Inaugenscheinnahme des Betroffenen in der HV, oder: Protokollierungspflicht?

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Und zum Abschluss des OWi-Tages dann noch den KG, Beschl. v. 28.02.2018 – 3 Ws (B) 35/18 – ebenfalls zu einer Protokollierungsfrage, nämlich dazu, ob die Inaugenscheinnahme des Betroffenen in der Hauptverhandlung protokollierungspflichtig ist oder nicht. Das KG sagt, nein:

„Der Schriftsatz des Verteidigers vom 13. Februar 2018, mit dem er wahrheitswidrig zum Hauptverhandlungsprotokoll vorträgt, lag vor, gab aber zu einer anderen Bewertung keinen Anlass. Die Niederschrift weist aus: „Bl. 2 ff – Lichtbilder – wurden allseits in Augenschein genommen und erörtert.“

Die Generalstaatsanwaltschaft weist in ihrer Zuschrift im Übrigen zutreffend darauf hin, dass die Augenscheinseinnahme eines Betroffenen kein Umstand ist, der als wesentliche Förmlichkeit nach §§ 274 StPO, 71 OWiG in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen wäre (vgl. Thüringer OLG VRS 114, 447).“

OWi II: Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes, oder: Protokollierungspflicht?

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Als zweite OWi-Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 06.04.2018 – III -5 RBs 51/18 -betreffend eine Protokollierungsfrage. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, der wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt worden ist, hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift vom 09.03.2018 u.a. Folgendes ausgeführt:

„Mit der erhobenen Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe sich bei der Urteilsfindung auf Lichtbilder gestützt, die nicht ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien, macht der Betroffene geltend, das Amtsgericht habe seine Überzeugung nicht allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft und rügt damit einen Verstoß gegen § 261 StPO i.V.m. §§ 249 ff. StPO, 77, 77a, 78 OWiG.

Die in einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 StPO genügenden Form erhobene Rüge ist auch begründet.

Die entsprechenden Rügetatsachen (Nichtinaugenscheinnahme der Lichtbilder) sind durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen. Bei der Inaugenscheinnahme eines Lichtbildes handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung (zu vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 23.02.2015 – 2 OLG 6 Ss 5/15 0, so dass der Nachweis hierüber – bzw. über ihr Fehlen – durch das Hauptverhandlungsprotokoll geführt werden kann, Schweigt das Hauptverhandlungsprotokoll über die Inaugenscheinnahme – wie vorliegend – so gilt diese als nicht erfolgt. Zwar entfällt die Beweiskraft, wenn eine Urkundsperson oder beide den Inhalt des Protokolls nachträglich für unrichtig erklären, so dass es von ihrer Unterschrift nicht mehr gedeckt ist. Lediglich die einseitige Erklärung einer der Urkundspersonen beseitigt die Beweiskraft des Protokolls aber nicht, wenn damit die tatsächliche Grundlage für eine Verfahrensrüge des Betroffenen entfällt (zu vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 274 Rn. 16). So verhält es sich vorliegend. Zwar hat die Vorsitzende in einer dienstlichen Stellungnahme vom 25.09.2017 angegeben, entgegen dem Vorbringen des Betroffenen seien sowohl das Messbild als auch die Vergleichsbilder im Hauptverhandlungstermin in Augenschein genommen worden. Allerdings konnte dies durch die Protokollführerin, die angegeben hat, sich hieran konkret nicht mehr erinnern zu können, nicht bestätigt werden.

Auf diesem Verfahrensfehler beruht das Urteil auch. Denn das Amtsgericht hatte das Messfoto und die Vergleichsbilder zum Beweis der Fahrereigenschaft des Betroffenen zum Tatzeitpunkt erhoben. Das Amtsgericht hat sich seine Überzeugung daher nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet, so dass das angefochtene Urteil der Aufhebung unterliegt.“