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StGB III: Gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr, oder: Feststellungen und Fahrlässigkeit

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Und dann noch der OLG Köln, Beschl. v. 04.04.2024 – 1 ORs 45/24, und zwar zum gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr.

Zum Tatgeschehen hat das AG Folgendes festgestellt:

„Die Betroffene befuhr am 06.05.2022 mit einem Pkw Audi R8 mit dem amtlichen Kennzeichen pp. unter anderem den Rheinparkweg in Köln. Sie befand sich mit ihrem Ehemann auf der Rückfahrt von einem Konzert vom Tanzbrunnen. Sie fuhr das Fahrzeug nicht oft. Bei der Ausfahrt aus dem dortigen Kreisverkehr auf den Auenweg gegen 23:33 Uhr beschleunigte die Angeklagte den Pkw zu stark. Nach 300 m brach das Heck des Fahrzeugs aus und die Angeklagte verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Der Pkw fuhr unkontrolliert über die Gegenspur und den Gehweg. Hinter dem Gehweg befand sich, abgetrennt durch einen Gitterzaun und Sträucher, das Gleisbett des [gemeint: der] Deutschen Bahn AG. Der Pkw durchbrach den Zaun und das Gebüsch und befand sich sodann auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG, wobei er in den Schienenverkehr hineinragte. Nachdem die Zugstrecke durch die Polizei gesperrt worden war, näherte sich gleichwohl gegen 23:44 Uhr, als sich die Polizeibeamten und der Ehemann der Angeklagten dem Fahrzeug genähert und die Papiere aus dem Handschuhfach entnommen hatten, ein ICE auf den Gleiches [wohl gemeint: „Gleisen].“ Der Zugführer übersah den dort befindlichen Pkw und touchierte die Front des Pkw mit einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h, wodurch diese erheblich beschädigt wurde. Am ICE entstand nur ein leichter Sachschaden. Der Zusammenstoß war von dem Zugführer gar nicht bemerkt worden.“

Verurteilt worden ist wegen Verstoßes gegen § 315 Abs. 1 Nr. 2 StG. Die Sprungrevision hatte Erfolg. Dem OLG genügen die Feststellungen des AG nicht:

„a) Zunächst bestehen allerdings keine Bedenken, soweit das Amtsgericht davon ausgegangen ist, dass die Angeklagte ein Hindernis im Sinne von § 315 Abs. 1 Nr. 2 StGB bereitet hat, indem sie infolge zu starker Beschleunigung die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren hat, welches daraufhin unkontrolliert über die Gegenspur und den Gehweg fuhr, einen Gitterzaun und das Gebüsch durchbrach und sich daraufhin auf dem Gelände der Deutschen Bahn AG befand, wo es in den Schienenverkehr hineinragte.

Unter einem Hindernisbereiten ist jede Einwirkung im Verkehrsraum zu verstehen, die geeignet ist, den reibungslosen Verkehrsablauf zu hemmen oder zu verzögern (BGH NStZ-RR 2020, 183 m.w.N.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 9 m.w.N.). In Fällen, in denen ein Fahrzeug – wie hier – auf die Schienen gelangt, ist die Erfüllung dieses Tatbestandes besonders augenfällig (BGH NJW 1959, 1187).

b) Auch kann aufgrund der getroffenen Feststellungen davon ausgegangen werden, dass das Verhalten der Angeklagten zu einer Beeinträchtigung der Sicherheit des Schienenbahnverkehrs geführt hat.

Die Verkehrssicherheit ist beeinträchtigt, wenn die normale abstrakte Verkehrsgefahr gesteigert worden ist (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 13 m.w.N.). Dies ist in Anbetracht der erfolgten Kollision zwischen ICE und Pkw belegt.

c) Demgegenüber wird der Eintritt einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben anderer Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert im Urteil nicht tragfähig begründet.

Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (BGH NStZ 2022, 228; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 14). Ist ein Schaden tatsächlich eingetreten, kann die (zuvor konkret drohende) Gefahr nicht geringer, wohl aber größer gewesen sein (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16b).

Das Amtsgericht begründet die Annahme einer konkreten Gefährdung mit der Erwägung, dass ein Zusammenstoß mit einem schienengeführten Verkehrsmittel (immer) die konkrete Gefahr des Entgleisens und dadurch entstehenden ungleich größeren Schäden beinhalte.

Nach obigen Maßgaben ist ein konkreter Gefahrerfolg hierdurch nicht belegt.

Zwar mag es naheliegen, dass im Falle einer Zugentgleisung erhebliche Gefahren für die Zuginsassen und für fremde Sachen von bedeutendem Wert drohen. Fahrgäste eines Zuges sind nicht angeschnallt. Nicht selten stehen sie oder bewegen sich in den Abteilen und Gängen, so dass im Falle einer Zugentgleisung Stürze und Verletzungen zu besorgen sind (vgl. OLG Oldenburg NStZ 2005, 387 zum Fall einer erzwungenen Notbremsung eines etwa 80 km/h schnell fahrenden Eisenbahnzuges).

Jedoch muss die Annahme eines Beinahe-Unfalls in der konkreten Tatsituation nachvollzogen werden können. Hierfür genügt es nicht, auf allgemeine Gefahren von Entgleisungen abzustellen. Vielmehr hätte dargelegt werden müssen, dass in der konkreten Tatsituation die konkrete Gefahr einer Entgleisung bestand, so dass es nur noch vom Zufall abhing, ob Rechtsgüter verletzt wurden. Insoweit hätte es einer Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Einzelfalles bedurft.

Dem Urteil lässt sich hierzu lediglich entnehmen, dass der ICE mit einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h herangenaht war und der Lokführer den Pkw übersehen haben soll. Zudem wird mitgeteilt, der Pkw habe „in den Schienenverkehr hineingeragt“. Nicht dargestellt wird jedoch, wie weit der Pkw in den Schienenverkehr hineinragte, ob also das Fahrzeug beispielsweise nur wenige Zentimeter in das Gleisbett hineinragte oder ob es sich etwa mittig auf dem Schienenkörper befand. Ohne Kenntnis der genauen Einzelfallumstände ist der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht nachzuvollziehen.

Der Gefahrerfolg lässt sich auch nicht anhand der weiteren Urteilsbegründung ableiten: Ausweislich der Urteilsgründe hat es keine Personenschäden gegeben. Am ICE soll durch den Zusammenstoß „nur leichter Sachschaden“ entstanden sein. Zwar handelt es sich bei dem ICE zweifellos um eine fremde Sache von bedeutendem Wert. Die Höhe des am ICE entstandenen Sachschadens wird indes weder beziffert noch sonst in einer Weise beschrieben, dass der Senat davon auszugehen vermag, dass an dem ICE bedeutender Schaden entstanden ist. Dass einer fremden Sache von bedeutendem Wert nur ein unbedeutender Schaden droht, reicht für die Verwirklichung des Tatbestandes nicht (BGH NJW 1990, 194f.; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16b).

Hinsichtlich des von der Angeklagten gefahrenen Fahrzeugs teilt das Amtsgericht mit, dass dessen Front durch den Zusammenstoß mit dem ICE „erheblich“ beschädigt worden sei. Unabhängig von der nicht einheitlich beantworteten Frage, ob das von dem Täter selbst geführte Fahrzeug im Rahmen von § 315 Abs. 1 StGB überhaupt taugliches Gefährdungsobjekt sein kann (vgl. hierzu näher Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315 Rdn. 16; Pegel in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. § 315 Rdn. 70 ff.), teilt das angefochtene Urteil nicht mit, in wessen Eigentum der Pkw stand, so dass jedenfalls schon nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Angeklagte selbst Eigentümerin des Fahrzeugs, mithin das Fahrzeug nicht „fremd“ ist.

2. Auch die Feststellungen zur Fahrlässigkeit sind lückenhaft. Hierauf weist die Verteidigung zu Recht hin.

a) Anhand der Urteilsgründe kann zunächst allerdings nachvollzogen werden, dass die Angeklagte objektiv sorgfaltswidrig handelte, indem sie den von ihr gefahrenen Pkw, den sie nicht oft fuhr, nach der Ausfahrt aus dem Kreisverkehr „zu stark“ beschleunigte, so dass sie über diesen die Kontrolle verlor und das Fahrzeug unkontrolliert über die Gegenfahrbahn und den Gehweg bis in das Gleisbett schleuderte. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVO darf derjenige, der ein Fahrzeug im Straßenverkehr führt, nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Nach § 3 Abs. 1 S. 2 StVO ist die Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Hiergegen hat die Angeklagte ersichtlich verstoßen.

b) Nicht hinreichend belegt wird jedoch, dass der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges für die Angeklagte – als mit den Örtlichkeiten nicht vertraute Fahrerin – zur Tatzeit vorhersehbar gewesen ist.

Ein (objektiv) fahrlässiges Verhalten verlangt, dass der wesentliche Kausalverlauf und der eingetretene Erfolg nicht so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung liegen dürfen, dass vernünftigerweise nicht damit gerechnet werden brauchte (BGHSt 12, 75). Dabei müssen nicht alle Einzelheiten des Geschehensablaufs prognostiziert werden können; es genügt, dass der Erfolg im Endergebnis voraussehbar gewesen ist (OLG Nürnberg NStZ-RR 2006, 248).

Das Amtsgericht trifft zu dieser Frage keine ausreichenden Feststellungen.

Es beschränkt sich auf die allgemeine Erwägung, in einer Großstadt müsse stets damit gerechnet werden, dass hinter einem Zaun auch Schienen verlaufen können.

Dem vermag der Senat – in dieser Allgemeinheit – nicht zu folgen.

Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrer Vorlageverfügung zutreffend aus, dass darzulegen gewesen wäre, warum die mit den Örtlichkeiten nicht vertraute Angeklagte zur Tatzeit damit hätte rechnen müssen, bei pflichtwidriger Beschleunigung und Kontrollverlust über das schleudernde Fahrzeug in das Gleisbett der Deutschen Bahn zu gelangen und dort ein Hindernis für den Bahnverkehr zu bereiten. Hierfür hätte es näherer Feststellungen zu den örtlichen Gegebenheiten, der Lichtverhältnisse und der Erkennbarkeit der Bahnstrecke bedurft. Ohne eine nähere Beschreibung der Tatörtlichkeit und einer Auseinandersetzung mit der Frage, was für einen Autofahrer, der die Örtlichkeiten nicht kennt, in der konkreten Tatsituation vorhersehbar gewesen ist, vermag der Senat nicht nachzuprüfen, ob das Geschehen möglicherweise so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung lag, dass ein mit den Örtlichkeiten nicht vertrauter Autofahrer vernünftigerweise nicht damit hatte rechnen müssen…..“

OWi I: Tatü, tata, die Polizei ist mit Blaulicht da, oder: Sofort freie Bahn für Einsatzfahrzeuge

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Ich stelle heute dann drei Owi-Entscheidungen vor, und zwar zweimal AG, einmal AG.

Der Start findet hier statt mit dem AG Landstuhl, Urt. v. 02.02.2024 – 3 OWi 4211 Js 9376/23. Es geht um einen Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO – nämlich Missachtung des Gebots, einem Einsatzfahrzeug (der Polizei usw.) sofort freie Bahn zu schaffen. Dabei geht es um die Frage: Vorsatz oder Fahrlässigkeit.

Folgende Feststellungen des AG: Der Betroffene war am 12.02.2023 als Führer eines PKW auf der BAB 6, Fahrtrichtung Saarbrücken unterwegs. Dort fuhr er auf Höhe des km 634 auf der linken von zwei vorhandenen Fahrspuren. Hinter ihm näherte sich mit aktivierten optischen und akustischen Signalen ein Einsatzfahrzeug der Polizei. Der Betroffene verließ jedoch die linke Spur nicht, sodass das Einsatzfahrzeug, das vom Zeugen PHK pp. gesteuert wurde, eine Weile lang hinter dem Fahrzeug des Betroffenen herfahren musste, dies mit der vor Ort geltenden Geschwindigkeit, erst mit Tempo 100, dann 80 km/h vor der stationären Messtelle bei km 632,280. Selbst auf das zusätzliche Betätigen der Lichthupe und der akustischen Hupe hat der Betroffene die linke Spur nicht freigegeben. Erst nach einiger Zeit bemerkte der Betroffene das hinter ihm fahrende Einsatzfahrzeug und wich alsdann direkt auf die rechte Spur aus, sodass das Einsatzfahrzeug passieren konnte.

Der Betroffene hat sich zur Sache wie folgt eingelassen: Er habe irgendwann eine Sirene gehört und habe gedacht, das komme aus dem Radio, dann habe er einen Schulterblick gemacht, das Fahrzeug gesehen und seinen Wagen nach rechts auf die andere Fahrspur gerissen. Er habe sich mit seiner Frau unterhalten und Radio gehört und den Einsatzwagen vorher nicht bemerkt.

Das AG ist von einem fahrlässigen Verstoß ausgegangen:

„Ein vorsätzliches Verhalten ist dem Betroffenen hier nicht anzulasten. Die verspätete Reaktion auf die Signale des Einsatzfahrzeugs waren auch ausweislich des Eindrucks des Zeugen pp. nicht willentlich, sondern die von der Sicht des Zeugen pp. erkennbare erste Reaktion erfolgte schlicht zu spät, war dann aber von einer sofortigen Wegfreigabe gefolgt. Der Betroffene hätte aber bei gehöriger Aufmerksamkeit das Einsatzfahrzeug aufgrund der genutzten Signale wahrnehmen müssen, sodass von fahrlässigem Verhalten auszugehen ist.

Jeder Verkehrsteilnehmer muss darauf achten, dass er nicht aufgrund zu lauter Geräusche, etwa durch Musik, oder durch nicht von Schnee oder Eis befreite Fenster die blauen Blinklichter oder das Einsatzhorn nicht rechtzeitig wahrnehmen kann (AG Villingen-Schwenningen BeckRS 2014, 14098; KG NZV 1998, 27). Auch eine zu langsame Reaktion auf ein unter allen Signalen fahrendes Einsatzfahrzeug ist pflichtwidrig, wenn wie hier die Aufmerksamkeit des auf der linken Spur fahrenden Betroffenen durch Gespräche und Radio aktiv und bewusst vermindert wird (OLG Naumburg BeckRS 2009, 09958). Fahrzeugführer müssen dafür sorgen, dass sie das Einsatzhorn jederzeit hören können (KG NZV 1992, 456). Dies hat der Betroffene hier missachtet.“

Kann man so sehen. Kann man m.E. aber auch einstellen. Und ein Regelfahrverbot muss man auch nicht unbedingt verhängen.

StGB III: Passloser Aufenthalt in der Bundesrepublik, oder: Vorsatz, da echtes Unterlassungsdelikt

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Und dann zum Tagesschluss noch das – schon etwas ältere – AG Stralsund, Urt. v. 30.08.2021 – 342 Cs 32/19. Ich habe es aber auch erst vor kurzem übersandt bekommen. Es geht um einen Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthaltsG, also passloser Aufenthalt eines Ausländers in der Bundesrepublik. Das AG hat den Angeklagten von diesem Vorwurf – aus tatsächlichen Gründen – frei gesprochen.

„Der Angeklagte bestreitet durch seinen mit Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger die Tatbegehung und lässt sich dahingehend ein, dass ihm weder die Abschiebungsandrohung noch der Bescheid des Landkreises Vorpommern-Rügen vom 11.07.2016 und die Erinnerung der Aufforderung zur Passbeschaffung vom 08.08.2018 zugegangen sei.

Demgemäß ergibt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme folgender Sachverhalt:

Der Angeklagte ist ghanaischer Staatsangehöriger und hielt sich seit dem 13.10.2014 in Deutschland auf. Der Verteidiger hat dies für den Betroffenen so eingeräumt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Angeklagten mit ausweislich des im Hauptverhandlungstermin verlesenen Bescheides vom 24.02.2016 ab und bestimmte, dass der Angeklagte innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung das Bundesgebiet zu verlassen habe, andernfalls werde er ausgewiesen.

Ein Hinweis auf die Strafbarkeit passlosen Aufenthalts im Bundesgebiet findet sich in dem Bescheid nicht.

Darüber hinaus hat das Gericht durch Verlesung des Bescheides zur Passbeschaffung vom 11.07.2016 und die Erinnerung der Passbeschaffung vom 08.08.2018 festgestellt, dass der Be-schuldigte aufgefordert wurde, bis zum 15.08.2016 einen gültigen Pass/Passersatz auszuhändigen und zu diesem Zwecke bis spätestens dem 15.08.2016 bei der Botschaft Ghanas vorzu-sprechen. Eine Ersatzvornahme wurde angedroht. Der Bescheid enthält am Ende einen Hinweis auf die Strafbarkeit passlosen Aufenthalts im Bundesgebiet.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war indes nicht feststellbar, dass dem Angeklagten Bescheid und Erinnerung zugegangen sind.

So hat der Zeuge und Sachbearbeiter der Ausländerbehörde pp, ausgesagt, dass die Schreiben jeweils formlos an den Angeklagten versendet wurden. Beide Postsendungen gingen an die Adressen in Marlow bzw. in Barth. Dies sind jeweils Asylbewerberunterkünfte in denen sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Übersendung aufgehalten hat.

Der Zugang bleibt daher nicht aufklärbar.

Selbst wenn dem Angeklagten die Schriftstücke zugegangen wären, so bleibt zweifelhaft, ob er diese hätte zur Kenntnis nehmen können. Der Angeklagte ist ghanaischer Staatsangehöriger. Hinweise darauf, dass er der deutschen Sprache mächtig ist, finden sich nach Aktenlage nicht.

Der Zeuge pp. hat ausgesagt, Bescheide und Erinnerungen werden an die Asylbewerber stets in deutscher Sprache(!) versendet. Man gehe davon aus, dass der Asylbewerber, wenn er Post erhalte, sich diese durch Sozialarbeiter, Wachleute oder sprachkundige Freunde und Be-kannte übersetzen lasse.

Da dieses Prozedere durchaus auch in der Ausländerbehörde als mangelhaft erkannt wurde, werden zwar auch heute entsprechende Bescheide nach wie vor in deutscher Sprache an die der deutschen Sprache nicht mächtigen Verfahrensbeteiligten versandt. Allerdings seien zwischenzeitlich Merkblätter gefertigt worden, die den deutschsprachigen Bescheiden beigefügt wer-den und in denen kurz erklärt werde, welchen Inhalt und welche Rechtsfolgen die für die Asylbewerber unverständlichen Bescheide enthalten.

Ungeachtet der Kuriosität dieser Verwaltungspraxis bleibt nach der Aussage des Zeugen pp. für das vorliegende Verfahren jedoch festgestellt, dass entsprechende Belehrungen an den Angeklagten nicht versandt wurden.

Ob und inwieweit der Angeklagte von der Verpflichtung zur Passersatzbeschaffung Kenntnis nahm, bleibt daher unaufklärbar.

Der Zeuge pp. hat zudem ausgesagt, dass sich in der Ausländerakte des Angeklagten, die er im Hauptverhandlungstermin mit sich führte und in welche er Einsicht nahm, keinerlei Hinweise darauf finden, dass beispielsweise durch die vormalige Sachbearbeiterin der Inhalt von Bescheid und Erinnerung zur Passersatzbeschaffung anlässlich einer persönlichen Vorsprache des Angeklagten im Ausländeramt übersetzt wurden.

§ 95 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz ist als echtes Unterlassungsdelikt ausgestaltet. Der Ange-klagte muss daher um normgerechtes Verhalten wissen und zur Tatbestandserfüllung das norm-gerechte Verhalten vorsätzlich unterlassen. Eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sieht § 95 Aufenthaltsgesetz nicht vor.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bleibt unbekannt, ob der ausreisepflichtige Angeklagte um das Erfordernis der Passbeschaffung wusste und gegen diese Verpflichtung verstieß, um seine Abschiebung zu erschweren.

Nach Aussage des Zeugen pp. ist der Angeklagte nach wie vor nicht ausgereist.

Nach Aussage des Zeugen pp. wurden nach der Erinnerung zur Passersatzbeschaffung auch keinerlei Maßnahmen der Verwaltungsbehörde mehr getroffen, insbesondere wurde keine Ersatzvornahme versucht.

Nach den vorliegenden Feststellungen finden sich nicht einmal Hinweise auf einen fahrlässigen passlosen Aufenthalt, so dass auch die Ahndung als Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz nicht in Betracht kommt.

Der Angeklagte war daher mangels Verschuldensnachweises aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.“

StPO I: Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, oder: War das Mädchen „möglicherweise“ 14 Jahre alt?

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Ich stelle heute dann noch einmal StGB-Entscheidungen vor.

Den Opener mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 27.09.2022 – 5 StR 261/22 – zur Frage des Vorsatzes beim sexuellen Missbrauch. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten hatte weitgehend Erfolg:

„1. Nach den Feststellungen vollzog der 36-jährige Angeklagte an der damals 13-jährigen Geschädigten den ungeschützten Oral- und Vaginalverkehr, wobei er es – ungeachtet ihrer Angabe, 15 Jahre alt zu sein – für möglich hielt, dass sie noch keine 14 Jahre alt war. Nach Auffassung des Landgerichts „konnte“ sich der Angeklagte auf die Altersangabe der Geschädigten wegen ihres (kindlichen) Gesamteindrucks nicht verlassen. Als Tätowierer sei ihm bekannt gewesen, dass junge Mädchen sich häufig älter darstellten, als sie sind. Er habe daher, als er den Geschlechtsverkehr mit ihr ausübte, zumindest billigend in Kauf genommen, dass sie noch ein Kind war.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern kann keinen Bestand haben. Die Annahme bedingten Vorsatzes des Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellung, dass er das kindliche Alter der Geschädigten im Tatzeitpunkt billigend in Kauf genommen hat, ist nicht beweiswürdigend unterlegt (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1952 – 4 StR 440/52, NJW 1953, 152 f.; Beschluss vom 29. Oktober 2002 – 3 StR 358/02 Rn. 4).

a) Zwar obliegt die Würdigung der Beweise dem Tatgericht. Seine tatsächlichen Schlüsse müssen nicht zwingend sein; es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 – 5 StR 14/20, NJW 2020, 2741 f. mwN). Ein Rechtsfehler liegt jedoch vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, unklar oder widersprüchlich ist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht, sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (vgl. BGH aaO), oder wenn sie sich auf nicht existierende Erfahrungssätze stützt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2017 – 2 StR 270/16 Rn. 15 mwN).

b) Solche Rechtsfehler liegen hier in Bezug auf die Feststellungen zum Vorsatz vor.

Den Urteilsgründen lassen sich keine Belege entnehmen, wonach der Angeklagte das kindliche Alter der Geschädigten billigend in Kauf nahm. Auch wenn die Strafkammer sich selbst vom kindlichen Aussehen der Geschädigten zur Tatzeit auf der Grundlage eines Lichtbildes und des persönlichen Eindrucks in der Hauptverhandlung überzeugt haben mag, besagt dieser Umstand für sich genommen nichts zur Vorstellung des Angeklagten bei Tatausführung. Er hatte die Geschädigte vor der Tat nach ihrem Alter gefragt, woraufhin sie ihm „15“ geantwortet hatte. Dass damit mögliche Zweifel an einem jüngeren Alter der Geschädigten nach Auffassung der Strafkammer nicht auszuräumen waren, weil der Angeklagte sich auf die Altersangabe der Geschädigten nicht habe verlassen können, begründet nicht den Vorwurf eines (bedingten) Vorsatzes, sondern lediglich den der Fahrlässigkeit.

Soweit die Strafkammer zudem darauf abgestellt hat, dem Angeklagten sei „als Tätowierer (…) bekannt (gewesen), dass junge Mädchen sich häufig älter darstellen, als sie sind“, stützt sie sich auf einen Erfahrungssatz, der weder allgemein gültig noch durch eine etwaige dahingehende persönliche Erfahrung des Angeklagten belegt ist.“

OWi III: Fahrlässige Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Was gehört ins Urteil?

Und im dritten Posting dann noch einmal Geschwindigkeitsüberschreitung, und zwar das OLG Zweibrücken im OLG Zweibrücken, Beschl. v. 03.02.2022 – 1 OWi 2 SsBs 113/21:

„Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 09.02.2021 um 13:06 Uhr in der Gem. Kaiserslautern die B 270 in Fahrtrichtung Weilerbach, wobei er in Höhe km 0,2 die dort mittels Verkehrsschildern auf 100 km/h begrenzte Höchstgeschwindigkeit um – toleranzbereinigte – 43 km/h überschritt.

Der Betroffene hat nach den schriftlichen Urteilsgründen die Fahrereigenschaft eingeräumt und sich dahin eingelassen, er halte Pferde in S. und habe über ein Alarmsystem einen Daueralarm von der elektrischen Einfriedung der Koppel erhalten. In der Vergangenheit sei es einmal vorgekommen, dass sich eines der Pferde in der stromführenden Schnur verwickelt und wiederholt Stromschläge erhalten habe. Nachdem er vor Ort niemanden erreicht habe, habe er sich selbst auf den Weg gemacht und aus Sorge um das Tier „möglicherweise nicht die notwendige Sorgfalt für die Beschränkung aufgebracht“ (UA S. 2). Das Amtsgericht hat diese Einlassung für nicht widerlegt erachtet und einen fahrlässigen Verstoß angenommen.

II.

Die Beschwerdeführerin beanstandet mit ihrer Sachrüge zu Recht die dem Schuldvorwurf zugrunde gelegte Beweiswürdigung des Amtsgerichts. Auf die auch gegen den Rechtsfolgenausspruch gerichteten Angriffe der Beschwerdeführerin kommt es daher nicht an.

a) Die Beweiswürdigung und somit die Überzeugungsbildung des Tatrichters unterliegt einer nur eingeschränkten Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts und sind daher für dieses grundsätzlich bindend und dürfen nicht durch die eigene Beweiswürdigung ersetzt werden (zur Revision: BGH, Beschluss vom 07.06.1979 – 4 StR 441/78, juris Rn. 8; vgl. auch Nack in: StV 2002, 510, jurion; Nack in: StV 2002, 558, jurion; Miebach in: NStZ-RR 2014, 233, beck-online; Miebach in: NStZ-RR 2016, 329). Der Beurteilung durch das Rechtsbeschwerdegericht unterliegt lediglich, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt, das Gericht an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt hat, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt sowie nahe liegende Schlussfolgerungen nicht erörtert hat oder über schwerwiegende Verdachtsmomente hinweggeht. Lückenhaft ist die Beweiswürdigung insbesondere dann, wenn sie die Auseinandersetzung mit wesentlichen Umständen vermissen lässt, deren Erörterung sich aufdrängte. Dem Urteil des Tatrichters muss daher bedenkenfrei entnommen werden können, dass er bei seiner Prüfung keinen wesentlichen Gesichtspunkt außer Acht gelassen hat, der geeignet sein könnte, das Beweisergebnis zu beeinflussen (BGH, Urteil vom 17.12.1980 – 2 StR 622/80, JurionRs 1980, 14683, Rn. 5).1. Wenn auch im Bußgeldverfahren nicht dieselben Anforderungen wie im Strafverfahren gelten, so muss doch die Beweiswürdigung des Tatrichters so beschaffen sein, dass sie dem Rechtsbeschwerdegericht die rechtliche Überprüfung ermöglicht (OLG Koblenz, Beschluss vom 26.05.2013 – 2 SsBs 128/12, juris Rn. 12 f.; vgl. zum Ganzen auch: Pf. OLG Zweibrücken, Urteil vom 15.06.2020 – 1 OLG 2 Ss 79/19, juris Rn. 14 m.w.N.).

b) Gemessen daran vermögen die hierzu gegebenen Ausführungen die Annahme – lediglich – fahrlässigen Verhaltens nicht zu tragen.

aa) Grundsätzlich kann der Tatrichter ohne Rechtsfehler davon ausgehen, dass Verkehrsschilder wahrgenommen werden. Oberhalb einer Grenze von 40% der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ist zudem regelmäßig davon auszugehen, dass dem Fahrer die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit nicht verborgen geblieben sein kann (Senat, Beschluss vom 14.04.2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20, juris Rn. 9 und 11 m.w.N.). Die Indizwirkung des Ausmaßes der Geschwindigkeitsübertretung auf ein (bedingt) vorsätzliches Verhalten des Fahrzeugführers kann aber durch eine entsprechende bestreitende Einlassung des Betroffenen oder das Vorliegen gegenteiliger Anhaltspunkte entkräftet werden.

Ob bereits die nicht näher erläuterte Angabe eines Fahrers, er habe die betreffenden Verkehrszeichen übersehen, ausreichen kann, diese Indizwirkung zu entkräften, ist fraglich. Denn der Tatrichter ist – wie auch sonst (vgl. BGH, Beschluss vom 19.09.2017 – 1 StR 436/17, juris Rn. 10) – nicht aus Rechtsgründen gehalten, eine nicht eindeutig widerlegbare Einlassung eines Beschuldigten zu übernehmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Einlassungen zu Vorstellungen und Motiven eines Beschuldigten. Der Tatrichter hat vielmehr eine entsprechende Einlassung anhand der festgestellten objektiven Tatumstände auf ihre Nachvollziehbarkeit zu prüfen und mit dem Beweisergebnis im Übrigen, insbesondere einer evtl. Ortskenntnis des Betroffenen, den Begleitumständen der Fahrt sowie der Art und Wiederholung der Beschilderung, in eine Gesamtwürdigung einzustellen.

bb) Der in den schriftlichen Urteilsgründen wiedergegebenen Einlassung des Betroffenen, er habe „möglicherweise nicht die notwendige Sorgfalt für die Beschränkung aufgebracht“, kann bereits die konkrete Schilderung eines Sachverhalts, der zur Entkräftung der mit dem Maß der Übertretung verbundenen Indizwirkung geeignet wäre, nicht entnommen werden. Weder hat der Betroffene danach angegeben, die – zudem wiederholt und beidseitig aufgestellten – Verkehrszeichen übersehen, noch behauptet, die von ihm gefahrene Geschwindigkeit falsch eingeschätzt zu haben. Im Hinblick auf das Motiv für die Fahrt – möglichst rasches Eintreffen an der Koppel in S. – hätte sich das Amtsgericht daher mit der sich aufdrängenden Möglichkeit befassen müssen, dass der Betroffene (in einer vermeintlichen Notsituation) bewusst eine Geschwindigkeitsübertretung um des schnelleren Fortkommens willen in Kauf genommen, mithin zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Jedenfalls aber hätte das Amtsgericht die Glaubhaftigkeit der Behauptung, die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht erkannt zu haben, nicht ungeprüft übernehmen dürfen. Insbesondere hätte sich das Amtsgericht in diesem Zusammenhang mit dem sich aufdrängenden Umstand befassen müssen, dass dem Betroffenen die von ihm gefahrene Strecke und auch die dort vorhandenen Geschwindigkeitsbeschränkungen offenkundig bekannt gewesen sind.“