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U-Haft II: In der JVA Laptop für die Akteneinsicht, oder: „Kurze“ Fahrt zur Vorführung vor zuständigen Richter

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Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen betreffend das „U-Haft-Verfahren“.

Zunächst der Hinweis auf den LG Nürnberg, Beschl. v. 07.11.2023 – 13 Qs 56/23 – zur Frage der Form der Akteneinsicht in Akten mit besonders großem Aktenumfang, wenn der Beschuldigte inhaftiert ist. Dazu das LG (im Leitsatz):

Dem Beschuldigten ist in Strafverfahren mit besonders großem Aktenumfang zur effektiven Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht auch in Form von elektronischen Dokumenten, die auf einem Laptop eingesehen werden können, zu gewähren: Die Staatsanwaltschaft hat der JVA ggf. eine verschlüsselte CD-ROM mit der Akte im pdf-Format zu übersenden und die JVA dem Beschuldigten sodann einen Laptop mit der aufgespielten elektronischen Akte in einem besonderen Haftraum zur Verfügung stellen.

Und dann der AG Nürnberg, Beschl. v. 31.10.2023 – 58 Gs 12014/23 -, mit dem das AG einen Haftbefehl aufgehoben hat. Begründung:

„Der Haftbefehl war aus den folgenden Gründen aufzuheben:

1. Dem Vollzug des Haftbefehls steht der Spezialitätsschutz des § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.12.2012, Aktenzeichen: 1 StR 165/12) entfällt ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis gemäß Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Euro-päischen Auslieferungsübereinkommens jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Rechtsfolgen hingewiesen wurde oder diese Rechtsfolgen aus anderen Gründen kannte. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Braunschweig (Beschluss vom 26.08.2019, Aktenzeichen: 1 Ws 154/19) entspricht die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG derjenigen des Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens.

Der vorliegenden Akte kann nicht entnommen werden, dass der Beschuldigte auf die Rechtsfolgen des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG hingewiesen wurde oder die Rechtsfolgen ander-weitig kannte.

2. Die Vorführung vor den nächsten Richter des Amtsgerichts Fulda verstieß gegen § 115 StPO. Der Beschuldigte wurde am 17.10.2023 um 19:20 Uhr aufgrund des vorliegenden Haftbefehls ergriffen. Eine Pkw-Fahrt von Fulda nach Nürnberg dauert laut Google-Maps etwa drei Stunden, sodass eine Vorführung vor den zuständigen Richter des Amtsgerichts Nürnberg am 18.10.2023 möglich gewesen wäre.2

Interessant m.E. vor allem wegen der Ausführungen des AG unter 2.

StPO II: Über entfallene Bindungswirkung belehrt?, oder: Mit Verfahrensrüge Glück gehabt

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Und dann eine weitere Entscheidung des BGH zur Verständigung (§ 257c StPO), und zwar BGH, Beschl. v. 17.8.2023 – 2 StR 164/23 – zur Frage der Verletzung der verständigungsbezogenen Belehrungspflicht (§ 257c Abs. 5 StPO).

Nach dem Sachverhalt hatte das LG hat den Angeklagten wegen Verstößen gegen das BtMG verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte mit der Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren bzw. einer Verletzung der § 257c Abs. 5 StPO entsprechenden Belehrungspflicht Erfolg.

Der BGh geht von folgendem Verfahrensgeschehen aus: Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung fand am 20.06.2022 ein Erörterungstermin statt, an dem die verhandlungsleitende Richterin der Strafkammer, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und einer der beiden Verteidiger des Angeklagten teilnahmen. Nach Erörterung des Verfahrensgegenstandes und des Hinweises der Richterin, dass weder die Frage einer möglichen Unterbringung nach § 64 StGB noch diejenige der Einziehung Gegenstand einer Verständigung sein könnten, kündigte der anwesende Verteidiger an, dass nach Rücksprache mit dem Angeklagten und dem weiteren Verteidiger eine geständige Einlassung im Sinne der Anklage geplant sei. Nach weiterer Erörterung erklärte die Staatsanwältin, dass nach aktueller Aktenlage keine Anhaltspunkte für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt ersichtlich seien und nur unter der Prämisse einer umfassenden geständigen Einlassung ein Strafrahmen zwischen sechs Jahren und neun Monaten und sieben Jahren und sechs Monaten denkbar sei. Die Richterin teilte mit, dies stelle aus ihrer Sicht den denkbar untersten Rand einer tat- und schuldangemessenen Strafe dar. Der Verteidiger erklärte, dass gleichwohl weiterhin eine geständige Einlassung geplant sei, und er sich zeitnah wegen der Fortführung der Verständigungsgespräche melden werde.

In der am 30.08.2022 erstmals begonnenen Hauptverhandlung wurde ein Vermerk über das Verständigungsgespräch vom 20.06.2022 verlesen, selbiges protokolliert und der Inhalt des Vermerks durch eine Bezugnahme auf die Fundstelle in den Akten im Hauptverhandlungsprotokoll dokumentiert. Anschließend kam es zu einer Verständigung, in deren Folge sich der Angeklagte vollumfänglich geständig zur Sache einließ. Diese Hauptverhandlung musste später ausgesetzt werden.

In der am 11.10.2022 neuerlich begonnenen Hauptverhandlung führte die Vorsitzende nach Verlesung der Anklageschrift und der Feststellung zur Zulassung derselben aus, dass am 20.06.2022 ein Erörterungstermin im Hinblick auf eine Verständigung stattgefunden habe. Das Erörterungsprotokoll vom 20.06.2022 wurde erneuet verlesen und selbiges im Hauptverhandlungsprotokoll unter Bezugnahme auf die Fundstelle in den Akten dokumentiert. Danach wies sie den Angeklagten darauf hin, dass es ihm freistehe, sich zur Anklage zu äußern oder nicht auszusagen. Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zu dem verlesenen Erörterungsprotokoll Stellung zu nehmen, wovon sowohl die Vertreterin der Staatsanwaltschaft wie auch die Verteidigung Gebrauch machten. Nach Beratung unterbreitete die Strafkammer den Verfahrensbeteiligten anschließend einen Verständigungsvorschlag dahingehend, dass die Strafkammer für den Fall eines umfassenden Geständnisses im Sinne der Anklage der Verurteilung einen Strafrahmen von sechs Jahren und neun Monaten bis sieben Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe zugrunde legen werde. Nachdem der Angeklagte gemäß § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war, stimmten alle Verfahrensbeteiligten dem Verständigungsvorschlag zu. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung ließ sich der Angeklagte geständig zur Sache ein.

Die Revision hatte mit der Verfahrensrüge Angriffsrichtung einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren bzw. einer Belehrungspflicht entsprechend § 257c Abs. 5 StPO Erfolg:

„a) Die Rüge ist zulässig erhoben. Sie genügt dem Vortragserfordernis des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

aa) Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts bedurfte es hierfür nicht der Vorlage des Protokolls der ausgesetzten Hauptverhandlung. Insoweit reicht das ? im Übrigen unwidersprochene ? Vorbringen der Revision, dass sich der Angeklagte im Zuge der ausgesetzten Hauptverhandlung in Folge der Verständigung geständig eingelassen hat.

bb) Es ist hier auch unschädlich, dass die Revision nicht vorträgt, ob der Angeklagte in der ausgesetzten Hauptverhandlung vor der Verständigung ordnungsgemäß nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war, mithin nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine Pflicht zur Belehrung über die Unverwertbarkeit des Geständnisses bestand (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 ? 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37, 45 ff.). Denn die Revision stellt dar, dass der Angeklagte weder auf die entfallene Bindungswirkung noch auf die Unverwertbarkeit seines Geständnisses hingewiesen worden ist.

b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet.

aa) In Folge der Aussetzung der Hauptverhandlung ist die Bindungswirkung der getroffenen Verständigung entfallen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 ? 5 StR 484/20, aaO, S. 41; KK-StPO/Moldenhauer/Wenzke, 9. Aufl., § 257c Rn. 42d bis 42e). Dies zieht die Unverwertbarkeit des im Vertrauen auf ihren Bestand abgegebenen Geständnisses des Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung nach sich (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 ? 5 StR 484/20, aaO, S. 42 ff.).

bb) Der Senat kann offenlassen, ob der Angeklagte qualifiziert über die Unverwertbarkeit seiner vormaligen verständigungsbasierten Einlassung zu informieren war (vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 2019 ? 1 StR 153/19, NStZ 2019, 483; BeckOK StPO/Eschelbach, 48. Ed., § 257c Rn. 30a; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 257c Rn. 30b; SSW-StPO/Ignor/Wegner, 5. Aufl., § 257c Rn. 124; Kudlich, NJW 2021, 2445; Ventzke, NStZ 2021, 572, 574) oder ob es in diesem Fall ausreicht, wenn der Angeklagte lediglich über den Wegfall der Bindungswirkung der getroffenen Verständigung informiert wird, sofern er in der ausgesetzten Hauptverhandlung vor der dortigen Verständigung ordnungsgemäß nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 ? 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37, 45 ff.; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, aaO), denn es fehlt bereits an dem Hinweis an den Angeklagten durch das Gericht, dass die Bindungswirkung an die getroffene Verständigung durch die erfolgte Aussetzung entfallen war.

c) Das Geständnis des Angeklagten und damit das Urteil beruhen auf dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann die Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis nicht ausnahmsweise ausschließen.

aa) Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegten Taten auf der Grundlage der Verständigung eingeräumt. Hierauf hat die Strafkammer die Verurteilung gestützt.

bb) Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Angeklagten die Voraussetzungen für den Wegfall der Bindungswirkung bei Abgabe des Geständnisses bekannt waren (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 ? 2 BvR 2628/10, BVerfGE 133, 168 ff. Rn. 99 und 127; Senat, Beschluss vom 30. März 2021 ? 2 StR 383/20, juris Rn. 6; BGH, Beschlüsse vom 15. Dezember 2021 ? 6 StR 528/21, juris Rn. 5; vom 21. März 2017 ? 5 StR 73/17, juris Rn. 6), sind nicht erkennbar. Dass der Angeklagte angesichts des wiederholt verlesenen Vermerks über das Erörterungsgespräch vom 20. Juni 2022 und der erneuten Verständigungsgespräche in der Hauptverhandlung vom 11. Oktober 2022 ? wie der Generalbundesanwalt meint ? hinreichend informiert war, dass die Verständigung in dem ausgesetzten Verfahren in der neu begonnenen Hauptverhandlung keine Bindungswirkung mehr entfaltete, kann der Senat nicht zweifelsfrei annehmen. Der Neubeginn der Hauptverhandlung brachte es mit sich, dass alle Verfahrensschritte wiederholt werden mussten, ohne dass dies aus Sicht des Angeklagten den Rückschluss erlaubte, dass damit deren materielle Wirksamkeit entfallen war. Allein die Wiederholung der Verständigung konnte daher seine autonome Entscheidung über eine Zustimmung zu einer neuerlichen Verständigung und sein anschließendes Geständnis nicht sichern.“

Die Ausführungen des BGH zur Zulässigkeit der Verfahrensrüge zeigen m.E. immer, auf was der Verteidiger bei deren Begründung ggf. alles achten muss und was man ggf. auch noch hätte vortragen sollen. Denn wird etwas vergessen – und der BGh sieht es als wichtig an, wobei man nie weiß, woran er das fest macht, ist das schnell ein Einfallstor für die Verwerfung der Revision oder zumindest für die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge. Hier hat der Angeklagte noch einmal Glück gehabt. Der BGh wollte offenbar an die Entscheidung „ran“.

 

StPO III: Anordnung von Jugendarrest „keine Haft“, oder: Belehrung im Hauptverhandlungsprotokoll?

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Und dann als dritte Entscheidung noch der LG Limburg, Beschl. v. 05.01.2023 – 2 Qs 76/22.

Das AG hat gegen den verurteilten Jugendlichen einen Jugendarrest von vier Wochen verhängt, weil dieser eine mit Urteil vom 22.02.2021 rechtskräftig erteilte Weisung, an einem Anti-Gewalt-Trainingskurs des Jugendhilfevereins teilzunehmen, schuldhaft nicht erfüllt habe. Gegen diesen am 29.09.2022 zugestellten Beschluss hat der Jugendliche mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 01.10.2022, eingegangen ausweislich der Faxleiste an diesem Tag, das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde eingelegt. Aufgrund des Rechtsmittels hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 03.11.2022 die Akte der Kammer mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen vorgelegt, die am 07.11.2022 beim Landgericht eingegangen ist. Mit Schriftsatz vom 28.10.2022, gerichtet an das Amtsgericht Limburg und ausweislich des Eingangsstempels am 04.11.2022 bei der Staatsanwaltschaft eingegangen, hat der Verteidiger das Rechtsmittel eingehend begründet. Die Staatsanwaltschaft hat es aber versäumt, die Rechtsmittelbegründung in angemessener Frist der Akte nachzusenden.

Das LG hat, nachdem keine Beschwerdebegründung vorlag, mit Beschluss vom 21.11.2022 das Rechtsmittel aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet verworfen. Gegen die formlos übersandte Kammerentscheidung hat der Jugendliche dann mit Schriftsatz vom 26.11.2022, eingegangen an diesem Tag, weitere Beschwerde (§ 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO) eingelegt und hilfsweise – sollte die Kammer einen Fall einer Verhaftung i.S.d. § 310 Abs. 1 Nr. StPO verneinen – beantragt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 33a StPO) zu gewähren. Das Rechtsmittel hatte mit dem Hilfsantrag Erfolg:

„Dem Hilfsantrag war zu entsprechen. Die Voraussetzungen des Nachverfahrens gemäß § 33a StPO liegen vor.

1. Der ergangene Kammerbeschluss ist unanfechtbar. Die weitere Beschwerde ist nicht statthaft. Der Fall einer Verhaftung i.S.d. § 310 Abs. 1 Nr. StPO liegt nicht vor. Beschwerdebeschlüsse des Landgerichts sind grundsätzlich nicht mit der weiteren Beschwerde anfechtbar (§ 310 Abs.2 StPO). Einer der in § 310 Abs. 1 StPO geregelten Ausnahmefälle liegt nicht vor, insbesondere auch keine „Verhaftung“ i.S.v. § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO. Zwar ist die Rechtsnatur des jugendstrafrechtlichen Ungehorsamsarrests umstritten, doch unabhängig davon, ob man ihn als „besondere jugendstrafrechtliche Reaktionsmöglichkeit“ und im weitesten Sinn somit als einen Akt der Vollstreckung wertet oder als „unselbstständige Ersatzmaßnahme“ qualifiziert, ist die Anordnung von Jugendarrest nach § 11 Abs. 3 S. 1 JGG, da ein Verstoß gegen eine im Urteil erteilte Weisung sanktioniert wurde, jedenfalls keine einer Verhaftung i.S.v. § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO gleichzustellende Maßnahme (OLG München NStZ 2012, 166).

2. Die Kammer hat mit der zum Nachteil des Beschwerdeführers ergangenen Entscheidung – wenn auch ohne eigenes Verschulden – rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Die eingehende Beschwerdebegründung lag bei der Kammerberatung nicht vor.

3. Die gebotene Prüfung, ob die frühere Entscheidung abgeändert werden muss, führt zum Erfolg der sofortigen Beschwerde.

Ein Jugendarrest durfte schon deshalb nicht verhängt werden, weil der Beschwerdeführer entgegen § 11 Abs. 3 S.1 JGG nicht über die Folgen einer schuldhaften Zuwiderhandlung gegen die erteilte Weisung belehrt worden ist.

3.1. Zweckmäßiger Weise erfolgt eine Belehrung nach der Urteilsverkündung, wobei sie zu protokollieren ist.

Das Protokoll der Hauptverhandlung vom 22.02.2021 weist eine Rechtsmittelbelehrung, aber keine Belehrung nach § 11 Abs. 3 JGG aus. Der Kammer ist es verschlossen, eine dienstliche Erklärung des Jugendrichters einzuholen, ob die Belehrung über einen Ungehorsamsarrest Teil der mündlichen Urteilsbegründung war. Ebenso wie eine Belehrung über die Folgen schuldhafter Verletzung von Weisungen eines Bewährungsbeschlusses gehört die Belehrung über Folgen erteilter Weisungen nach Jugendstrafrecht zu den wesentlichen Förmlichkeiten der Beurkundung einer Hauptverhandlung (vergl. zu Belehrung nach § 268a Abs. 3 StPO Karlsruher Kommentar, 8. Auflage, StPO, § 273 Rdnr. 6 m. w.n.). Dem entspricht es, dass das Protokoll als „maßgeblich“ angesehen wird (Eisenberg/Kölbel, JGG, 22.Aufl., § 11 Rdnr. 16, BeckOK/Gertler, 27 Ed. 1-11-2022, JGG § 11 Rd.19, LG Marburg NStG-RR 2006, 122).

4. Eine Belehrung kann – ebenso wie eine fehlende Belehrung nach § 268a Abs. 3 StPO – nachgeholt werden (§ 453a Abs.1 S. 1 StPO entsprechend). Eine gesonderte, an den Beschwerdeführer gerichtete Belehrung ist der Akte nicht zu entnehmen.

In den schriftlichen Urteilsgründen hat der Jugendrichter zwar sehr deutlich auf die Folgen schuldhafter Nichterfüllung hingewiesen. Nach der Beschwerdebegründung kann aber nicht mehr angenommen werden, dass der Beschwerdeführer die Urteilsgründe tatsächlich gelesen hat. Verpflichtet hierzu ist er nicht.“

Pflichti I: Unterlassenen Bestellung eines Verteidigers, oder: Der BGH schafft Pflichtverteidigung teilweise ab.

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Ich starte dann in den „Arbeitsteil“ der Pfingstwoche mit Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Als erste Entscheidung dann hier der BGH, Beschl. v. 05.04.2022 – 3 StR 16/22 – zur unterlassenen Bestellung eines Pflichtverteidigers und zum Beweisverwertungsverbot. M.E. eine „unsägliche“ Entscheidung. Aber: Es nutzt nichts, ich muss darüber berichten.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte ist vom OLG wegen Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen eine Person in Syrien u.a. zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden . Die Tat soll im Juli 2012 begangen worden sein. Im Ermittlungsverfahren wurde der Angeklagte insgesamt drei Mal als Beschuldigter polizeilich vernommen. Vor den  Vernehmungen wurde er jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers „beanspruchen“ könne. In der Folge äußerte er sich in zwei Vernehmungen zur Sache, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war.

In der Hauptverhandlung wurde einer der Vernehmungsbeamten als Zeuge gehört Der Beamte machte u.a. Angaben zu den Einlassungen des Angeklagten im Rahmen der Vernehmungen. Die Verteidigung widersprach der Verwertung der Angaben des Vernehmungsbeamten, soweit dieser sich zu Inhalten der ohne Verteidiger durchgeführten Vernehmungen äußerte. Das OLG stützte jedoch seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in einer der Vernehmungen auf die Bekundung des Vernehmungsbeamten.

Dagegen dann die des Angeklagten, mit der ein Beweisverwertungsverbot im Hinblick auf die Verwertung der Angaben gegenüber der Polizei geltend gemacht worden ist. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Ich erspare mir hier einen Auszug aus der Entscheidung und überlasse sie dem Selbstleseverfahren. Der BGH hat seiner Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:

    1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO.
    2. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen.
    3. Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge.

Zu der Entscheidung könnte man eine Menge schreiben. Und es wird dazu sicherlich auch eine ganze Reihe ablehnender Anmerkungen geben. Und das m.E. zu Recht. Mich überrascht die Entscheidung zwar nicht, weil sie letztlich auf der Linie des BGH liegt, die Fragen der Pflichtverteidigung und der Beweisverwertungsverbote eng zu sehen. Dass der BGH dann aber nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung weiterhin so restriktiv entscheiden würde und damit m.E. entgegen dem Sinn und Zweck der Neuregelung, das überrascht dann doch. Denn wenn man die Entscheidung „zusammenfasst“ wird man sagen müssen:, da in etwa Folgendes gilt:

  • Die unterbliebene Verteidigerbestellung ist kaum noch rügbar. Der  BGH hat die Hürde für ein Verwertungsverbot so hoch gelegt, dass eine zwar an sich gebotene, aber gleichwohl unterbliebene Verteidigerbestellung von Amts wegen mit der Revision de facto kaum noch erfolgreich gerügt werden kann.
  • Der Angeklagte war mit dem Vorwurf konfrontiert,  vor nunmehr beinahe zehn Jahren in einem Bürgerkriegsgebiet schwere Straftaten nach dem VStGB begangen zu haben. Mithin lag dem Verfahren eine Konstellation zugrunde, die jedenfalls nicht zum Standardrepertoire eines deutschen Strafjuristen gehören dürfte. Die Beweiswürdigung bezeichnet der BGH selbst als ersichtlich sehr schwierig. Bereits dies lässt es als sehr restriktiv erscheinen, wenn dem Beschuldigten bescheinigt wird, seine individuelle Schutzbedürftigkeit sei nicht derart stark ausgeprägt, dass er bei den Vernehmungen im Ermittlungsverfahren des Beistands eines Verteidigers bedurft hätte.
  • Darüber hinaus war der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig und wurde ferner, was der BGH nicht in Abrede stellt, teils unzutreffend belehrt. All dies führt nach Auffassung des BGH aber nicht, und zwar auch nicht im Rahmen einer – sonst so beliebten – Gesamtschau, zur Erforderlichkeit einer Verteidigerbestellung von Amts wegen und soll selbst dann, wenn man zu dem Ergebnis käme, dass es einer Bestellung bedurft hätte, nicht zur Unverwertbarkeit der Angaben führen.
  • Ausnahmen sind nach Auffassung des BGH nur noch bei psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Einschränkungen denkbar.

Man fragt sich, warum der BGH nicht einen anderen Leitsatz gewählt hat, etwa: „Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO ist nach der Rechtsprechung des 3. Strafsenats des BGH ausgeschlossen.“

Pflichti III: Spätere Umbeiordnung/Auswechselung, oder: „Bekanntmachung“ und „Belehrung“ erfolgt?

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Und als letzte Entscheidung des Tages zum Komplex „Pflichtverteidigung“ dann noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 09.03.2022 – 13 Qs 16/22, den mir der Kollege Lößel aus Alsdorf geschickt hat. Es geht um eine Umbeiordnung/Entpflichtung des anlässlich eines Vorführungstermin beigeordneten Rechtsanwalt.

Das AG hat die Entpflichtung und die Beiordnung des Kollegen Lößel abgelehnt. Auf die Beschwerde sieht das LG das anders und äußert sich zu zwei Fragen, nämlich zum Beginn der Frist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO und dazu, dass hier diese Frist überhaupt noch nicht zu laufen begonnen hatte wegen des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht im Hinblick auf die Auswechslungsmöglichkeit und die Frist. In dem Zusammenhang positioniert sich die Kamamer gegen die Auffassung des Ermittlungsrichters beim BGH:

„(2) Jedoch handelt es sich bei den Anträgen des Angeklagten vom 19.01.2022 und 01.02.2022 durch Rechtsanwalt pp. um Anträge auf Auswechslung des Pflichtverteidigers im hiesigen Verfahren.

Diese sind im Ergebnis fristgerecht i.S.d § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gestellt.

(a) Die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO beginnt mit der Bekanntgabe der Bestellung des Pflichtverteidigers.

Zwar wurde Rechtsanwalt pp. am 27.12.2021 durch Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg im schriftlichen Verfahren bestellt, sodass der Angeklagte spätestens im Termin zur Anhörung nach vorläufiger Festnahme davon Kenntnis erlangte.

Maßgeblich für den Fristbeginn nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist jedoch nicht die tatsächliche Kenntnis, sondern die „Bekanntmachung“. Mit diesem Begriff wird ausweislich des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zum „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019″ auf § 35 StPO Bezug genommen, der die Bekanntgabe regelt (BT-Drs. 19/13829, S. 47, wobei hier noch von einer zweiwöchigen Frist ausgegangen wird).

Ausweislich § 35 Abs. 1 StPO werden Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen, durch Verkündung bekannt gemacht und auf Verlangen eine Abschrift erteilt, und andere Entscheidungen gem. § 35 Abs. 2 StPO durch Zustellung bekannt gemacht, wobei nur dann eine formlose Mitteilung genügt, wenn die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf setzt.

(b) Die Verfügung des Ermittlungsrichters vorn 27.12.2021, mit der Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt wurde, wurde dem Angeklagten und Rechtsanwalt pp. formlos mitgeteilt. Eine Verkündung der Entscheidung im Anhörungstermin am 27.12.2021 erfolgte nicht. Ausweislich des Protokolls wurde lediglich festgestellt, dass der Angeklagte einen Verteidiger hat.

Da die Bekanntgabe der Pflichtverteidigerbestellung jedoch die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO in Gang setzt, wäre eine Zustellung der Entscheidung gem. § 35 Abs. 2 S. 1 StPO erforderlich gewesen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20; im Übrigen heißt es auch im Gesetzesentwurf der Bundesregierung bereits wörtlich: „Mit dem Begriff der Bekanntmachung wird auf § 35 StPO Bezug genommen, so dass sowohl Verkündungen als auch — wegen des lnlaufsetzens der Frist zur Stellung des Antrags künftig erforderliche — Zustellungen hiervon erfasst sind.“).

Für dieses Zustellungserfordernis streitet nach Auffassung der Kammer auch noch ein weiterer Gesichtspunkt.

Unstreitig sind gem. § 35 Abs. 2 StPO insbesondere solche Beschlüsse zuzustellen, die mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden können (vgl. MüKoStPOValerius, 1. Aufl. 2014, StPO, § 35 Rn. 25). § 142 Abs. 7 S. 1 StPO regelt die Anfechtbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde. § 142 Abs. 7 S. 2 StPO schließt dabei die sofortige Beschwerde aus, wenn der Beschuldigte einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO stellen kann.

Die Möglichkeit zur Stellung eines solchen Antrages lässt also die grundsätzlich bestehende Möglichkeit der sofortigen Beschwerde entfallen. Die gerichtliche Entscheidung ist mit dem Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO nicht mehr mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar, das Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers kann in diesem Fall (nur) durch den Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO, der ebenfalls fristgebunden ist, erreicht werden. Aus diesem Ausschlussverhältnis zwischen sofortiger Beschwerde und Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls zu folgem, dass die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung gleichermaßen wie bei der Anfechtbarkeit mit der sofortigen Beschwerde gem. § 35 Abs. 2 StPO zuzustellen ist, wenn als einzige Korrekturmöglichkeit der Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO statthaft ist.

Bereits aus diesem Grund begann in Ermangelung einer fristauslösenden Zustellung die Drei-Wochen-Frist bislang nicht zu laufen.

(c) Überdies begann die Drei-Wochen-Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO deshalb nicht zu laufen, weil der Angeklagte nicht auf die Möglichkeit der Auswechslung des Pflichtverteidigers und die dabei einzuhaltende Frist hingewiesen wurde.

Die Pflicht, auf dieses Recht hinzuweisen, ergibt sich für die Kammer aus einer entsprechenden Anwendung des § 35a Abs. 1 StPO, die auf gesetzessystematischen Erwägungen beruht.

Aus dem oben dargestellten Verhältnis der sofortigen Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO und dem Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO folgt, dass einem Beschuldigten statt der Möglichkeit eines Rechtsmittels mit Devolutiveffekt die Möglichkeit gegeben wird, instanzwahrend einen Antrag auf Auswechslung des Pflichtverteidigers zu stellen. Wenn aber über die Möglichkeit eines befristeten Rechtsmittels gem. § 35a S. 1 StPO belehrt werden muss, dann muss dies auch für den dieses Rechtsmittel ausschließenden, instanzwahrenden befristeten Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gelten. Denn nur dann, wenn er den entsprechenden Antrag und seine Frist kennt, kann es gerechtfertigt sein, dem Beschuldigten die grundsätzlich bestehende Möglichkeit eines Rechtsmittels zu verwehren (im Ergebnis auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20, Rn. 15-18).

Demgegenüber kann die Begründung des Ermittlungsrichters am BGH im Beschluss vom 14.09.2020 – Az. 2 BGs 619/20, nicht überzeugen, soweit dieser im Rahmen der Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ausführt, es entstünde bei Ablauf der Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO insoweit kein Rechtsnachteil für den Beschuldigten, als er weiterhin über § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die Auswechslung verlangen könne.

Dies erscheint bereits deshalb unzutreffend, weil § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die substantiierte Darlegung von Tatsachen für das zerrüttete Vertrauensverhältnis/die Unmöglichkeit einer angemessenen Verteidigung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger und ggf. deren Glaubhaftmachung erfordert (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 143a Rn. 22) und damit deutlich andere und strengere Voraussetzungen hat als der lediglich an den zeitlichen Ablauf bzw. die Benennung eines anderen als den bestellten Pflichtverteidiger anknüpfende § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO.

Zudem entfällt mit der Möglichkeit, einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO zu stellen, auch die Beschwerdemöglichkeit nach § 142 Abs. 7 S. 2 StPO, sodass bei Versäumung der Antragsfrist bereits hierin ein Rechtsnachteil für den Beschuldigten liegt.“