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Haft I: (Wieder)Invollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe

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Ich stelle heute drei Entscheidungen zur StPO vor, und zwar zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 30.01.2024 – 2 Ws 12/24 – zu den Anforderungen an die „neu hervorgetretenen Umstände“ als Grundlage für eine Wiederinvollzugsetzung eines Hafbefehls bei erfolgter Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat am 06.01.2023 gegen den Angeklagten Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erlassen. Der Angeklagte wurde am 15.02.2023 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 16.02.2023 eröffnet. Auf den am 16.2.2023 durch den Angeklagten gestellten Haftprüfungsantrag und die Anträge auf Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung hat das AG dann am 02.03.2023, nachdem der Verteidiger des Angeklagten Unterlagen übergeben hatte, die einen festen Wohnsitz der Angeklagten mit seiner schwangeren Verlobten und ein seit Sommer 2021 bestehenden Arbeitsverhältnis belegten, den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt und dem Angeklagten aufgegeben, sich dreimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden, allen Ladungen Folge zu leisten und sich straffrei zu führen.

Die Staatsanwaltschaft hat am 15.4.2023 Anklage erhoben, welche das LG zur Hauptverhandlung zugelassen hat. Zugleich hat das LG den Haftbefehl aufrechterhalten und weiterhin außer Vollzug gelassen. Die Hauptverhandlung beim LG hat an elf Verhandlungstagen zwischen dem 30.08.2023 und dem 13.12.2023, zu denen der Angeklagte sämtlich erschien ist, stattgefunden. Im Termin am 13.12.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren zu verurteilen. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte Freispruch. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung zwischen 12:15 und 14:31 Uhr verkündete das LG ein Urteil, mit dem der Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das LG den Außervollzugsetzungsbeschluss aufgehoben und den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt hat. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, es lägen neu hervorgetretene Umstände vor, die die Verhaftung des Angeklagten erforderlich machten. der Angeklagte sei von einem Freispruch ausgegangen, dann aber verurteilt worden.

Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt und gegen die Invollzugsetzung Beschwerde. Diese hatte beim OLG Hamm Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:

„Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 30.06.2016, Az. III-3 Ws 242/16). Wenn demgegenüber zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der späteren Strafe zu rechnen gewesen ist und der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt hat, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte durch das Urteil die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen hatte und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12, BeckRS 2012, 55231; Senatsbeschluss vom 07.08.2012, Az. 2 Ws 252/12, BeckRS 2012, 18209).

b) Die letztgenannte Fallgestaltung ist nach Einschätzung des Senas vorliegend gegeben.

Die Strafkammer ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass eine erhebliche Abweichung zwischen der durch den Haftrichter prognostizierten Straferwartung und der durch den Tatrichter verhängten Freiheitsstrafe nicht feststellbar ist, eine Invollzugsetzung vorliegend daher nicht zu begründen vermag. Denn der Haftrichter ist bei Erlass des Haftbefehls von einer für die Tat einschlägigen Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren ausgegangen, da sich eine Milderung wegen Versuchs nicht aufdränge. Dass die durch die Strafkammer tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten erheblich nach oben von der Prognose des Haftrichters abweicht, ist – unter Würdigung der bereits im Haftbefehl genannten konkreten Tatumstände und Tatfolgen sowie der Person des (erheblich einschlägig vorbestraften) Angeklagten – nicht anzunehmen.

Soweit die Strafkammer sodann aber ausführt, der die Invollzugsetzung rechtfertigende Umstand liege in der enttäuschten Erwartung des Angeklagten, freigesprochen zu werden, vermag dies nach Einschätzung des Senats eine Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht zu begründen.

Denn der Senat geht davon aus, dass der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung im o. g. Sinne sowohl mit Blick darauf, dass er wegen der verfahrensgegenständlichen Tat verurteilt werden könnte, als auch mit Blick auf die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafhöhe vor Augen gehabt haben muss, wenngleich er die Hoffnung gehabt haben mag, mittels entlastender Beweismittel durchgreifende Zweifel an seiner Täterschaft zu wecken. Die Möglichkeit einer Verurteilung kann dem durch einen Verteidiger verteidigten Angeklagten bereits deshalb als naheliegende Möglichkeit des erstinstanzlichen Verfahrensabschlusses nicht verborgen geblieben sein, weil gegen ihn wegen der ihm zur Last gelegten Tat ein Haftbefehl ergangen war, welcher nach seinem Erlass auch nicht wieder aufgehoben wurde. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls lässt die Frage des dringenden Tatverdachts unberührt und hat ihren Grund einzig darin, dass weniger einschneidende Mittel zur Ausräumung der angenommenen Fluchtgefahr für ausreichend erachtet wurden. Der letztlich bis zum 13.12.2023 fortbestehende Haftbefehl vom 06.01.2023 führt hinsichtlich des angenommenen dringenden Tatverdachts aus, dass von der Innenseite der durch den Täter bei der Tat getragenen Sturmhaube im Mundbereich eine serologische Spur gesichert worden sei, deren Auswertung eine Zuordnung zum Angeklagten ergeben habe. Zunächst sei eine Zuordnung dieser Spur zu dem bereits in der DNA-Datenbank NRW vorhandenen DNA-Profil des Angeklagten erfolgt; ein später durchgeführter Abgleich mit einer erneut beim Angeklagten entnommenen serologischen Probe habe dieses Ergebnis bestätigt. Die Aufrechterhaltung dieses auf einem DNA-Abgleich basierenden Haftbefehls bis zur Urteilsverkündung durch die 9. Strafkammer dokumentiert, dass diese von fortbestehendem dringenden Tatverdacht ausgegangen ist; bereits deshalb verbietet sich nach Einschätzung des Senats die durch das Landgericht vorgenommene Argumentation, aus dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten, namentlich der Beteuerung seiner Unschuld und der Präsentation entlastender Beweismittel, folge, dass er bis zuletzt mit einem Freispruch gerechnet habe, mit der Folge einer so wesentlichen Erhöhung der Fluchtgefahr durch die gleichwohl erfolgte (erstinstanzliche) Verurteilung, dass sie eine Invollzugsetzung rechtfertige. Auch wenn er auf einen Freispruch gehofft haben mag, muss dem durch seinen Verteidiger anwaltlich beratenen Angeklagten bereits aufgrund des fortbestehenden Haftbefehls die Möglichkeit einer Verurteilung bewusst gewesen sein und ihn gleichwohl nicht davon abgehalten haben, sich dem Verfahren zu stellen. Dies wird auch dadurch belegt, dass der Angeklagte auch nach dem Stellen des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft, der auf Verurteilung des Angeklagten wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren lautete und welcher ihm die Möglichkeit einer Verurteilung erneut eindringlich vor Augen geführt haben dürfte, nach mehr als zwei Stunden Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Urteilsverkündung erschienen ist und sich weiterhin dem Verfahren gestellt hat.

Auch die durch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 24.01.2024 angestellte Hilfserwägung, dass auch eine Vergleichbarkeit mit der Konstellation einer unlauteren Einwirkung auf Verfahrensbeteiligte, welche ebenfalls als neu hervorgetretener Umstand i. S. d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO anerkannt sei, vorliegend eine Invollzugsetzung rechtfertige, verfängt nach Ansicht des Senats nicht. Zwar vermag das Hinzutreten eines weiteren Haftgrundes im Einzelfall die Wiederinvollzugsetzung zu begründen (Schmitt in: Meyer-Goßner, a. a.O. § 116 Rn. 28). Die durch das Landgericht im angefochtenen Beschluss gemachten Ausführungen lassen indes nicht erkennen, dass der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr bestünde; das Landgericht selbst hat die Invollzugsetzung auch nicht auf diesen Haftgrund gestützt. Für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sind nach Ergehen eines erstinstanzlichen, mit der Revision angegriffenen Urteils, Erwägungen anzustellen, welche das bisherige Verhalten des Angeklagten und etwaiger Mitbeschuldigter ebenso wie die Frage der Rekonstruierbarkeit der den Feststellungen zugrunde liegenden Beweisergebnisse in den Blick nehmen (vgl. für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen gem. § 119 StPO aus Gründen der Verdunkelungsgefahr OLG Köln, Beschluss v. 15.03.2021, Az. 2 Ws 133/21, zitiert nach beckonline). Ein nur auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl muss in der Regel nach Abschluss des Verfahrens im letzten Tatsachenrechtszug aufgehoben werden (vgl. Schmitt in: Meyer/Goßner, a. a. O., § 112 Rn. 35).

In Anwendung dieser Grundsätze genügen die Ausführungen im angefochtenen Beschluss nicht für die Annahme nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils fortgeltender Verdunkelungsgefahr und damit eines neu hervortretenden Umstandes. …… „

Und dann gibt es noch – für zukünftige Fälle – einen Verfahrenshinweis für das LG:

„Abschließend weist der Senat darauf hin, dass der Angeklagte nach seiner (erneuten) Inhaftierung am 13.12.2023 nach Erlass des (Wieder-)Invollzugsetzungsbeschlusses vom gleichen Tage der 9. großen Strafkammer gem. § 115 Abs. 1 StPO spätestens am 14.12.2023 vorzuführen gewesen wäre. Wird ein Beschuldigter – wie hier – aufgrund der wieder in Vollzug gesetzten Haftanordnung festgenommen, ist er grundsätzlich nach §§ 115, 115 a StPO dem zuständigen Richter vorzuführen, zu vernehmen und ist ihm Gelegenheit zu geben, alle Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. Vorliegend war der Angeklagte zwar bereits im Rahmen der Hauptverhandlung von der Kammer vernommen worden und es waren ihm alle Umstände bekannt, die der neuerlichen Haftanordnung zugrunde lagen, einschließlich der erfolgten Verurteilung durch die Kammer vom selben Tage. Der Angeklagte hatte allerdings dennoch einen erneuten Anspruch auf die Gewährung umfassenden rechtlichen Gehörs, zumal ihm solches insbesondere in Bezug auf die Umstände, aufgrund derer die Kammer das Vorliegen neuer Umstände und die Erforderlichkeit der Verhaftung des Angeklagten nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO als begründet ansah, auch im Rahmen der Hauptverhandlung nicht gewährt worden sein dürfte. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gilt in jeder Verfahrenslage, selbst dann, wenn bereits ein Urteil gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten ergangen ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.06.201, Az. III-3 Ws 242/16; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Tamming/Zöller, StPO 7. Aufl. 2013, § 115 Rdn. 13 m. w. N.).“

StPO II: Nachweis der Verständigungsmitteilung, oder: Genügende Entschuldigung für Ausbleiben im Termin?

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Und dann die beiden Entscheidungen zur Hauptverhandlung, einmal geht es um den Nachweis der ausreichenden Mitteilung zu einer Verständigung (§ 243 Abs. 4 StPO) und einmal um die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid. Hier sind dann:

Die Protokollierung des Tatgerichts, dass der Vorsitzende den Inhalt eines richterlichen Vermerks über außerhalb der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Gespräche bekannt gegeben hat, genügt den von § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO gestellten Anforderungen, wenn der Vermerk im Hauptverhandlungsprotokoll durch Nennung seiner Ausstellers, seines Datums und seines Betreffs so unverwechselbar bezeichnet, dass eine eindeutige Identifizierung möglich ist Es bedarf weder die „Verlinkung“ mit einer Aktenfundstelle noch muss der Vermerk „verlesen“ werden.

Erscheint der Angeklagte nicht zum Termin, kommt es im Fall des § 412 Satz 1, § 329 Abs. 1 und 7 StPO nicht darauf an, ob er sich genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist.

Encro/Anom: Chatverlauf von Messengerdiensten, oder: Verfahrensrüge und Verwertbarkeit

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Und dann habe ich noch zwei Entscheidungen zu den verdeckten Ermittlungsmethoden mit EncroChat und Anom. Bei einigen Kollegen sind das ja immer noch beliebte „Verteidigunsgversuche“, obwowohl m.E. damit – zumindest mit EncroChat – derzeit wenig erreichen kann.

Zunächst das BGH, Urt. v. 07.12.2023 – 5 StR 168/23 -, in dem sich der BGH noch einmal zur Verfahrensrüge äußert:

„1. Die Verfahrensrügen versagen.

a) Die Rügen eines Verstoßes gegen § 261 StPO (auch iVm § 249 Abs. 2 StPO) in Bezug auf Chatinhalte erweisen sich nach den insoweit wirksam vorgenommenen Protokollberichtigungen (vgl. zu den Voraussetzungen BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298) jedenfalls als unbegründet.

b) Gegen die Rüge, die EncroChat-Daten seien im Urteil zu Unrecht verwertet worden, bestehen schon durchgreifende Zulässigkeitsbedenken, weil der Vortrag nicht § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht. Zum einen nimmt die Rüge auf zahlreiche andere Verfahren Bezug, ohne deren Inhalt dem Senat zur Kenntnis zu geben. Zum anderen fehlen maßgebliche, für die Frage der Verwertbarkeit relevante Unterlagen, da im Wesentlichen lediglich die im Strafverfahren vorgetragenen Schriftsätze vorgelegt werden, nicht aber die Schriftstücke, auf deren Grundlage etwa die Daten erhoben oder übermittelt worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. April 2023 – 3 StR 489/22; vom 16. Februar 2023 – 4 StR 93/22, NStZ 2023, 443). Die Rüge gibt dem Senat zudem auch in der Sache keinen Anlass, von seiner Grundsatzentscheidung zur Verwertung von EncroChat-Daten (BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29) abzugehen. Durchgreifende europarechtliche Bedenken gegen diese Entscheidung bestehen nicht (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin vom 26. Oktober 2023 in dem Vorabentscheidungsersuchen des LG Berlin C-670/22 beim EuGH). Die von der Revision zitierte Entscheidung des französischen Kassationshofs vom 11. Oktober 2022 (M 21-85.148 F-D) betrifft lediglich eine Frage des rechtlichen Gehörs, ist aber für das inhaltliche Problem der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten unergiebig.“

Und als zweites der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 13.2.2024 – 1 Ws 33/24 – zur Verwertungbarkeit von Chatverläufen des Krypto-Messengerdienstes „Anom“.

„Das Vorbringen im vorliegenden Verfahren über die weitere Beschwerde rechtfertigt keine andere Bewertung. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, wonach Erkenntnisse aus der Auswertung von Chatverläufen des Krypto-Messengerdienstes „Anom“ mit hoher Wahrscheinlichkeit in deutschen Strafverfahren verwertbar sind (siehe Senat, Beschluss vom 22. November 2021 — 1 HEs 427/21, NJW 2022, 710; Senat, Beschluss vom 14. Februar 2022 — 1 HEs 509/21, BeckRS 2022, 5572) Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 19. Oktober 2023 (Az: 1 Ws 525/23) und das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 21. August 2023 (Az: 1 KLs 401 Js 10121/22) geben dem Senat keine Veranlassung, von seiner Rechtsauffassung abzuweichen. Dass im ausländischen Verfahren gegen grundlegende rechtsstaatliche Gewährleistungen verstoßen wurde und die Beweiserhebung unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien erfolgte, was ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen könnte (siehe Senat, Beschluss vom 14. Februar 2022, 1 HEs 509/21. BeckRS 2022, 5572), ist nach Aktenlage nicht feststellbar.“

Dass das OLG Frankfurt am Main an seiner Meinung „festhält“ wundert mich bei dem OLG nicht.

Kosten- und Auslagen im Adhäsionsverfahren, oder: Wenn der Angeklagte seinen Einspruch zurücknimmt

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Und dann als zweite Entscheidung dann der LG München II, Beschl. v. 01.12.2023 – 6 Qs 7/23. Zwar nicht von einer Kollegin übersandt, sondern von einem Kollegen. Aber auch richtig.

Entschieden worden ist über die Kosten- und Auslagen im Adhäsionsverfahren (§ 472a StPO). Die Staatsanwaltschaft hatte am 15.02.2023 beantragt, gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung zu erlassen. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, als Fahrer eines Pkws an einem Fußgängerweg den Geschädigten verletzt zu haben, indem er das Vorderrad des vom Geschädigten geschobenen Fahrrads erfasste, wodurch der Geschädigte zu Boden fiel. Das AG hat den Strafbefehl am 01.03.2023 erlassen. Der Angeklagte legte am 07.03.2023 form- und fristgerecht Einspruch ein. Am 21.03.2023 bestimmte das AG Hauptverhandlungstermin auf den 22.06.2023, 11:00 Uhr.

Am 22.06.2023 ging um 08:26 Uhr beim AG ein Adhäsionsantrag des Geschädigten ein, mit dem dieser ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens 700,00 EUR forderte. Mit einem am selben Tag um 08:46 Uhr eingegangenen Schreiben geschränkte der Angeklagte seinen Einspruch auf die Tagessatzhöhe und erklärte sein Einverständnis mit der Entscheidung im Beschlusswege. Daraufhin wurde der Termin am 22.06.2023 abgesetzt.

Der Angeklagte nahm über seinen Verteidiger zum Adhäsionsantrag Stellung und machte geltend, dieser sei bereits unzulässig. Das AG hat dann am 05.08.2023 die im Strafbefehl festgesetzte Tagessatzhöhe abgeändert. Von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag hat es abgesehen und dem Angeklagten die Kosten des Adhäsionsverfahrens und die notwendigen Auslagen des Adhäsionsklägers auferlegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Adhäsionsantrag nach vorläufiger Würdigung zulässig und begründet gewesen sei, weshalb die Kosten nach pflichtgemäßem Ermessen gem. § 472a Abs. 2 StPO dem Angeklagten aufzuerlegen seien.

Dagegen die sofortige Beschwerde des Angeklagten, die beim LG Erfolg hatte, das LG hat die Kosten- und Auslagenentscheidung aufgehoben:

„2. Die statthafte Beschwerde des Angeklagten (vgl. BeckOK, 49. Ed., Stand 01.10.2023, Rz. 6 zu § 472a StPO) ist zulässig und in der Sache erfolgreich.

Eine Entscheidung über die Kosten und notwendigen Auslagen im Adhäsionsverfahren war nicht veranlasst, da aufgrund der Einspruchsbeschränkung keine Entscheidung mehr über den Adhäsionsantrag ergehen konnte.

Endet das Strafverfahren, so ist dem Adhäsionsverfahren die Grundlage entzogen, einer danach getroffene Anordnung dahingehend, dass von einer Entscheidung über den Adhäsionsantrag abgesehen wird, kommt lediglich deklaratorische Bedeutung zu (OLG Stuttgart vom 30.09.2022, 1 Ws 201/22, Rz. 10 bei Juris). Dasselbe gilt im vorliegenden Fall für die Beschränkung des Einspruchs auf die Tagessatzhöhe. Denn eine zusprechende Adhäsionsentscheidung kann gem. § 406 Abs. 1 StPO nur erfolgen, wenn der Angeklagte wegen einer Straftat schuldig gesprochen wird. Ein solcher Schuldspruch erfolgt nach Einspruchsbeschränkung nicht mehr, weshalb mit der Einspruchsbeschränkung der Adhäsionsantrag unzulässig wird (AG Kehl vom 09.10.2018, 2 Cs 503 Js 14484/17, bei Juris). Schon deshalb hatte im vorliegenden Fall eine Zustellung des Adhäsionsantrags durch das Gericht nicht mehr zu erfolgen. Aber auch auf die Zustellung des Adhäsionsantrags von Anwalt zu Anwalt kommt es daher nicht an. Zudem ist diese Zustellung – nach Angaben des Adhäsionsklägervertreters laut Empfangsbekenntnis um 08:55 Uhr – nach der Beschränkung des Einspruchs um 08:46 Uhr erfolgt.

Den Fall der späteren Einspruchsrücknahme bzw. -beschränkung, in dem die Adhäsions-klage ursprünglich zulässig war, nun aber unzulässig geworden ist, hat der Gesetzgeber nicht geregelt. Die nach § 472a StPO vorgesehene Billigkeitsentscheidung ist nicht möglich. Die dafür notwendige Bewertung der Erfolgsaussichten der Adhäsionsklage kann das Gericht nicht mehr vornehmen: Durch die Einspruchsrücknahme bzw. -beschränkung ist der Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen und dem Gerichte eine Entscheidung darüber entzogen, so dass die Grundlage für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Adhäsionsklage entfallen ist (LG Dortmund, 16.04.2018, 32 Qs – 269 Js 1213/16 V A – 45/18, bei Juris). Zwar erscheint es unbillig, einen Adhäsionskläger mit den Kosten des Adhäsionsverfahrens zu belasten, wenn die Adhäsionsklage erst nachträglich durch die Rücknahme bzw. Beschränkung des Einspruchs unzulässig wird, zumal ein Adhäsionskläger darauf keinen Einfluss hat. § 472a Abs. 1 StPO setzt jedoch die Zuerkennung eines aus der Straftat erwachsenen Anspruchs voraus. Darüber enthält der Strafbefehl jedoch keine Entscheidung. Nach alldem bleibt dem Gericht wegen der festgestellten Regelungslücke nur, von einer Entscheidung über die Verteilung der Kosten des Adhäsionsverfahrens abzusehen. Im Ergebnis muss dies für den Adhäsionskläger nicht unbillig sein, da in Betracht kommt, seine notwendigen Auslagen für die Adhäsionsklage als Rechtsverfolgungskosten im ohnehin anzustrengenden zivilgerichtlichen Verfahren geltend zu machen. (Vgl. zu allem AG Kehl, a.a.O., OLG Stuttgart vom 30.09.2022, 1 Ws 201/22).

Dementsprechend ist vorliegend keine Entscheidung gemäß § 472a Abs. 2 StPO veranlasst.“

Die Entscheidung ist m.E. richtig; manchmal klappt es ja auch in Bayern 🙂 . Ich halte es auch nicht für „unbillig“, den Adhäsionskläger in diesen Fällen mit den Kosten und Auslagen des Adhäsionsverfahrens zu belasten. Denn er ist derjenige, der sich eines Anspruchs gegen den Angeklagten berühmt hat, wobei ihm bewusst gewesen sein muss, dass das Gericht ggf. nach § 406 Abs. 1 Satz 3 u. 4 StPO von der Entscheidung absehen kann bzw. muss, wenn die Voraussetzungen für das Adhäsionsverfahren entfallen sind.  Das ist letztlich das Prinzip: Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen.

Als Rechtsanwalt muss man dieses Risiko natürlich im Auge behalten und den geschädigten Mandanten darüber belehren. Je nach der Sachlage empfiehlt es sich- zumindest in den Strafbefehlsfällen mit der dort gegebenen Möglichkeit der Verfahrensbeendigung durch Einspruchsrücknahme -, direkt das Zivilverfahren zu betreiben.

Pflichti III: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Eine fürs Töpfchen, eine fürs Kröpfchen

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Und dann – wie fast immer an einem „Pflichti-Tag“ – noch etwas zur rückwirkenden Bestellung. Ohne diesen Dauerbrenner geht es offenabr nicht. Heute habe ich zu der Problematik zwei Entscheidungen, eine „gute“ und eine „schlechte“, also „eine fürs Töpfchen und eine fürs Kröpfchen“.

Hier zunächst die „Töpfchen-Entscheidung“, nämlich der LG Erfurt, Beschl. v. 31.01.2024 – 7 Qs 313/23 -, von dem es aber nur die Leitsätze gibt, da die Problematik hier ja nun schon sehr häufig Thema war:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu diesem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über die Beiordnung aufgrund gerichtsinterner bzw. behördeninterner Vorgänge unterblieben ist.
2. Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist u.a. dann gegeben, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten ist. Dabei sind auch Verurteilungen aus anderen Verfahren, wenn diese zur Bildung einer Gesamtstrafe führen, zu berücksichtigen.

Und dann die „fürs Köpfchen“, und zwar der LG Limburg, Beschl. v. 26.01.2024 – 2 Qs 4/24 – auch nur mit dem Leitsatz:

Auch nach der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO durch die Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016 (sog. „PKH-Richtlinie“) und deren Umsetzung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 verbleibt es dabei, dass eine sog. rückwirkende Beiordnung als Pflichtverteidiger ausgeschlossen ist.

Mich überzeugt diese Entscheidung nicht. Ich halte die Rechsprechung, auf die verwiesen wird, für falsch. Und erst recht ist m.E. die Beschwerde in den Fällen nicht „unzulässig“. Die Beschwer ist nicht entfallen, sondern besteht, da man ja um die Bestellung streitet, fort.